Aber ist wirklich davon auszugehen, dass die Marktteilnehmer nichts aus der Situation der letzten Jahre gelernt haben? Ist wirklich davon auszugehen, dass die Lieferkette nach einer kurzfristigen, partiellen Entspannung zeitnah wieder in Schwierigkeiten kommen wird? Die Befürchtungen in dieser Richtung sind unter den Diskussionsteilnehmern groß. Eines der Hauptprobleme sehen sie dabei in den automatisierten Bestellabläufen.
»In der Pandemiephase war viel davon die Rede, dass Hersteller, Distributoren und Kunden enger zusammengerückt seien, dass die Kommunikation transparenter geworden wäre«, wirft Harald Sauer, Director von Taiyo Yuden Europe, ein. »Diese Nähe ist teilweise noch da, aber sie ist kundenabhängig.« Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die, die weiter denken, sind noch da, und die anderen haben es schon wieder vergessen. »Unsere Branche ist halt schnelllebig«, so Sauer. Hinzu komme, das heute häufig keiner mehr wirklich wisse, was die Systeme machen. »Wenn wir beim Kunden anrufen und nachfragen, ob das eigentlich sein kann, dass seine Aufträge auf einmal doppelt so hoch sind wie zuvor«, berichtet Sauer, »kann es schon sein, dass wir zur Antwort bekommen: ‚ach ja, wirklich?’«
Guido Renner, Vertriebsleiter Bauelemente bei der Isabellenhütte Heusler, weist darauf hin, dass die Schere zwischen dem, was als Planung abgegeben wurde, und dem, was dann wirklich abgerufen werde, zum Teil immer weiter auseinandergehe. »Einige Tier-Ones haben deshalb inzwischen bereits angekündigt, dass sie da manuell eingreifen wollen, das ist ein absolutes Novum im Kundenauftragsbestand.« Das zeige schon, welche dramatische Situation da nach wie vor quer Beet in der Automobil- und Automotive-Industrie herrsche.
Der Konsens unter den Diskussionsteilnehmern zu diesem Punkt lautet, dass es in der Vergangenheit Leute gegeben habe, die in das System reingeschaut hätten und aufgrund ihres Sachverstands erkannt hätten, dass die Zahlen dort so nicht stimmen konnten.
Einer der Gründe für die verfälschenden Effekte ist nach Meinung der Diskussionsteilnehmer die Tatsache, dass die Automotive-Kunden aus der Vergangenheit gelernt hätten. »Sie haben aus der letzten Stornierungswelle gelernt, ihre Bestellung eben nicht aus dem System zu nehmen, weil sie sonst im Zweifelsfall eben nicht beliefert werden«, erläutert Renner. »Die lassen das zum Teil auf Biegen und Brechen im System«, pflichtet Pfülb bei, »denn es könnte ja sein, dass sie übermorgen die benötigten Halbleiter bekommen, und dann müssen die passiven und elektromechanischen Bauteile natürlich auch in ausreichendem Maße verfügbar sein«.
Ole Bjørn, General Manager der Jianghai Europe Electronic Components, möchte die Erfahrung dieser engeren Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Kunden über die Zeit der Pandemie hinaus retten. »Ich fand es sehr erfrischend und auch stimulierend, Probleme und Details wieder im direkten Gespräch mit den Kunden lösen zu können.« In den letzten 20 Jahren sei der Trend nicht unbedingt zum direkten Kontakt gegangen. Direkter, persönlicher Kontakt ist für ihn auch die beste Methode, um Schieflagen im Voraus zu erkennen und ansprechen zu können: »Wir haben derzeit Kunden, die ein Jahr im Voraus bestellen, und solche, die mit 16 Wochen Vorlauf unterwegs sind – das passt nicht zueinander.« Er ist sicher, »dass das beim nächsten Schluckauf wieder zu Problemen führen wird«. Bjørn wirbt deshalb für das direkte Kundengespräch, »da kommt es immer wieder zu ganz erfreulichen Überraschungen«.
Die komplizierte Sache mit den Lieferzeiten
Lieferzeiten von bis zu 50 Wochen und mehr, das war noch vor einem Jahr Standard in vielen Bereichen der passiven Bauelemente. Und jetzt? Ist mit der Schwäche der Konsumelektronik-Branche auf einmal wieder alles verfügbar? Weit gefehlt! »Eine durchschnittliche Lieferzeit kann ich beim besten Willen nicht nennen«, so Götze, »dafür ist zum einen unser Produkt- und Herstellerportfolio in diesem Bereich zu breit, andererseits ist das Spektrum der Technologien und Werke einfach zu groß«. Er verweist beispielsweise auf MLCCs: »Da gibt es welche, die kriege ich sofort, und es gibt welche, da sagt der Hersteller, er ist voll, er nimmt keine Aufträge mehr an.« Sein Fazit: »Egal welche durchschnittliche Lieferzeit ich nennen würde, sie wäre genauso richtig wie falsch.«
»Bei den Lieferzeiten muss man wirklich zwischen den verschiedenen Technologien unterscheiden«, bestätigt von Redwitz, »bei Standard-MLCCs ist man sicher wieder im Bereich normaler Lieferzeiten, aber wenn ich bei High-Caps reingehe, im Automotive-Sektor, oder bei großen Bauformen, da liegen die Lieferzeiten nach wie vor bei 24, 30 Wochen oder noch höher«. Hybrid-Kondensatoren, so seine Einschätzung, werden noch auf absehbare Zeit auf Allokation bleiben, »auch bei Alu-Elkos dürften die langen Lieferzeiten weiterhin Bestand haben«. Eine Einschätzung, der Bjørn widerspricht: »Also für die Alu-Elkos kann ich das nicht bestätigen. Die Produktionszeit liegt bei uns bei fünf bis sechs Wochen, dann kommt noch der Seetransport dazu, also ich würde von 13 bis 14 Wochen Lieferzeit sprechen.« Eine Einschätzung, die offenbar stark vom jeweiligen Hersteller abhängt. »Bei Alu-Elkos sind wir bis zum Ende dieses Jahres ausgelastet«, versichert Pfülb, »für zusätzliche Aufträge haben unsere Hersteller da keine Kapazitäten«.
Aus Sicht von Gehrke-Kowol haben sich die Lieferzeiten speziell für SMD-Bauelemente inzwischen auf einem hohen Niveau stabilisiert. Wie schnell sich Lieferzeiten ändern können, beschreibt er an einem aktuellen Beispiel: »Letzte Woche hatte ich noch eine höhere Lieferzeit bei Alu-Elkos gemeldet«, so der Manager von Schukat electronic, »dann kam der Anruf des Herstellers, die Fabrik sei jetzt doch schneller als geplant mit dem Abbau des Backlogs vorangekommen«. Nach seiner Einschätzung dürfte die Entwicklung der Lieferzeiten aktuell auch stark davon abhängen, »ob die Herstellerunternehmen die von ihnen georderte Hardware bekommen oder nicht. Auch das wird in den nächsten Wochen und Monaten einen Einfluss auf die Entwicklung der Lieferzeiten haben«.
Dass die Verfügbarkeit von Maschinen nicht alles ist, macht Lüthje deutlich: »Wir hatten auch schon die Situation, dass wir die neuen Maschinen hatten, aber nicht das Personal, um die neuen Linien auch zu bemannen.« Für den Vishay-Manager hat das auch mit dem Verhalten der Kunden zu tun. »Wir haben durch einen zeitigen Kapazitätsausbau Lieferzeitenprobleme bei Induktivitäten vermieden«, so Lüthje, »bei den Kunden kam das aber irgendwie nicht an, und sie haben trotzdem massiv bestellt, obwohl die Lieferzeit bei 16 Wochen lag!«
Auf Akzeptanzprobleme stößt auch die Tatsache, dass derzeit zwar die Lieferzeiten für Commodities sinken, die Lieferzeiten für Spezialitäten und Dünnschichtwiderstände aber durchaus noch 100 Wochen betragen können. Die Kunden reagierten panisch, wenn in irgendeinem Teilbereich die Lieferzeiten steigen. »In den jeweiligen Tabellen der Distributoren werde ich immer irgendwo eine Lieferzeit von 16 Wochen finden«, so Lüthje, »nur gilt die halt nur für ein sehr spezielles Produkt«. Einen Mittelwert zu bilden, der irgendwo bei 30Wochen liegt, hält er wie Götze für falsch, wenn nicht gar irreführend.
Wer mit der Automobilbranche und ihren Zulieferern zu tun habe, der erhält laut Scheel sowieso keine Aufträge mehr, sondern nur noch Forecasts. »Ich bekomme Forecasts über 18 Monate, die sieht dann auch das Werk und kann sich ein Bild machen.« Man müsse nur verstehen, dass das im Allgemeinen ein »Unconstrained Forecast« sei, also quasi ein Best-Case-Forecast, der nur dann in dieser Form umsetzbar ist, wenn alle für die Herstellung des Gesamtprodukts benötigten Komponenten und Subsysteme verfügbar sind. Die Realität sehe dagegen leider häufig anders aus. Anders sei das bei kleineren Kunden, »da spielen Lieferzeiten wirklich noch eine Rolle, weil die ja noch Festaufträge stellen«.
»Ein Dickschichtwiderstand hat heute keine lange Lieferzeit, weil seine Verfügbarkeit durch die Massenmärkte bedingt ist«, erläutert Heel seine Sichtweise auf das Lieferzeitenproblem, »trotzdem halte ich das Thema Standardlieferzeiten für gefährlich«. Er plädiert für ein langfristiges Planungsmanagement aufseiten der Kunden. »Lieferzeiten können nur eine Richtschnur sein«, versichert er, »entscheidend ist, welche Produktionsbedarfe ich an ein Werk weitergebe und was dann von dort zurückgespielt wird«. Natürlich versuche man unabhängig davon zu helfen, wenn es geht. »Wir helfen gerade einem Kunden, der steht, mit Dünnschichtwiderständen, aber die produziert man eben nicht einfach so in zwei, drei Wochen!«