Kehren alle Beteiligten noch auf den Pfad der Vernunft zurück? Gibt es noch eine politische Lösung des Nexperia-Konflikts, oder steuert das Unternehmen auf einen Zerfall in ein europäisch-westliches und ein chinesisches Unternehmen zu? Die nächsten Wochen müssen eine Lösung bringen.
Der niederländische Ministerpräsident Dick Schoof hat sich am Rande des EU-Gipfels in Brüssel letzte Woche gegenüber Bundeskanzler Friedrich Merz zu den Vorgängen bei Nexperia so geäußert: »Ich habe einfach die Situation erklärt, es hat viele Missverständnisse gegeben.« Er fügte hinzu, dass es nach seiner Erklärung mehr Verständnis dafür gegeben habe, wie die Niederlande gehandelt hätten. Die Maßnahme habe sich gezielt gegen den abtrünnigen Firmenchef Zhang Xuezheng, den vom Gericht suspendierten ehemaligen CEO von Nexperia, gerichtet.
Während Schoof damit auf höchster politischer Ebene das Narrativ vom einzelnen Schuldigen bekräftigt, der zum Nachteil von Nexperia gehandelt hat, drohen weiterhin ernsthafte Probleme in den Lieferketten aufgrund fehlender Nexperia-Chips. Volkswagen teilte Ende letzter Woche zunächst lediglich mit, dass die Produktion an den deutschen Standorten noch bis Ende Oktober gesichert sei. Etwa zur gleichen Zeit hatte VW-Markenproduktionsvorstand Christian Vollmer dem Handelsblatt mitgeteilt, das Unternehmen habe »einen alternativen Lieferanten, der den Lieferausfall der Nexperia-Halbleiter ausgleichen könnte«. Derzeit werde noch verhandelt.
Kurz- und mittelfristig dürfte das aber nicht weiterhelfen und die Taskforces bei Automobilherstellern und ihren Zulieferern weiter unter Hochdruck arbeiten lassen. Warum ist das Problem so groß? Nexperia stellt vor allem diskrete Bauteile her, darunter Dioden, Transistoren und ESD-Schutzelemente – davon aber eine gigantische Menge. Momentan lag die Jahresproduktion bei über 100 Milliarden Bauteilen. Da Nexperia 60 Prozent seines Umsatzes von zuletzt 2,06 Milliarden Dollar (2024) mit Automotive-Applikationen macht, finden sich diese diskreten Bauteile in einer Vielzahl von Applikationen im Auto: So stecken nach Expertenschätzungen Nexperia-Chips in jedem dritten Auto – und zwar bis zu 3000 Stück. Zum Einsatz kommen sie in den verschiedensten Komponenten, vom Infotainmentsystem und der Telematik bis hin zum Antriebsstrang.
Wie man von Seiten Nexperias Ende letzter Woche deutlich machte, versucht man die Situation zu deeskalieren, nachdem sie sich in den Tagen zuvor so stark hochgeschaukelt hatte, dass Nexperia-China seinen Mitarbeitern in einem online veröffentlichten offenen Brief mitgeteilt hatte, sie könnten Anweisungen von außen ignorieren, ohne Vergeltungsmaßnahmen befürchten zu müssen, wie Tabitha Speelman, China-Korrespondentin der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad berichtete.
Wie in den letzten Tagen zu hören war, könnte Deeskalation zum Beispiel bedeuten, dass man eine Übergangsfrist von etwa drei Monaten festlegt, in der die Versorgung weiter sichergestellt wird, und Verhandlungen darüber geführt werden, wie Nexperia in Zukunft weiter geführt wird. Der Zeitraum von drei Monaten würde es allen Beteiligten ermöglichen, prophylaktisch Anstrengungen voranzutreiben, um auf alternative Versorgungsquellen umsteigen zu können, sollte es keine Lösung im Fall Nexperia geben.
Aber die letzten zwei Wochen haben auch deutlich gemacht, dass es trotz massiver Anstrengungen wohl Monate dauern kann, auf alternative Hersteller umzusteigen, wenn es noch kein Dual-Sourcing gibt. Natürlich lässt sich das Housing der Chips auch außerhalb Chinas an anderen asiatischen Standorten wie Taiwan, Singapur und Malaysia durchführen. Allerdings würde auch diese Umstellung sicherlich einige Monate dauern. Erschwerend könnte noch ein Markenstreit hinzukommen, falls Nexperia in ein europäisches und ein asiatisches Unternehmen zerbrechen sollte. Wie lassen sich dann Seriennummern in den Stücklisten der Distributoren und Kunden korrekt zuordnen?
Bis Alternativlösungen gefunden sind, droht Nexperia-Kunden also ein möglicher Versorgungsabriss und damit auch Produktionsausfälle und Kurzarbeit. VW hatte seine Belegschaft am 21. Oktober bereits über das firmeninterne Intranet darüber informiert, dass ab dem 1. November konzernweite Produktionsausfälle über alle Marken hinweg drohen. Man versicherte den Mitarbeitern, die Ursache für diese Probleme liege nicht in der Steuerung der Lieferkette des Volkswagenkonzerns, sondern externe Faktoren, die einen einzelnen Lieferanten betreffen, seien dafür verantwortlich.
Am selben Tag hatte auch VDA-Präsidentin Hildegard Müller öffentlich darauf hingewiesen, »dass die Situation schon in naher Zukunft zu erheblichen Produktionsbeschränkungen, gegebenenfalls sogar zu Produktionsstopps führen könnte, falls die Lieferunterbrechung von Nexperia-Chips nicht kurzfristig behoben werden kann«. Noch eine Woche zuvor hatte es der VDA abgelehnt, eine Anfrage von Markt&Technik zu beantworten, nachdem es vor dem Hintergrund der Nexperia-Entwicklung zu einem Gespräch des VDA auf Präsidentenebene mit der deutschen Bundesregierung gekommen war.
Andere waren da weniger zurückhaltend. Bereits am 16. Oktober hatte der europäische Verband der Automobilhersteller (ACEA) berichtet, Nexperia habe Autobauer und Zulieferer darüber informiert, dass er seine Lieferungen nicht mehr garantieren könne. »Wir befinden uns plötzlich in dieser alarmierenden Lage«, erklärte die ACEA-Generaldirektorin Sigrid de Vries, »wir brauchen nun wirklich schnelle und pragmatische Lösungen aller beteiligten Länder.«
Etwa gleichzeitig drängte der Verband Alliance for Automotive Innovation, der unter anderem General Motors, Toyota, Ford und Volkswagen vertritt, auf eine schnelle Lösung. »Wenn die Lieferung von Auto-Chips nicht schnell wieder aufgenommen wird, wird dies die Autoproduktion in den USA und vielen anderen Ländern stören und einen Dominoeffekt auf andere Branchen haben«, stellte Verbandschef John Bozzella fest. Einigen Autobauern zufolge könnten US-Werke bereits im November betroffen sein.
Aus Sicht von Dr. Milan Rosina, Principal Analyst, Power Electronics and Battery der Yole Group, und Dr. Yu Yang, Principal Technology & Market Analyst, Automotive Semiconductors bei der Yole Group, könnte der Fall Nexperia noch weitere Folgen haben. So könnten andere Länder ähnliche Schutzmaßnahmen ergreifen und damit den Trend zu Protektionismus und Politisierung in der globalen Technologiebranche verstärken. Aus ihrer Sicht ist es jedoch unwahrscheinlich, dass der »Fall Nexperia” auf andere europäische Unternehmen mit vollständiger oder partieller chinesischer Beteiligung ausgeweitet wird – beispielsweise auf Hersteller von Leistungsbauelementen wie Dynex in Großbritannien oder Hersteller von Halbleiterwafern wie Okmetic in Finnland und Siltronic in Deutschland.
Allerdings dürften diese Unternehmen weiterhin unter strenger Beobachtung der nationalen Regierungen stehen. Generell werden alle künftigen Fusionen und Übernahmen, Joint Ventures und Partnerschaften einer strengeren Prüfung unterzogen, insbesondere wenn die Gefahr besteht, dass kritisches technologisches Know-how nach China transferiert wird oder die Abhängigkeit von chinesischen Lieferanten von Materialien, Ausrüstung oder Geräten zunimmt. Nexperia, so die allgemeine Einschätzung, würde heute nicht mehr an einen chinesischen Mehrheitseigentümer verkauft.
Immer deutlicher zeichnet sich aber ab, dass das Unternehmen diesen Konflikt wohl kaum in der bisherigen Form überstehen dürfte. Zu tief scheinen die Gräben zwischen dem chinesischen und europäischen Management geworden zu sein. Vermutlich gestärkt von der politischen Führung in China, arbeitet Nexperia-China aktuell daran die ausbleibenden Wafer-Lieferungen aus Europa durch chinesische Lieferquellen zu ersetzen. Nexperia-Europa arbeitet gleichzeitig daran, seine Test- und Packaging-Kapazitäten in Malaysia und auf den Philippinen massiv auszubauen. Wie die rechtliche Lösung dieses Konflikts aussehen wird, ist aktuell schwer abzuschätzen, auch ist wohl kaum davon auszugehen, dass beide Seiten unter dem Namen Nexperia am Markt agieren werden.