Versorgunglage im Automotive-Bereich

»Alle leben von der Hand in den Mund«

10. Mai 2022, 10:30 Uhr | Engelbert Hopf

Fortsetzung des Artikels von Teil 1

"Haben ist besser als Brauchen."

Harald Sauer, Director Taiyo Yuden Europe, sieht zwar eine Auftragslage, die über dem Vor-Corona-Niveau liegt, »allerdings ist der Verkauf dann deutlich geringer«. Er hat auch nicht den Eindruck, dass es große Lagerbestände gibt, »Verzögerungen bei Lieferungen schlagen nach wie vor unmittelbar auf die Produktion beim Tier-1 aber auch beim OEM durch«. Aus heutiger Sicht erwartet Sauer eine weitere Verschlechterung, gerade im Hinblick auf die Covid-Situation in China. »Sollten sich die Lockdowns in China verlängern, und auch auf andere Städte ausweiten, erwarte ich einen signifikanten Einbruch der Weltwirtschaft«.

Nach Einschätzung von Josef Vissing, President TDK Europe, haben Kunden ihre Lagerbestände für passive Bauelemente zum Teil leicht erhöht. »Das sind aber überwiegend Sicherheitslager für Bauelemente mit kritischer Versorgungslage, um die Produktion auch dann stabil laufen lassen zu können, wenn es wieder zu einem Engpass kommen sollte«. Da die gesamte Lieferkette derzeit mit einer Anhäufung von Unsicherheitsfaktoren konfrontiert sei, zuletzt etwa Russlands Krieg gegen die Ukraine, schließt man bei TDK mittelfristig eine Anpassung der Liefermengen nicht aus.

»Die Forecasts sind seit Langem höher als die tatsächliche Ausbringung«, beschreibt Olaf Lüthje, Senior Vice President Business Marketing Passives bei Vishay, die Situation bei den passiven Bauelementen für den Automotive-Bereich. Auch er berichtet davon, dass einzelne Kunden kleine Lagerbestände aufgebaut haben, »einmal als Resultat der Probleme mit Halbleitern und der Lieferengpässe bei Kabelbäumen, aber auch gezielt, um eine höhere Flexibilität und Versorgungssicherheit zu haben – Haben ist besser als Brauchen«.

Markt&Technik
Rüdiger Scheel, Murata: »Einige Kunden haben ungewollt Lager aufgebaut, da sie die Bestellungen bei Passiven weiter hoch gehalten haben, jedoch einige der benötigten Halbleiter fehlen.«
© Markt&Technik

»Im Dialog mit unseren Kunden machen wir vieles möglich«, versichert Alexander Gerfer, CEO und CTO der Würth Elektronik eiSos, »es braucht aber auf beiden Seiten vor allem Transparenz und Flexibilität«. Eine langfristige Bedarfsplanung sei der Wunsch, »aber aufgrund der verschiedenen Einflussfaktoren momentan nur bedingt möglich«. Aus diesem Grund sei es so, »dass alle Beteiligten von der Hand in den Mund leben, was produziert wird, geht direkt in die Weiterverarbeitung«. Gerfer geht davon aus, dass die Beschaffungs-, Produktions- und Liefersituation im Automotive-Bereich bis weit ins Jahr 2023 angespannt bleibt.

»Die Volatilität der Supply-Chain führt immer wieder kurzfristig zu hohen Bedarfen, gefolgt von Verschiebungen nur kurze Zeit später«, beschreibt Ferdinand Leicher, Vice President Sales EMEA bei Bourns, die Situation am Markt, »für die Lagerhaltung und Produktionsplanung der Bourns-Werke mit hohem Automotive-Anteil ist dies ein großes Kostenproblem!«. Auch wenn die Umsätze im 1. Quartal 2022 deutlich über dem Vorjahr lagen, geht man bei Bourns von einer Abschwächung im weiteren Jahresverlauf aus.

Aus Sicht der Distributoren liegen die größten Probleme derzeit in den unterschiedlichen Lockdown-Szenarien in Asien. »Deren Auswirkungen werden in sechs bis acht Wochen in Europa ersichtlich sein«, warnt Stefan Sutalo, Marketing Director Passive Components bei Rutronik. Glücklicherweise, so Sutalo, »konnten einige Kunden einen Lagerbestand aufbauen«. Einen Rückgang der Bedarfe erwartet er nicht, eher eine Verschiebung. Für 2022 geht er von einer weiterhin angespannten Liefersituation aus.

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Josef Vissing, TDK Europe: »Da die gesamte Lieferkette derzeit mit einer Anhäufung von Unsicherheitsfaktoren konfrontiert ist, zuletzt Russlands Krieg gegen die Ukraine, schließen wir mittelfristig eine Anpassung der Liefermengen nicht aus.«
© TDK

Joachim Pfülb, Vice President Sales Components bei Beck Elektronik, sieht vor allem die Versorgung der Automotive-Kunden mit Elektrolyt-Kondensatoren und Displays als am schwierigsten an: »Die Nachfrage liegt deutlich über den verfügbaren Produktionskapazitäten, sodass wir die Liefermengen für 2022 je Typ und Kunden deckeln mussten«. Aus seiner Sicht gibt es kaum Möglichkeiten, für kritische Teile Lager aufzubauen: »Die Belieferung von Asien nach Europa erfolgt hier für viele kritische Teile ausschließlich per Luftfracht oder Expressdiensten!«

Auch bei Spezialisten außerhalb des Bereichs aktiver und passiver Bauelemente wird die Liefersituation im Automotive-Bereich weiter kritisch gesehen. »Unsere Auftragslage ist gut«, so Gerhard Reifner, Head of Corporate Supply Chain Management bei Recom, »aber die Beschaffung von Komponenten und Ressourcen wird immer schwieriger – eine Besserung ist in diesem Jahr nicht in Sicht«.

Dr. Alain Schumacher, CTO von IEE, bezeichnet die Verlässlichkeit von Lieferzusagen als »extrem instabil, volatil und nicht vorhersehbar«. »Könnten die OEMs den Hunger nach neuen Fahrzeugen bedienen, hätten wir ein signifikantes Wachstum in 2022 mit sehr guten Perspektiven für die kommenden Jahre. Momentan bewegen wir uns aber eher im Bereich einer Stagnation im Vergleich zu 2019.

Leicher Ferdinand
Ferdinand Leicher, Bourns: »Die Volatilität der Supply-Chain führt immer wieder kurzfristig zu hohen Bedarfen, gefolgt von Verschiebungen nur kurze Zeit später. Für die Lagerhaltung und Produktionsplanung der Werke mit hohem Automotive-Anteil ist dies ein großes Kostenproblem.«
© Bourns

»Die aktuelle Lage hat sich durch den Krieg in der Ukraine und den umfangreichen Lockdown in China aufgrund der Null-Covid-Strategie extrem verschlechtert«, meint Guido Renner, Vertriebsleiter bei der Isabellenhütte Heusler, »da China der größte Markt für die Automobilindustrie ist, hatte der wochenlange Lockdown in Shanghai natürlich einen massiven Einfluss auf den weiteren Verlauf des Jahres«. Zwar sei die Auftragssituation weiterhin hoch, »es mehren sich aber Anzeichen, dass Aufträge reduziert, verschoben oder sogar storniert werden!«. Der positive Trend des 1. Quartals 2022 wird sich darum nach seiner Einschätzung im weiteren Verlauf des Jahres nicht fortsetzen.

»Mit 26,9 Prozent Wachstum war das 1. Kalenderquartal das zweitstärkste unserer Firmenhistorie«, freut sich Thomas Heel, Director Head of Sales Central Europe der Yageo Group, und sieht »sowohl aufgrund der aktuellen Backlog-Situation als auch anhand der Aussagen vieler Kunden momentan eher einen anziehenden Bedarf im Bereich der Automobilelektronik«. Verantwortlich dafür sind nach seinen Worten angekündigte Lieferzusagen für etliche entscheidende Halbleiterkomponenten vor allem für das zweite Halbjahr 2022.

Die aktuelle geopolitische Lage lässt nach seiner Einschätzung jedoch die Gefahr rezessiver Tendenzen für Europa, aber auch für die globalen Märkte deutlich ansteigen. Die geopolitischen Veränderungen wirkten sich zudem immer stärker kostensteigernd auf die gesamten Erstellungskosten für die meisten Bauelemente aus. 


  1. »Alle leben von der Hand in den Mund«
  2. "Haben ist besser als Brauchen."

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