Unter dem Eindruck massiver Proteste der Bevölkerung kehrte China Mitte Dezember letzten Jahres von seiner Null-Covid-Strategie ab. Wurden zuvor fast drei Jahre lang ganze Städte abgeriegelt und in den Lockdown geschickt, erfolgte Mitte Dezember 2022 dann die abrupte Wende: totale Öffnung statt Zero-Covid-Strategie. Schnell stiegen zum Jahresende 2022 und zum Jahresbeginn 2023 daraufhin die Infektionszahlen in China. Glaubt man den veröffentlichten Zahlen, starben innerhalb weniger Wochen zwischen 1,2 und 1,4 Millionen Menschen in China an Covid-19. In absoluten Zahlen liegt China damit im Hinblick auf seine Corona-Toten weltweit auf Platz 2, hinter den USA. Das Besondere dabei: In China stieg die Zahl der Toten innerhalb weniger Wochen dramatisch.
Im Vorfeld des Chinese New Year waren darum die Befürchtungen nicht nur in der Elektronikbranche groß, dass es nach den mit einer massiven innerchinesischen Reisewelle verbundenen Feierlichkeiten zum chinesischen Neujahr zu massiven Krankheitsausfällen in den Produktionen und im Logistikbereich kommen könnte. Wie sich bei der Diskussion zeigt, waren diese Befürchtungen aber ganz offensichtlich unbegründet. »Ich habe mehrmals in unseren Werken in China nachgefragt«, so Leicher, »aber die Antwort war immer, sie hätten absolut keine Probleme«. Es gäbe zwar nach wie vor Probleme im Logistikbereich, »aber die Werke sind von diesen Problemen nicht betroffen«.
»Bei uns hatte das Chinese New Year eher geringe coronabedingte Auswirkungen«, bestätigt auch Vissing. »Unser Krankenstand vor Ort in China lag bei maximal 20Prozent. In der Mehrzahl handelte es sich um milde Symptome, und die Leute waren nach ein paar Tagen wieder im Büro oder in der Produktion.« Wie Vissing hinzufügt, »ist es inzwischen auch relativ einfach in China, Arbeitskräfte zu bekommen, das hat sich im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit grundlegend verändert«.
»Wir haben uns vor dem Chinese New Year massiv Gedanken darüber gemacht, was wir tun, wenn es im Zuge der intensiven Reisetätigkeit während der Zeit des chinesischen Neujahrsfestes zu massiven Infektionen und in der Folge zu Ausfällen bei unseren Mitarbeitern kommt«, berichtet Lüthje. Danach sei man, gelinde gesagt, »positiv fassungslos gewesen angesichts der Tatsache, dass das Ganze fast keine Auswirkungen auf die Produktion in China gehabt hat«. Lüthje berichtet auch, dass Vishay vor drei Wochen sein erstes großes asiatisches Meeting durchgeführt habe, »das waren 170Leute, und auch alle Chinesen sind gekommen. Wir hatten keinen einzigen Krankheitsfall, auch im Nachgang gab es keine Corona-Erkrankten«.
Nach dem Chinese New Year, so Gehrke-Kowol, »haben wir keine Auswirkungen gespürt; was wir aber mitbekommen haben, war, dass einzelne Werke bereits vorher geschlossen hatten; die Begründung dafür lautete, dass aufgrund von Covid-Ausfällen nicht genügend Mitarbeiter da seien«. Dass das Ganze folgenlos geblieben sei, kann Renner nicht bestätigen: »Wir haben einen Kunden in einer bestimmten Region, der zum ersten Mal, seit wir zusammenarbeiten, bedingt durch äußere Einflüsse schließen musste.« In zwei Wochen sei das mit Corona allerdings dann erledigt gewesen.
»Auch wir waren überrascht davon, wie schnell diese Infektionswelle durch die Reihen ging«, versichert Heel. Wie die anderen Diskussionsteilnehmer ist auch er der Ansicht, »dass die unter der Zero-Covid-Strategie erfolgten unkalkulierbaren Schließungen weitaus schwerwiegendere Auswirkungen auf unsere Produktionsstätten in China hatten als die nun erfolgte Umkehr«.
»Da wir in unseren Werken in China vor allem für den chinesischen Markt und nicht für den Export produzieren«, so Scheel, »und in China die Bedarfslage sowieso etwas verhalten war, haben wir keine Probleme durch Krankheitsausfälle gehabt. Werkschließungen oder Ähnliches gab es bei uns nicht«. Ähnlich sieht das auch Jakob: »Wir produzieren Commodities in China generell für den chinesischen Markt. Und die Nachfrage in China ist im Consumer- und ICT-Bereich gesunken, deshalb haben wir das nicht so gemerkt.« Jakob schließt noch an, dass sich die Fabriken nach über zwei Jahren Corona-Pandemie inzwischen bereits sehr gut auf das Management von Krankheitsausfällen eingestellt haben.
So glimpflich das Ganze jetzt auch aus Produktionssicht abgelaufen sein mag, »habe das zuvor ja keiner gewusst, im Nachhinein stellt sich das durch den milden Verlauf jetzt natürlich positiv dar«, gibt Bittigkoffer zu bedenken, »aber es gab ja durchaus ernstzunehmende warnende Stimmen im Vorfeld, die im Fall einer massiven Covid-Infektionswelle vor einer Überforderung des chinesischen Gesundheitssystems gewarnt haben«.
Fazit: In den Jahren vor der Corona-Pandemie, so die Diskussionsteilnehmer, sei die Rückkehrerquote nach dem Chinese New Year schlechter gewesen als in diesem Jahr die Ausfälle durch Covid-Erkrankungen.
Dass sich das je nach Hersteller aber auch sehr schnell ändern kann, macht ein Beispiel von Andreas Gehrke-Kowol, zuständig für Controlling Purchasing von PEMCO bei Schukat electronic, deutlich: »Speziell bei SMD-Bauteilen haben sich die Lieferzeiten passiver Bauelemente auf hohem Niveau stabilisiert. Bis vor einigen Tagen hatte ich intern noch eine erhöhte Lieferzeit bei Alu-Elkos gemeldet – dann kam der Anruf des Herstellers, die Fabrik sei jetzt doch deutlich schneller mit dem Abbau des Backlogs vorangekommen als noch vor Kurzem erwartet.«
Aus Sicht von Denis Bittigkoffer, Produktbereichsleiter Elektrolyt-, Folien-, Tantal- & Doppelschichtkondensatoren bei Rutronik, ist die Versorgungslage bei passiven Bauelementen auch in der aktuell etwas entspannten Situation massiv davon abhängig, über welche Technologien man spricht: »Alu-Elkos sehe ich dabei aktuell als nicht mehr so kritisch, ganz kritisch sind dagegen Polymer-Hybrid-Kondensatoren.« Für ihn sind Polymer-Hybrid-Kondensatoren vor allem ein japanisches Thema, »denn es gibt zwar auch Hersteller in China, die dominieren diesen Markt aber nicht«. Zu den spezielleren Produkten, bei denen es nach wie vor Engpässe gibt, gehören aus seiner Sicht auch Folienkondensatoren. Wie sich die Situation in der zweiten Jahreshälfte entwickeln wird, bleibt aus seiner Sicht spannend.
»Wenn sich die Halbleiterversorgung weiter verbessert und der Consumer-Markt in Asien wieder anzieht, werden alle wieder ihre Aufträge platzieren – ich bin gespannt, wie dann damit umgegangen wird.« Dass die Branche nachhaltig Lerneffekte aus den letzten fünf Jahren gezogen hat, glaubt er nicht wirklich: »Wir reden immer wieder vom gleichen Problem und dem gleichen Zyklus, und es wird trotzdem wieder passieren!«
Thomas Heel, Director Head of Sales Centra Europe der Yageo-Gruppe, hält das Bild vom schwachen Konsumgütermarkt für sehr trügerisch. »Die Business-Units, die etwas spezieller unterwegs sind, die hatten auch 2022 Backlogs von sechs Monaten bis zu einem Jahr und darüber!« Bei Yageo beobachte man anziehende Kundenaufträge etwa im Bereich Automotive; »da, wo wir vor drei Monaten noch Cancellations hatten, ist es jetzt wieder umgekehrt«. Kondensatoren in 5x11-, 6x11- oder 8x11er-Bechern seien heute wie Sand am Meer verfügbar, »vor einem Jahr waren die noch auf Allokation«. Er warnt darum davor, »dass, wenn sich diese Wirtschaftsbereiche wieder erholen, wir diesen Commodities wieder hinterherlaufen«.