Große Verunsicherung unter Herstellern und Distributoren im Bereich passiver Bauelemente: Hohe Lagerbestände verschieben die Hoffnung auf eine Markterholung auf die zweite Jahreshälfte. Allerdings könnten die vollen Lager angesichts der Bedrohung der Schifffahrt im Roten Meer auch hilfreich sein.
Als »Rolle rückwärts« bezeichnet Josef Vissing, President und Head of Sales Europe bei TDK Europe, den Geschäftsverlauf des letzten Jahres. »Es startete mit hohen Erwartungen, besonders in den Bereichen E-Mobilität inklusive Infrastruktur, den Investitionen im Bereich der regenerativen Energien inklusive Wärmepumpen und auch dem Kapazitätsausbau und der Automatisierung im Industriebereich.« Doch leider, so Vissing, »mussten wir feststellen – und dies nicht ganz überraschend – dass sich wieder einmal die Bedarfe über viele Monate hinweg hochgeschaukelt hatten«.
Ganz offensichtlich hatte man in der Branche nach dem vergleichsweise guten Start in das neue Geschäftsjahr 2023 damit gerechnet, dass sich die positive Marktentwicklung fortsetzen würde. Dass die Erholung der Wirtschaft stärker ausfallen würde, dass sie vor allem kontinuierlicher sein würde. Vielleicht hatte man auch gehofft, dass nach der soundsovielten Allokation Lerneffekte in der Branche eingesetzt hätten, dass es nicht wieder zu Doppel- und Dreifachbuchungen kommen würde, dass entgegen den Aussagen der Kunden dieses Mal keine internen Lager aufgebaut würden, sondern die bestellte Ware wirklich direkt in die Produktion fließen würde.
Aus Sicht von Olaf Lüthje, Senior Vice President Marketing Operations bei Vishay, fiel das erste Halbjahr 2023 »positiver und dynamischer aus als erwartet im Vergleich zur eher verhaltenen globalen Wirtschaftslage. Im zweiten Halbjahr kam dann deren Einfluss zum Tragen, besonders auch durch die hohen Bestände in der Lieferkette, welche sich im Laufe der vorherigen Verknappung und deren Nachlauf aufgebaut hatten. Das letzte Quartal war dann doch über das Abbremsen zum Jahresende hinaus verhaltener, was das Auftragsverhalten der Kunden anbelangt«.
Überraschend war im letzten Jahr nach Aussage von Rüdiger Scheel, Vice President Mobility und Branch Manager bei Murata, »dass trotz deutlich verbesserter Belieferung mit Halbleitern gegenüber 2022 der Absatz von passiven Bauelementen nicht im erwarteten Rahmen zugenommen hat. Insbesondere der Absatz im Automotive-Bereich blieb weit hinter den Forecasts der Kunden zurück«. Eine Einschätzung, die auch Guido Renner, Global Sales Director der BU Components bei der Isabellenhütte Heusler, teilt: »Den hohen Forecasts der Kunden standen Absatz- und Umsatzzahlen entgegen, die in der Realität um 20 bis 30 Prozent unter den geplanten Jahresmengen lagen.« Für ihn war das Jahr 2023 deshalb geprägt vom ständigen Ausbalancieren zwischen den tatsächlichen Kundenbedarfen und dem Vorhalten der entsprechenden Produktionskapazität.
Ferdinand Leicher, Vice President Sales EMEA bei Bourns, zeigt sich am meisten überrascht »über das Ausmaß der Überbestände, die durch die fehlenden ‚goldenen Schrauben’ nach Corona auch in Europa aufgelaufen sind«. Er rechnet damit, »dass diese Lagerbestände ab dem 2. Quartal, spätestens aber ab dem 3. Quartal wieder deutlich reduziert sein werden«. Aus Sicht von Harald Sauer, Director Taiyo Yuden Europe, war die negative Überraschung des Vorjahres, »wieviel Überbestand im Markt war, und dass weiterhin leider kein Lerneffekt bei Allokation erkennbar sei«.
Überrascht worden ist die Branche offenbar auch davon, dass die Halbleiterknappheit weniger lange angedauert hat als befürchtet. So war man bei AVX nach Angaben von Karsten Müller, Sales Director Central Europe, Anfang 2023 noch davon ausgegangen, »dass die Situation auf dem Halbleitermarkt noch für zwei bis drei Jahre kritisch sein würde; Ende 2023 hat sich die Situation dann deutlich entspannt«. Für Thomas Heel, Director Global Distribution EMEA der Yageo-Gruppe, war 2023 »ein Übergangs- und Korrekturjahr, das eine deutliche Zweiteilung aufwies: So war die erste Jahreshälfte noch vielfach von guten bis sehr guten Ergebnissen geprägt; um den Jahreswechsel herum sind dann aber alle wichtigen Wirtschaftsindikatoren auf den Tiefstand der letzten drei Jahre gefallen«.
Kontinuierlicher Aufbau an Lagerbestand, kurze Lieferzeiten, Anstieg der Cancellation-Requests beziehungsweise der Push-out-Requests, so beschreibt Maximilian Jakob, Division Director der Device Solutions Business Division von Panasonic Industry Europe, die Situation im letzten Jahr. Er geht davon aus, »dass die Book-to-Bill auch weiterhin unter 1 bleiben wird; eine Normalisierung der Nachfragesituation erwarten wir im 3. oder 4. Quartal dieses Jahres«. Wie wenig vorhersagbar die nächsten Monate werden, macht auch die Einschätzung von Jean von Redwitz, einem ausgemachten Branchenkenner, klar: »Das Jahr 2023 war stark geprägt von Kostenreduzierungen und dem Lagerabbau bei Kunden und Distributoren, verbunden mit einer starken Verunsicherung für das 1. Quartal 2024.« Er schließt nicht aus, dass es ab dem 2. Quartal zu einem Pull-Effekt mit einer Verknappung von vielen Produkten kommen könnte.
Auch bei den Distributoren fallen Rückblick und aktuelle Einschätzung sehr ähnlich aus. »Ich erwarte, dass es noch ein paar Monate dauern wird, bis die Lagerbestände wieder auf Soll-Niveau sind«, erklärt Antonio Rodas, CTO von Endrich Bauelemente. Dann werde sich zeigen, »ob die Hersteller aus Hunger auf Aufträge den Preis reduzieren oder aus Mangel an Stückzahl die Preise wieder anziehen werden«. Aus Sicht von Falko Ladiges, Teamleader PEMCO bei WDI, »ist das Kaufverhalten aktuell ähnlich schlecht wie im 3. Quartal 2023; Restmengen wurden storniert oder es gab Anfragen, sie ins Jahr 2024 schieben zu dürfen; erschwerend kommt hinzu, dass Neuentwicklungen nur schwer ans Laufen kommen«.
»Die Branche baut auf das 2. Halbjahr 2024«, so Stefan Sutalo, Vice President Product Marketing Passive Components bei Rutronik, «und da kann alles passieren!«. Er fordert marktfreundliche Entscheidungen speziell in Deutschland, aber auch in Europa: »Die Kaufanreize müssen auch beim Verbraucher ankommen!« Eine Entwicklung in jede Richtung hält auch Joachim Pfülb, Vice President Sales Components bei Beck Elektronik Bauelemente, für möglich, »das hängt von den Rahmenbedingungen wie Zinsen, Einkommen und Inflation ab«. Auch er geht aber davon aus, »dass die Branche in der zweiten Jahreshälfte wieder in einen Normalmodus findet«.
Es gibt aber auch Einschätzungen am Markt, auf die Annette Landschoof, Produktmanagerin bei Schukat electronic, aufmerksam macht: »Inzwischen werden Stimmen laut, die 2024 komplett abschreiben und erst 2025 eine Erholung des Marktes sehen.« Bei Schukat geht man aktuell davon aus, dass sich die Lage im 2. Quartal wieder drehen könnte, »und wenn nicht umsichtig mit der Situation umgegangen wird, können auch wieder Verknappungen auftreten«.
Unvorhersehbar waren vor einigen Wochen auch noch die Angriffe der Huthi-Rebellen im Golf von Aden und ihre Auswirkungen auf die internationale Liefer- und Logistikketten. »Es ist leider nicht das erste Mal, dass die Suezkanal-Passage unterbrochen wird«, kommentiert Dr. Arne Albertsen, Senior Sales Manager bei Jianghai Europe Electronic Components, die jüngsten Entwicklungen. »Die Krisen der letzten Jahre hatten aber wenigstens etwas Gutes, indem sie den Erfahrungshorizont in den Logistikketten erweitert haben.« Dass volle Lager in der Situation auch einen Vorteil haben können, darauf weist Alexander Gerfer, CTO von Würth Elektronik eiSos, hin: »Bisher sind wir von den auftretenden Verzögerungen nicht betroffen. Unsere Läger weltweit haben Pufferbestände und können kurzfristige Situationen ausgleichen. Die Lage im Roten Meer ist aber volatil und kann sich jederzeit ändern«.
Branchenbarometer
Enttäuschte Erwartungen
Natürlich hat niemand hellseherische Fähigkeiten, aber in ihrer Einschätzung des weiteren Geschäftsverlaufs und des Klimas in ihrer Branche lagen die deutschsprachigen Experten im Bereich passive Bauelemente vor einem Jahr massiv daneben. Wohl unter dem Eindruck eines noch ungewöhnlich guten Jahresbeginns 2023 gingen sie in ihrer Prognose von einer sogar noch weiter verbesserten Branchenstimmung für die zweite Jahreshälfte 2023 aus. Irrtum: Selten fiel ein Stimmungseinbruch so massiv aus. Statt wie erwartet auf einen Wert von 2,21 zu klettern, stürzte die Stimmung auf einen Indexwert von –1,18 ab! Für die erste Jahreshälfte 2024 wird eine leichte Erholung auf –0,41 prognostiziert, und die Hoffnung auf eine starke zweite Jahreshälfte 2024 drückt sich in einer Stimmungserwartung der Branche von 0,88 aus. Ob 2024 letztlich ein Jahr zum Abhaken sein wird, dürften die nächsten Monate zeigen.