Als das Bundesverfassungsgericht am 15. November 2023 das zweite Nachtragshaushaltsgesetz für nichtig erklärt hat, saß der Schock tief. Damit hatte sich der Umfang des KTF auf einen Schlag um 60 Mrd. Euro reduziert, und keiner wusste, was das für die Mikroelektronik bedeutet.
Damals sind viele Blütenträume sehr schnell zerstoben«, beschreibt Jens Drews, Director Communications/Government Relations bei Globalfoundries, die damaligeStimmung. Frank Bösenberg, Geschäftsführer bei Silicon Saxony, erklärte damals im Rahmen des Markt-&-Technik-Halbleiterforums: »Mit dieser Entscheidung ist ein gutes Drittel der Ausgaben nicht finanziert. Welches Drittel das ist, muss sich zeigen, es geht ja um ganz viele verschiedene Projekte.« Dass die 20 Milliarden Euro für die Mikroelektronik wegfallen, hielt er aber auch damals schon für eher unwahrscheinlich. Aber: »Es kommen jetzt natürlich alle Ausgaben auf den Prüfstand und deren Finanzierung, und das erzeugt eine Unsicherheit und Klärungsbedarf, und das kostet Zeit«, so Bösenberg.
Wie wird die Situation heute beurteilt? Wie stehen Europa und Deutschland ein Jahr später da? Immerhin gehören große Projekte inzwischen der Vergangenheit an: Intel hat seine Fab in Magdeburg im besten Fall nur auf irgendwann verschoben, Wolfspeed hat sich komplett von seiner Fab im Saarland verabschiedet. Wobei Einigkeit darüber herrscht, dass diese unternehmerischen Entscheidungen nichts mit dem BGV-Urteil oder mangelnder finanzieller Unterstützung zu tun hatten, sondern sie werden auf hausgemachte Probleme zurückgeführt.
Das BGV-Urteil hatte aber natürlich trotzdem Einfluss. Denn was Bösenberg schon Ende 2023 prognostiziert hatte, bestätigt auch Drews. Er erklärt, dass das Urteil die Situation erheblich verkompliziert und viele Aktivitäten zeitlich nach hinten verschoben hat. Wie stark, zeigt beispielsweise eine Mitteilung vom BMWK (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz), die Mitte Dezember 2024 veröffentlicht wurde. Darin hieß es: »Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck gibt mit der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) und deren Partnern Bosch, Infineon und NXP offiziell den Start der gemeinsamen Investitionen in den Bau und Betrieb einer hochmodernen Chipfabrik in Dresden bekannt. Der Bund fördert mit bis zu 5 Mrd. Euro die im Joint Venture „European Semiconductor Manufacturing Company“ (ESMC) von den Partnern TSMC, Bosch, Infineon und NXP geplanten Investitionen von über 10 Mrd. Euro. Dazu haben das BMWK und die vier Unternehmen jetzt eine vertragliche Vereinbarung unterzeichnet. Die Europäische Kommission hatte die geplante Bundesförderung am 20. August 2024 beihilferechtlich genehmigt. Auf dieser Grundlage konnte das BMWK die beabsichtigte Förderung wie geplant vor Jahresende finalisieren.« Dazu ist anzumerken, dass auch die EU durchaus Zeit gebraucht hat, um die deutschen Aktivitäten zu unterstützen.
Dennoch: »Der KTF blieb und bleibt eine zentrale Finanzierungsquelle für die Mikroelektronik in Deutschland – wenn auch mit deutlich geringeren Summen, als zuvor angenommen. Statt mittlerer zweistelliger Milliardenbeträge standen nun wesentlich weniger Mittel zur Verfügung. Dennoch laufen die wichtigen Förderprogramme wie IPCEI 2 weiterhin über den KTF«, sagt Drews.
Eine beachtliche Entwicklung. Auch deshalb, weil dem KTF anscheinend das Geld doch nicht ausging. Vermutungen legen nahe, dass der KTF kontinuierlich Zuflüsse beispielsweise über CO2-Zertifikate erhält.
Das scheint zu funktionieren, denn Drews erklärt weiter: »Vor Kurzem wurde eine Bundesanzeige veröffentlicht, bei der es um eine Förderbekanntmachung für Projekte unter den EU-Chips-Act-Rules ging. Das heißt: Wie zu IPCEI-Zeiten gab es eine Förderbekanntmachung, wo drinsteht, was gefördert werden kann, wie der Ablauf ist und vor allem wie die Fristen sind. Alle, die noch gefördert werden wollten, konnten bis zum 10. Januar ihre Projekte einreichen, die dann vom Projektträger zusammen mit dem BMBK in bewährter Manier geprüft werden.«
Drews ist überzeugt, dass sich die verschiedenen Unternehmen das genau angesehen und überlegt haben, ob sie daran teilnehmen wollen. Ungeachtet der Unsicherheiten, die das BGV-Urteil und das Ende der Ampelkoalition sowie die Frage, was nach der Bundestagswahl kommt, mit sich gebracht haben. Drews: »Wir sind eigentlich guter Dinge, dass Deutschland es noch schaffen wird, nicht „Mission accomplished“, aber dass man konsequent und beharrlich weitermacht.« Auch diese Aussage ist positiv zu bewerten, denn 2023 wurde noch befürchtet, dass die deutsche Förderung der Mikroelektronik eine Eintagsfliege ist. Drews weiter: »Berlin, aber auch Brüssel, hat in den letzten zehn Jahren viel dazugelernt. Die Halbleiterengpässe aufgrund der Corona-Pandemie, schwache Lieferketten, Krieg und Local-for-Local-Strategies in China, in den USA und in anderen Regionen haben zu der Erkenntnis geführt, dass die Mikroelektronik ein Mittel zum Zweck ist, das ein langfristiges Engagement benötigt.«
Thomas Grasshoff, Senior Director Head of Strategy bei Semikron Danfoss, lobt sogar die Bundesregierung. Denn obwohl das Thema Mikroelektronik in der Öffentlichkeit durchaus kontrovers diskutiert wurde, ob die milliardenschwere Förderung der Halbleiterindustrie sinnvoll ist oder nicht lieber in andere Industrien wandern sollte, habe sich die Politik durchgesetzt und die geostrategische Bedeutung der Mikroelektronik erkannt. Grasshoff: »Es geht nicht nur um nationale Sicherheit, sondern auch um wirtschaftliche Stabilität und Lieferketten. Bemerkenswert dabei ist, dass auch über parteipolitische Grenzen hinweg ein gewisser Konsens entstanden ist. « Das von der EU anvisierte Ziel, bis 2030 20 Prozent der weltweiten Produktion in Europa zu haben, »wird sicher nicht gelingen, aber es wurde zumindest eine klare Richtung eingeschlagen. Nach Jahren des Kapazitätsabflusses heißt es jetzt: Wir müssen gegensteuern«, so Grasshoff weiter.
Das beurteilt Hans Adlkofer, Senior Vice President und Head of Automotive Systems Group bei Infineon Technologies, ähnlich. Nicht nur, dass heute kein Hersteller mehr grundlegend über die Wichtigkeit der Halbleiterindustrie diskutieren müsse, die Politik habe mittlerweile auch erkannt, dass es unterschiedliche Halbleiter gibt, sprich auch Halbleiter, die nicht 2 nm in der Fertigung brauchen.
Fraglich ist dagegen wieder einmal, ob auch die Anwender der Mikroelektronik die Wichtigkeit verstanden haben. Klar, in Zeiten, in denen Halbleiter nicht verfügbar waren, betonten auch die Anwender, wie wichtig Resilienz im Bereich der Halbleiterindustrie ist. Heute herrscht eher die Sorge vor, dass mit wachsendem zeitlichen Abstand zu den Jahren 2021, 2022 und 2023 zunehmend in Vergessenheit gerät, wie schwierig es in diesen Jahren war, Halbleiter zu bekommen. Der eine oder andere ist sogar überzeugt, dass hier die Politik weiter als die anwendende Industrie ist.
Zwischen der Entscheidung eines Unternehmens, seine Frontend-Kapazitäten auszubauen, und dem ersten Halbleiter, der in dieser Fab produziert wird, liegen Jahre. Dazu kommt noch, dass der Halbleitermarkt seit eh und je zyklisch ist. Also sind langfristige Strategien notwendig. Adlkofer fordert einen Masterplan für Europa, der langfristig festlege, in welchen Technologien Europa führend sein will. »Langfristige Ziele sollten nicht an kurzfristigen Hindernissen scheitern. Wir brauchen eine klare Strategie, um langfristige Vorteile zu sichern.« Und Drews unterstreicht die Forderung: »Wir brauchen einen 25-Jahres-Plan, der konsequent verfolgt wird, no matter what.«
Angesichts der Tatsache, dass Politiker typischerweise mehr auf den nächsten Wahltermin schielen als langfristige Fragen anzugehen, dürfte es nicht so einfach sein, einen Masterplan umzusetzen. Drews erklärt denn auch, dass die typischen Wellenbewegungen der Politik schwer zu vermitteln sind. Viel zu groß sei die Angst, dass Kapazitäten geschaffen werden, die zum Zeitpunkt, an dem sie verfügbar werden, gar nicht gebraucht werden, und das auch noch mit Milliarden Euros Förderung.
Dennoch glaubt Drews, dass zumindest in Deutschland die Langfristigkeit von Halbleiter-Engagements bekannt ist. Das zeige sich beispielsweise an dem Netzwerk »Silicon Germany«, das es seit zehn bis zwölf Jahren gibt und dem sich laut seiner Aussage viele Halbleiterunternehmen angeschlossen haben, plus die Bundesländer, die mit der Halbleiterindustrie zu tun haben. Wie Brüssel das sieht, ist derzeit allerdings nicht einfach einzuschätzen. Nachdem Thierry Breton mit lautem Knall gegangen ist, ist derzeit nicht klar, wie es weitergeht. Das fängt schon damit an, dass »das Thema Innovation, digitale Souveränität und alles, was damit zusammenhängt, auf drei, vier Leute verteilt ist. Jetzt muss man erst einmal abwarten, wie sich das Ganze entwickelt. Einige glauben, dass Halbleiter wichtig bleiben, aber mein Eindruck ist, dass Europa gedanklich schon weiter in Richtung neuer Themen ist«, meint Drews. Deshalb hält er es für besonders wichtig, dass die Mitgliedstaaten, die die Aktivitäten kofinanzieren müssen, »gute Modelle von Public Private Partnerships finden, die sich für alle Seiten rechnen und die Halbleiterindustrie nachhaltig stärken.«
Nein! Der vor Kurzem verstorbene Georg Steinberger, ehemaliger Vorstandsvorsitzender beim FBDi, merkte an, dass die Halbleiter, die Intel in seiner Magdeburg-Fab hergestellt hätte, zu 98 Prozent (Angabe von Jens Drews) exportiert worden seien. Deshalb trauerte er der Intel-Fab nur bedingt nach, denn er hielt einen anderen Punkt für viel entscheidender: das Geld so zu investieren, »dass wir in Europa endlich die Basis schaffen, wichtiges IP zu entwickeln.« Wie schlecht es hier um Europa steht, belegte er mit McKinsey. Eine Studie über Halbleiter-IP hätte Europa zunächst als durchaus führend bezeichnet, doch wird ARM nicht dazugezählt, sieht die Sache ganz anders aus. Deshalb forderte Steinberger: »Wir müssen erst einmal Geld in die Hand nehmen, um die jungen Leute davon zu überzeugen, dass sie wieder in die Elektronik einsteigen, dass wir hier auch IP entwickeln können, dass wir eine Umgebung schaffen, in der tatsächlich Start-ups möglich sind etc.«
Ole Gerkensmeyer, Vice President EMEA Sales bei Nexperia, betont, dass Europa in der Leistungselektronik führend ist. Der Schwerpunkt liegt in Nürnberg bei der PCIM, plus führende akademische Institutionen und führende Halbleiterhersteller. Das sah Steinberger auch so, konterte aber dennoch: »Einen KI-Prozessor von Nvidia kann keiner kopieren. Im Gegensatz dazu sitzen in China rund 40.000 Halbleiterfirmen um die chinesischen Elektroautohersteller und überlegen, wie sie die europäischen Halbleiterhersteller aus den Autos rausdesignen können. Und da stellt sich für mich die Frage, ob es in Europa IP gibt, das nicht ersetzbar ist. Da habe ich doch einige Bedenken.«
Alfred Hesener, Senior Director Industrial Applications bei Navitas Semiconductor, verweist auf ein weiteres Problem: »Sobald die Wafer prozessiert sind, werden sie nach Südostasien für das Packaging geschickt, denn das gibt es in Europa überhaupt nicht.« Eine Tatsache, die auch Thomas Rothhaupt, Director für Marketing und Vertrieb bei Inova Semiconductors, für ein großes Problem hält. Wobei es einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt: Laut Gerkensmeyer hat Bayern das Problem erkannt und will im Rahmen von »Bayern Innovativ« Packaging-Technologien in Bayern fördern.
Das wird das Problem dennoch nicht im großen Stil ändern, denn das dazugehörige IP plus dessen Entwicklung ist eigentlich nur noch in Asien zu finden. Außerdem »müssen Halbleiterhersteller wettbewerbsfähig sein. Und wenn die Arbeitskosten in Europa zu hoch sind, dann hilft auch keine Förderung«, merkt Philippe Prats an, Head of Automotive Marketing & Application EMEA bei STMicroelectronics.
Das Thema Fachkräftemangel wird seit Jahren diskutiert. Auch die Halbleiterhersteller haben ihre Probleme inklusive kritischer Anmerkungen. So erklärt beispielsweise Gerkensmeyer: »Wir fördern auch heute noch bayerische Universitäten, die Promotionsstudiengänge für Einspritztechnik anbieten.« Etwas aus der Zeit, was Gerkensmeyer mit einer sarkastischen Anmerkung verdeutlicht: »Das wäre durchaus vergleichbar damit, dass wir heute einem jungen Menschen empfehlen, er solle Bergmann werden.« Aber nicht nur die Universitäten hinken den eigentlichen Entwicklungen hinterher, Gerkensmeyer mahnt auch an, dass »es beispielsweise noch keinen Gesellen für Fotolithografie gibt oder überhaupt Lehrberufe in der Halbleiterfertigung.« Also auch im nicht-akademischen Umfeld spiegeln sich wichtige Weiterentwicklungen nicht wider.
Dazu kommt noch, dass die Anzahl der Leute, die Elektrotechnik studieren, stetig zurückgeht; plus der Tatsache, dass viele, die das heute noch studieren, gar nicht aus Deutschland kommen. »Die Studierenden sind aus Indien und China«, was Steinberger dahingehend kommentiert, dass Masterstudiengänge in vielen Universitäten und Fachhochschulen nur aufrechterhalten werden können, weil es ausländische Studenten gibt. Eigentlich sollte das ja kein Problem sein, »vorausgesetzt, sie bleiben in Deutschland, das ist ja genau die Zuwanderung, die wir wollen«, so Drews weiter. Und Raphael Hrobarsch, European Regional & Automotive Sales Manager bei Diodes, kommentiert: »Es ist nicht die Zuwanderung, die wir wollen, es ist die Zuwanderung, die wir brauchen. Wenn der Chips Act überhaupt sinnvoll sein soll, und wir hier mehr Produktion aufbauen oder am Leben erhalten wollen, brauchen wir auch Leute, die die Maschinen bedienen können.« Aus seiner Sicht fehle es definitiv an Förderung, damit wieder mehr Leute Elektrotechnik studieren. Hrobarsch weiter: »Auch wenn es um die Beratung von jungen Leuten geht, was sie denn studieren könnten, wird das Thema Halbleiter oft gar nicht angesprochen.«
Dabei könnte es durchaus Vorteile haben, Elektrotechnik zu studieren. So erklärt Georg Olma, Senior Director Automotive Solutions EMEA & SAPAC Global Sales bei NXP Semiconductors, dass in Indien der Wohlstand gerade im Ingenieursbereich massiv gestiegen ist. Und zwar nicht nur für die Inder, die in den USA leben und dort arbeiten, sondern auch für die, die remote arbeiten. Dank Digitalisierung würden die Ingenieure, die in Indien remote für ein amerikanisches Unternehmen arbeiten, fast das gleiche verdienen wie die Ingenieure in den USA. »Sie bleiben aber in Indien«, ergänzt Olma. Deutschland dagegen habe es nicht geschafft, die Attraktivität für diese Berufe hochzubringen. Und das, obwohl die »Applikationen selbst schon sehr attraktiv sind. Aber die Studiengänge sind immer noch sehr kompliziert und sehr altbacken«, erklärt Olma.
Deutsche Universitäten sehen sich gern als Qualitätsgarant. Die Frage ist einerseits, ob sie ihrem Anspruch gerecht werden, und andererseits, ob diese Art der Qualitätssicherung wirklich zielführend ist. Hesener verweist auf ein Beispiel aus seinem privaten Umfeld: Mit einem 1,0-Abitur fiel die Wahl für das Studium auf Elektrotechnik in München. Aber »im ersten Jahr wurde so hart ausgesiebt, dass nur noch Frustration und Demotivation vorherrschten, also wurde auf BWL umgesattelt.« Natürlich sollte nicht jeder, auch wenn er noch so unbegabt ist, zum Abschluss gebracht werden. Aber es bringt auch nichts, 50 Prozent der Leute, die sich für ein Fach interessieren, und bereit sind, es umzusetzen, auszusieben, insbesondere in Bereichen, in denen der Nachwuchs fehlt.
Geopolitische Spannungen, wirtschaftliche Unsicherheiten aber auch der Wunsch nach nationaler Souveränität könnten zu einer Deglobalisierung führen. Das würde auch die Halbleiterindustrie hart treffen. Adlkofer: »Ich glaube, es gibt keine andere Industrie, die so global aufgestellt ist wie die Halbleiterindustrie - und das bezieht sich auf die Produktion, die Lieferketten und die Märkte. Deswegen würde eine Regionalisierung der Fertigung zu Ineffizienzen und höheren Kosten führen.« Dem stimmt auch Prats zu, die Halbleiterunternehmen hätten das System so lange optimiert, dass es funktioniert. Folglich müsste im Fall einer Deglobalisierung »das System über einen langwierigen Prozess wieder optimiert werden«. Auch wenn es in Hinblick auf die CO2-Bilanz durchaus Vorteile hätte, eine lokale Produktion hochzuziehen, aber »die Halbleiterindustrie ist schon global aufgestellt. Das wieder zurückzubringen, wird schwierig sein«, betont Prats.
Und die Deglobalisierung in der Halbleiterindustrie hätte auch Folgen für die Anwenderindustrien. »Das wäre ein echter Nachteil für Europa, denn wenn wir in Europa nur noch für europäische Hersteller produzieren, steigen die Kosten. Und damit sind auch unsere Abnehmer nicht mehr so wettbewerbsfähig wie andere, die es lokal günstiger bekommen«, mahnt Rothhaupt. Ähnlich argumentiert Grasshoff: »Wir profitieren von Exportmärkten. Wenn die wegfallen, fehlen uns die Skaleneffekte, die wir brauchen, um kostengünstig zu werden.« Und schlussendlich ist auch die Innovationskraft in Gefahr, denn »mit der Deglobalisierung würden unsere Kosten steigen, sodass wir weniger Geld für Forschung und Entwicklung hätten«, führt Prats weiter aus.
Dass nach den US-Wahlen die Gefahr für eine Deglobalisierung steigt, hält Dr. Gunther Kegel, Präsident vom ZVEI, für unwahrscheinlich, einfach, weil »die Abhängigkeiten zu groß sind«. Kein einziges Land oder Kontinent könne es sich erlauben, alles selbst zu machen. Der lapidare Kommentar von Steinberger: »Es gibt auch ein paar Irre, die meinen, sie können es trotzdem wagen.«
Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, die durch die Hintertür zu einer Deglobalisierung führen könnten. So könnten aus der Sicht von Adlkofer zunehmend nationale Regeln und Standards eingeführt werden, wodurch eigene Halbleiter- und Zertifizierungsstandards entstehen. Das führt zu höherem Aufwand und Abhängigkeiten, da Unternehmen oft keinen Zugang zu den nötigen »Schlüsseln« für diese Märkte haben. Wenn jeder Staat eigene Regelungen schaffe, werde der internationale Handel ineffizient, vergleichbar mit den mittelalterlichen Zollgrenzen. Dies könnte den Welthandel erheblich beeinträchtigen. Adlkofer hofft, dass »wir diese Lernkurve nicht durchlaufen müssen. Anderenfalls wird es für die Industrie schwieriger, global zu agieren.«
Die Europäische Union hat derzeit 27 Mitgliedstaaten. Allein die schiere Anzahl macht deutlich, dass eine Entscheidungsfindung per se nicht einfach ist, dazu kommen noch nationale Eitelkeiten und Befindlichkeiten. Drews kommentiert: »Wir können alles, aber nicht schnell. Das bedingt das komplexe, föderale Gefüge.« Aber genau dieses föderale Gefüge hat seinen guten Grund, denn es verhindert, dass sich automatisch der Stärkere oder Lautere durchsetzt und der Rest in die Röhre guckt.
Dennoch: »In Bereichen, in denen Geschwindigkeit und Fokus entscheidend sind, funktioniert dieser Ansatz nicht«, so Drews weiter. Und da helfe auch kein »par ordre du mufti«. Denn einem Halbleiterhersteller vorzuschreiben, was er angesichts der Chipknappheit produzieren soll, ist zum Scheitern verurteilt, denn bis die Fertigung aufgesetzt und qualifiziert ist, »ist die Chipkrise längst vorbei«, so Drews. Olma fordert deshalb auch ein Umdenken: statt ewig zu diskutieren, einfach schneller handeln.
»Potenziale haben wir jede Menge. Wenn die Krise größer wird, werden wir uns auch wieder zusammenreißen und auch die wichtigen Dinge adressieren. Momentan ist die Gesellschaft nicht nur in Europa sehr zerfasert, wir finden ja noch nicht einmal in Deutschland einen Konsens in ganz grundsätzlichen Fragen«, erklärt Drews. Und Hesener abschließend: »In Deutschland/Europa müssen wir die Entwicklungen vorantreiben, die das System voranbringen, die den Wert für den Endkunden steigern, die einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, der nicht allein auf den BOM-Kosten beruht. Das ist nicht einfach, aber wir haben schlaue Köpfe mit guten Ideen und Ansätzen. Wir müssten aber ein Klima schaffen, in dem diese auch zum Tragen kommen.«