Auch wenn sich in Asien die Bedarfe der Konsumgüter-Industrie abschwächen: Auf die Versorgungssituation in Europa hat das derzeit noch keine Auswirkungen. Allerdings schwächt sich die Wachstumsdynamik ab. Mit einer Verbesserung der Lieferketten rechnen Experten erst ab Mitte 2023.
»Alles, was wir derzeit von unseren Partnern an IGBTs oder MOSFETs erhalten, liefern wir aktuell immer noch sofort aus an unsere Kunden«, beschreibt Harald Kasteleiner, Business Unit Manager Analog & Power bei Glyn, die nach wie vor aktuelle Versorgungslage auf dem deutschen Leistungshalbleiter-Markt. Achim Baum, zuständig für das Regional Marketing EMEA bei Nexperia, hat für sich zwar »eine leichte Verbesserung der Liefersituation über unser gesamtes Produktportfolio hinweg festgestellt«, aber auch er schränkt ein, »dass Power-MOSFETs nach wie vor eine schwierige Produktgruppe sind«.
Zwar wird derzeit allerorten darüber gesprochen, dass sich die rückläufigen Auftragsvolumina in Asiens Konsumgüterelektronik-Industrie mit hoher Wahrscheinlich in mehr zur Verfügung stehender Kapazität für Europa niederschlagen müssten. Eine wirkliche Entspannung ist jedoch noch nicht zu sehen. So fällt es denn auch schwer, Lieferzeiten, die sich in Abhängigkeit von Hersteller, Produkt und Gehäuse zwischen 36 und 62 Wochen bewegen können, als etwas anderes als Allokation zu bezeichnen – so die Distributorensicht laut Kasteleiner. Wobei auch immer klar ist: Die angegebenen Fristen beziehen sich auf Neukunden. Würden sich 36 bis 62 Wochen auch auf Bestandskunden und Projektgeschäfte beziehen, würde es in der europäischen und deutschen Elektronikbranche noch ganz anders aussehen.
Auch auf der Modulseite gibt man sich vorsichtig, was eine Entwarnung anbetrifft. »In Abhängigkeit von Markt und Produktsegment bewegen wir uns heute bei Lieferzeiten mit einer Spanne von 20 bis 50 Wochen«, gibt Thomas Grasshoff, Head of Strategic bei Semikron Danfoss, zu Protokoll. Auch bei den großen europäischen Leistungshalbleiter-Herstellern klingt es noch nicht an großartiger Entspannung: »Wir liegen nach wie vor in einem Bereich von einem Jahr«, beantwortet Dr. Ester Spitale, Technical Marketing Manager EMEA Region für Discrete & Smart Power bei STMicroelectronics, die Frage nach den Lieferzeiten. Sie geht deshalb auch davon aus, »dass es trotz verbesserter Visibilität noch das ganze Jahr 2023 über zu Lieferproblemen kommen wird«.
Zwar beantwortet Nexperia-Manager Baum die Frage mit einer Spannbreite von 25 bis 48 Wochen, je nach Produkt und Package. Doch es fallen bei der Umfrage auch Antworten auf, die deutlich darunter liegen. »Wenn wir über Neugeschäft sprechen, dann können wir aktuell in etwa 25 Wochen liefern«, berichtet Marcus Lippert, Business Development Manager bei StarPower. Er schränkt allerdings ein, dass es sich dabei um Kleinmengen handeln muss; »für Großprojekte, muss man sagen, lässt sich derzeit fairerweise keine Lieferzeit angeben«.
Fast schon mit »normalen« Lieferzeiten kann hingegen Navitas nach Angaben seines Senior Director Industrial Applications aufwarten: »Wir liegen aktuell zwischen 6 und 16 Wochen!« Wie ist das möglich? Des Rätsels Lösung: Navitas nutzt für seine Produktion die älteste noch in Betrieb befindliche Fab von TSMC, die Fab 2. »Dort fertigen wir auf 6-Zoll-Wafern und in einer Strukturbreite von 0,35 µm.« Vergleichsweise niedrige Lieferzeiten weist auch SiC-Pionier Wolfspeed auf. Ole Gerkensmeyer, Director Automotive Sales EMEA bei Wolfspeed, meint dazu: »Wir versuchen so zügig wie nur irgend möglich die Bestellungen auszuliefern.« An den Aufbau eines Puffers ist dabei aber offenbar nicht zu denken: »Ich glaube, eine Lagerhaltung würden uns die Kunden aktuell sehr übel nehmen!«
Mit Siliziumkarbid bewegen sich Wolfspeed und andere Hersteller in einem Produktsegment, in dem sich in kürzester Zeit eine Art Bedarfs-Tsunami aufgebaut hat, der riesige Investitionen seitens der Leistungshalbleiter-Hersteller erfordert. Als Wolfspeed-CEO Gregg Lowe im Mai 2019 auf der PCIM Europe in Nürnberg ein Invest von über 1 Milliarde Dollar für den Aufbau eines Werks mit 200-mm-Linien für die SiC-MOSFET-Produktion bekannt gab, genügte das damals noch, um die Branche zu euphorisieren und sie auf eine goldene Zukunft hoffen zu lassen.
Inzwischen ist allein Wolfspeed im nächsten Schritt bei einer Gesamtinvestition von rund 5 Milliarden Dollar angekommen. Der erste Spatenstich für das neue Werk ist schon erfolgt. Im ersten Schritt werden nun 1,8 Milliarden Dollar investiert, wie Gerkensmeyer erläutert; erste Produkte aus dem neuen Werk sollen dann bereits ab 2024 auf den Markt kommen. Im zweiten Schritt, so der Wolfspeed-Manager, sollen dann bis 2030 noch einmal 3,2 Milliarden Dollar investiert werden, um das neue Werk zur Vollauslastung zu bringen.
Und Wolfspeed ist nicht allein: STMicroelectronics, Infineon Technologies, Toshiba, Rohm Semiconductor, onsemi, um hier nur einige zu nennen, investieren in Summe ebenfalls im Milliarden-Dollar-Bereich, wenn es im Bereich SiC um den Aufbau von Wafer-Fertigungen oder Bauteilfertigungen wie SiC-Dioden oder SiC-MOSFETs geht. Aktuell scheinen diese Milliardeninvestitionen noch mit keinem Risiko verbunden zu sein. »Auch als Späteinsteiger in das SiC-Geschäft hören wir von Kunden, dass es so viele Projekte gibt, dass der Bedarf durch die zur Verfügung stehenden Fertigungskapazitäten noch bei Weitem nicht abgedeckt werden kann«, beschreibt Baum den sich aufbauenden Bedarfssog am Markt.
Bei herkömmlichen Leistungshalbleitern auf Siliziumbasis sieht das vielleicht etwas anders aus. Auch hier wurden in den letzten zwei Jahren Milliardensummen in den Aufbau neuer Fertigungskapazitäten gesteckt, um der Allokationsfalle zu entkommen. Infineon hat im letzten Jahr noch einmal in Villach zusätzlich investiert, um die dortige neue 300-mm-Produktion bereits zu Beginn des vierten Quartals 2021 eröffnen zu können. ST hat seinen Fertigungsausbau im Bereich 300-mm-Linien für Leistungshalbleiter ebenfalls vorangetrieben; erste Produkte dürften dort ab 2023 erhältlich sein. Als Teil der Wingtech-Gruppe konnte Nexperia bereits erste Produkte im neuen 300-mm-Werk bei Shanghai freigeben, »aber die Fertigungskapazitäten dort stehen natürlich nicht uns alleine zur Verfügung«, wie Baum einschränkt. Und Vishay errichtet sein 300-mm-Werk in Itzehoe.
Ob nun 2023 oder 2024, es ist abzusehen, dass sich die Menge der auf dem Markt erhältlichen Leistungshalbleiter in den nächsten Jahren deutlich erhöhen wird. Darum lautet die entscheidende Frage nun: Wird sich der Bedarf dann noch auf dem gleichen Niveau wie in den letzten beiden Jahren bewegen, wird er temporär zurückgehen oder – das positivste Szenario für die Leistungshalbleiter-Hersteller – wird der Bedarf vor dem Hintergrund der nun mit Macht vorangetriebenen Energiewende und dem massiv an Bedeutung gewinnenden Aspekt der Energieeffizienz in Zukunft noch weiter zunehmen?
Nach Einschätzung von Richard Eden, Senior Principal Analyst für Leistungshalbleiter beim Marktforschungsunternehmen Omdia, verlangsamt sich das Wachstum des internationalen Leistungshalbleitermarktes derzeit. Für 2022 gehen die Analysten von einem Marktvolumen von 29,5 Milliarden Dollar aus. Das würde gegenüber dem Vorjahr ein Plus von etwa 9 Prozent bedeuten. Im Jahr zuvor lag die Zuwachsrate von bei fast 29 Prozent! Für 2023 prognostiziert Omdia ein Umsatzvolumen von knapp 31 Milliarden Dollar. Das würde einem Zuwachs gegenüber 2022 von knapp 4 Prozent bedeuten. »Wir gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass die prognostizierte Verlangsamung sehr wahrscheinlich auf die sich verändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen ist«, so Eden.
Für den Leistungshalbleitermarkt der Zukunft bedeutet das wohl: Verlangsamung des Wachstums, aber kein Markteinbruch.