Die Fahrzeugentwicklung steht unter Druck: mehr Funktionen, kürzere Zyklen, höhere Komplexität – getrieben durch Software. Das klassische V-Modell kann die Anforderungen strukturell nicht mehr tragen. Model-Based Systems Engineering und Intelligent Product Lifecycle bieten eine Antwort.
Software ist längst zum dominierenden Faktor in der Automobilentwicklung geworden, nicht nur in Bezug auf Funktionsumfang, sondern auch hinsichtlich zeitlicher Planung, Qualität und Markterfolg. Und doch verzögern sich Modellanläufe nach wie vor. Häufig nicht wegen defekter Komponenten oder fehlender Bauteile, sondern weil Softwaremodule nicht rechtzeitig freigegeben, getestet oder integriert werden können.
Die Ursache liegt dabei selten in technischen Unzulänglichkeiten, sondern häufig in der methodischen Grundlage: Viele OEMs und Zulieferer vertrauen weiterhin auf das klassische V-Modell – obwohl es mit den heutigen Anforderungen an Software-definierte, vernetzte Systeme nicht mehr Schritt halten kann.
Vom sequentiellen Modell zur dynamischen Entwicklung
Über Jahrzehnte war das V-Modell ein etabliertes Framework für die Fahrzeugentwicklung. Es strukturiert den Entwicklungsprozess in streng aufeinanderfolgende Phasen: Anforderungen werden erhoben, darauf folgen Architekturdesign, Implementierung sowie Verifikation und Validierung. Diese klare Reihenfolge sorgte in Hardware-dominierten Projekten mit stabilen Anforderungen für hohe Nachvollziehbarkeit und Prozesssicherheit. Auch Software wurde dabei berücksichtigt – allerdings eingebettet in eine lineare Logik, die heutigen Anforderungen an Flexibilität und Iteration zunehmend im Weg steht.
Moderne Fahrzeugentwicklung ist hingegen dynamisch und multidisziplinär, geprägt durch kontinuierliche Datenflüsse. Funktionen entstehen nicht mehr schrittweise, sondern gleichzeitig in verschiedenen Teams. Ein strukturierter Datenfluss wird dabei zur Voraussetzung für durchgängige Systemtransparenz über alle Entwicklungsphasen hinweg.
Sicherheitsanforderungen, Feedback aus dem Betrieb und Marktveränderungen fließen kontinuierlich ein. Klassische Modelle wie das V-Modell können mit dieser Geschwindigkeit nicht mithalten: Feedback kommt zu spät, Änderungen betreffen abgeschlossene Arbeitspakete und führen zu aufwendiger Rückverfolgbarkeit, mit Folgen für Effizienz, Qualität und Time-to-Market.
Diese Entwicklung verändert auch die Rollenbilder: Architekturverantwortliche müssen domänenübergreifend denken, Entwicklerinnen und Entwickler arbeiten funktionsübergreifend und in agilen Teams. Gefragt sind Systeme, die es ermöglichen, Auswirkungen von Änderungen früh zu erkennen und fachübergreifend zu kommunizieren. Klassische Phasentrennung wird zur Bremse, wenn interdisziplinäre Integration zum Normalfall wird.
Das klassische V-Modell zementiert die Trennung von Mechanik, Elektronik und Software in disziplinäre Silos – mit jeweils isolierten Werkzeugen, Prozessen und Dokumentationsstandards. Diese Trennung erschwert die durchgängige Integration technischer Systeme. Gerade softwaregetriebene Funktionen erfordern jedoch eine enge Abstimmung über Fachgrenzen hinweg. Wo diese fehlt, entstehen Reibungsverluste, Verzögerungen und Interpretationsspielräume.
Ein wesentlicher Schwachpunkt zeigt sich im Umgang mit Tests. Verifikation und Validierung erfolgen häufig erst nach vollständiger Implementierung oder Integration. In komplexen E/E-Architekturen stellt das ein erhöhtes Risiko dar: Fehler werden zu spät entdeckt und deren Ursachen sind nur mit erheblichem Aufwand zu identifizieren. Gleichzeitig fehlt eine belastbare Entscheidungsgrundlage für das Management, da Aussagen über Systemzustände oft erst in späten Phasen möglich sind. Frühzeitige Absicherung durch modellbasierte Methoden und kontinuierliche Tests wird damit zur Voraussetzung für eine zuverlässige Entwicklung.
Genau hier setzen modellbasierte Ansätze wie Model-Based Systems Engineering (MBSE) an. MBSE etabliert kein weiteres Tool, sondern ein neues Entwicklungsparadigma: weg von dokumentenbasierten Einzelartefakten, hin zu einem zentralen, vernetzten Systemmodell, das alle technischen Sichtweisen integriert und langfristig eine konsistente Nutzung entlang des gesamten Produktlebenszyklus ermöglicht. Anforderungen werden nicht isoliert erfasst, sondern in ihrer Wirkung auf Architektur, Funktion, Interaktion und Testbarkeit modelliert. Das schafft eine gemeinsame Bezugsbasis, auf die alle Beteiligten zugreifen – über Disziplinen, Zulieferer und Standorte hinweg. Unterschiede im Wording oder in der Toollandschaft verlieren an Gewicht, weil alle auf denselben logischen Kern referenzieren.
Dieser systemzentrierte Zugriff hat praktische Auswirkungen: Änderungen können nicht nur schnell eingepflegt, sondern vor allem im Gesamtkontext verstanden werden – lange bevor physische Komponenten betroffen sind. Architekturentscheidungen werden überprüfbar, Abhängigkeiten sichtbar, Varianten beherrschbar. Gerade bei komplexen E/E-Systemen, in denen Funktionen über mehrere Steuergeräte, Bussysteme und Softwareebenen hinweg koordiniert werden müssen, reduziert MBSE die Gefahr teurer Spätkorrekturen. Validierung wandert nach vorn, Simulation ersetzt Trial-and-Error – das beschleunigt nicht nur, sondern sichert auch die Qualität.
Zugleich erlaubt der modellbasierte Ansatz eine neue Form des parallelen Arbeitens. Teams in Mechanik, Software und Elektrik müssen nicht mehr auf vorab spezifizierte Schnittstellen warten, sondern können in einem synchronisierten Systemmodell gleichzeitig arbeiten – mit klar definierten Zuständigkeiten und wechselseitiger Transparenz. Das ist gerade in Multi-Supplier-Umgebungen ein Vorteil: Die Abstimmung verlagert sich von bilateralen Schnittstellendiskussionen auf systemweite Konsistenzprüfungen. Freigabestände, Variantenumfänge und Änderungsbedarfe sind nicht mehr nur eine Frage von Dokumentation, sondern systemisch abbildbar.
Auf dieser systemischen Basis setzt der Intelligent Product Lifecycle auf – und führt sie über den eigentlichen Entwicklungsprozess hinaus fort. Was früher in Form von Übergaben, Excel-Listen oder losgelösten Testberichten organisiert wurde, ist heute Bestandteil eines durchgängigen Datenflusses. Anforderungen bleiben mit ihrem Umsetzungskontext verbunden. Testergebnisse, Softwareversionen und Konfigurationsstände referenzieren direkt auf ihren Ursprung – ohne Medienbrüche. Traceability wird dadurch nicht zur Last, sondern zur logischen Eigenschaft des Systems.
Im Tagesgeschäft bedeutet das: Änderungen an einer Komponente können sofort in ihren Auswirkungen bewertet werden – nicht nur auf technischer, sondern auch auf funktionaler und regulatorischer Ebene. Zulassungs-relevante Nachweise entstehen nicht rückwirkend, sondern synchron zur Entwicklung. Und Feedback aus dem Betrieb – etwa durch Over-the-Air-Updates oder Remote-Diagnosen – fließt gezielt in das Systemmodell zurück. Diese kontinuierliche Datenverfügbarkeit bildet zugleich die Grundlage für weiterführende Konzepte, die den Intelligent Product Lifecycle über die Entwicklung hinausdenken: eine konzeptionelle Perspektive, bei der Daten über den gesamten automobilen Lebenszyklus hinweg konsistent verknüpft und für fundierte Entscheidungen nutzbar gemacht werden.
Damit das Konzept eines Intelligent Product Lifecycle greifbar wird, braucht es methodische Grundlagen wie MBSE – es strukturiert Daten, sichert deren Konsistenz und schafft die technische Basis für Lebenszyklus-übergreifende Entscheidungen.
Damit wird klar: MBSE und Intelligent Product Lifecycle bilden zusammen nicht nur ein methodisches Fundament, sondern eine strukturelle Alternative zum sequenziellen Denken des V-Modells. Sie ersetzen nicht einzelne Tools oder Prozesse, sondern das lineare Verständnis von Entwicklung. In einer Zeit, in der Softwarearchitekturen das Fahrzeug prägen, Plattformen iterativ weiterentwickelt werden und Variantenflüsse exponentiell zunehmen, ist diese Transformation nicht nur hilfreich – sondern notwendig.
Das klassische V-Modell, über Jahrzehnte bewährt, genügt den heutigen Anforderungen an die Fahrzeugentwicklung nicht mehr. Es ist nicht die Technologie, die Entwicklungsprojekte ausbremst, sondern ein veraltetes Verständnis von Abläufen, Zuständigkeiten und Rückverfolgbarkeit.
Model-Based Systems Engineering und der Intelligent Product Lifecycle stellen eine tragfähige Antwort auf diese Herausforderungen dar. Sie ermöglichen nicht nur parallele Entwicklungsprozesse, sondern schaffen auch die Grundlage für systematische Testbarkeit, dokumentierte Compliance und funktionale Skalierung. Der Wandel beginnt jedoch nicht mit Tools, sondern mit dem Mindset: Engineering muss als integrierter, dynamischer Prozess verstanden werden – über Fachgrenzen, Modellvarianten und Releasezyklen hinweg.
Wer sich frühzeitig vom sequentiellen Denken löst, schafft nicht nur Effizienz – sondern stellt auch sicher, im Software-dominierten Fahrzeugmarkt langfristig differenzierungs- und handlungsfähig zu bleiben.
Michele Del Mondo
startete seine Karriere nach dem Maschinenbaustudium 1994 am Steinbeis-Transferzentrum in Karlsruhe. 1997 wechselte er zu Webasto und leitete die Einführung eines unternehmensweiten PLM-Systems. Später übernahm er als Director Sales die Verantwortung für den globalen Vertrieb für die Mercedes Car Group. Seit 2011 ist er bei PTC tätig und verantwortet als Global Advisor Automotive das weltweite Automotive Business.