VW-Markenvorstand Thomas Schäfer sieht die E-Mobility-Ziele seines Unternehmens gefährdet. Konsequenz eigener Fehler, oder schwächt sich der E-Mobility-Boom bereits wieder ab? Einiges deutet auf das Gegenteil hin, wie weltweite Produktions- und Zulassungszahlen belegen.
Rückkehr zur Normalität – das heißt im Bereich Elektroautos keine zwölf Monate Wartezeit mehr. Stattdessen sitzen viele Markenhändler inzwischen auf wachsenden Fahrzeughalden, die sich nur schwer verkaufen lassen. Gingen bei VW etwa im Vorjahr noch etwa 75.000 Bestellungen für den ID4 ein, waren es im laufenden Jahr bisher offenbar nicht einmal 20.000. In einer Video-Schalte hielt VW-Markenvorstand Thomas Schäfer deshalb Anfang Juli vor 2000 seiner Topmanager eine Brandrede: »Der Dachstuhl brennt!« Als Sofortmaßnahme wurde ein Ausgabenstopp verhängt, um noch irgendwie in die Nähe der Umsatzziele zu kommen. Gleichzeitig will Schäfer die Produktion von Elektrofahrzeugen reduzieren.
Ist der E-Mobility-Boom schon vorbei oder rächen sich in diesem Fall nur zurückliegende Versäumnisse eines der größten Automobilbauers der Welt? Ein Blick in die jüngsten Zahlen des europäischen Automobilherstellerverbands ACEA zeigt: Im Juni erst wurden in Europa erstmals mehr Elektro- als Dieselfahrzeuge zugelassen. Ein aktueller Bericht des Zentrums für Sonnenergie- und Wasserstoffforschung Baden-Württemberg (ZSW) listet für 2022 in Deutschland rund 830.000 neu zugelassene Elektrofahrzeuge auf. Damit sind nun über 1,9 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen unterwegs. Will Deutschland jedoch das selbstgesteckte Ziel von 15 Millionen Elektrofahrzeugen bis Ende 2030 erreichen, »müssen hierzulande jedes Jahr mindestens doppelt so viele E-Fahrzeuge wie 2022 neu zugelassen werden«, mahnt Andreas Püttner, Systemanalyst beim ZSW.
Ist der von Thomas Schäfer bei VW beklagte Auftragsrückgang bei Elektrofahrzeugen nur ein Einzelfall? Markt&Technik hat führende Halbleiter- und Komponentenhersteller nach ihren Erfahrungen mit dem aktuellen Abrufverhalten der Automobilindustrie befragt und nach eventuell nötigen Maßnahmen zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Automobilindustrie beim Übergang in die Elektromobilität gefragt.
Für Uwe Bröckelmann, Senior Director of Technology bei Analog Devices, handelt es sich bei den derzeit zu beobachtenden Maßnahmen am Markt »um eine Korrektur der Lagerbestände, mehr nicht«. Einige OEMs würden ihre Bestellungen mehr an ihre tatsächlichen Wachstumspläne anpassen. »Durch das Fehlen einzelner Bauelemente haben sich bei den verfügbaren Bausteinen erhebliche Lagerbestände bei den Kunden gebildet«, berichtet auch Rayk Blechschmidt, Europe Segment Manager Automotive bei Microchip Technology. »Aus unserer Sicht handelt es sich um Verschiebungseffekte, die aus der Knappheit der letzten Jahre resultieren.«
Optimistisch gibt sich Thomas Rothhaupt, Director bei Inova Semiconductors: »Wir sind mit unseren Produkten in vielen reinen E-Fahrzeugen vertreten, und genau da sehen wir, dass die Produktion angezogen hat und auch weiter anzieht.« Aber er stellt auch fest, »dass in Europa immer mehr importierte Elektrofahrzeuge auf den Markt kommen, die den europäischen Herstellern im unteren und mittleren Marktsegment Konkurrenz machen«. Vorerst zumindest wollen sich die europäischen Hersteller auf das Premium- und Luxussegment konzentrieren. »Das öffnet eine Lücke vor allem für asiatische E-Fahrzeughersteller«, stellt Rothhaupt fest.
»Die großen Volumenprojekte fangen bei uns erst 2024/25 an«, berichtet Thomas Grasshoff, Head of Strategic Marketing bei Semikron Danfoss. »Die deutschen OEMs machen heute bei den Lieferungen über die Tier-Ones nur einen kleinen Anteil aus.« Grasshoff hat auch einen Vorschlag, wie sich die Nachfrage nach Elektroautos schnell ankurbeln ließe: »Warum hat Norwegen so viele Elektroautos? Weil der Strom dort nur 4 Cent/kWh kostet. Bei 60 Cent/kWh an den Ladesäulen in Deutschland macht Stromtanken keinen Spaß!«
Bei Infineon freut man sich über ein sehr gut laufendes Automotive-Geschäft mit starken Margen und einem deutlich höheren Niveau als in den letzten Jahren. Die Aussicht darauf, dass der Wert von Halbleiterkomponenten bis 2028 von derzeit 1000 Dollar pro Fahrzeug dann auf 1500 Dollar ansteigen soll, sorgt dafür, dass Automotive für Infineon auch in Zukunft ein wichtiger Wachstumstreiber bleibt. Wolfspeed als Spezialist für SiC-Leistungshalbleiter verzeichnet nach Aussage von Ole Gerkensmeyer, Director Automotive Sales EMEA, »weiter eine unverändert hohe Nachfrage, und die Bereitschaft der Kunden zum Abschluss langfristiger Lieferverträge nimmt sogar weiter spürbar zu«. Herausforderungen einzelner Hersteller am Markt, so seine Einschätzung, »sind nicht repräsentativ für den Gesamtmarkt«. Eindeutig auch das Statement von onsemi: »Wir sehen ein exponentielles Wachstum bei Elektrofahrzeugen und können absolut keine Anzeichen dafür erkennen, dass sich der Übergang vom Verbrennungsmotor zur Elektroantrieb verlangsamt.«
Alastair Whitehead, Vice President European Marketing bei Vishay, mahnt etwas mehr Geduld beim Übergang vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb an. Natürlich gäbe es bei diesem Prozess sowohl regionale Unterschiede als auch unterschiedliche Strategien und Chancen bei den verschiedenen Fahrzeugherstellern. »Und das Modellsortiment ist immer noch sehr beschränkt, so gibt es bislang auch kaum preiswerte Elektroautos als Einstiegsmodelle unter 25.000 Dollar«. BYD habe das für 2024 und VW mit dem ID2 für 2025 angekündigt. Wie sein Kollege Olaf Lüthje, Senior Vice President CRM and Marketing Operations bei Vishay, beklagt Whitehead zu lange Entwicklungszyklen. »Drei bis vier Jahre sind einfach zu lang«, so Lüthje, »die Zyklen müssen runter auf 1,5 bis 2 Jahre«. Oder man kauft, wie Audi, eine EV-Plattform eines Wettbewerbers in China, um in Zukunft schneller neue Modelle auf den Markt bringen zu können.
Und wie sehen die Hersteller und Distributoren passiver und elektromechanischer Komponenten die aktuelle Entwicklung auf dem deutschen und europäischen E-Mobility-Markt? »Die Aufträge haben sich allgemein im 2. Quartal 2023 nach unten korrigiert«, stellt Harald Sauer, Director Taiyo Yuden Europe, fest. »Das betrifft aber nicht nur deutsche Kunden, das ist eher ein branchentypisches Phänomen.«