Klar, in der Allokation wirft man im Zweifelsfall alle guten Vorsätze über Bord und sieht zu, dass man die dringend benötigten Produkte dort kauft, wo man sie bekommt. Beruhigt sich die Lage dann wieder, schieben sich Themen wie die Rückverlagerung der Fertigung aus Asien nach Europa oder ein Nachdenken über die Auswirkungen der geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China wieder in den Vordergrund unternehmerischen Denkens.
»Im Prinzip ist das abhängig von den jeweiligen Guidelines bei den Unternehmen«, schildert Hesener seine Erfahrungen, »das reicht von der Ansage, eine europäische Fertigung sei Voraussetzung, um überhaupt erst einmal in ein Verkaufsgespräch zu kommen, bis zu den unterschiedlichsten vertraglichen Fixierungen«. No-Gos seien im Zuge von Derisking Fertigungen in Problemzonen, »das muss dann nicht zwangsläufig in einer europäischen Fertigungsstätte münden, aber schön wäre es schon«, fasst er seine Erfahrungen zusammen.
In der Diskussion wird klar, dass es in vielen Fällen die Erfahrungen der Corona-Pandemie und die in dieser Zeit gerissenen Lieferketten waren, die Kunden dazu gebracht haben, über Versorgungsquellen nachzudenken, die sich in größerer räumlicher und logistischer Nähe zu ihren Hauptproduktionsorten befinden. Doch im Zuge der zunehmenden Systemrivalität zwischen China und den westlichen Staaten gewinnt das Thema Relokalisierung auch unter anderen Gesichtspunkten zunehmend an Bedeutung.
»Im Parteiprogramm der chinesischen KP steht ganz klar schwarz auf weiß, dass China eine Unabhängigkeit von Halbleiterimporten anstrebt. Das kann in fünf oder in zehn Jahren soweit sein, auf jeden Fall wird alles unternommen, um dieses Ziel zu erreichen«, so Grasshoff. Eine Vorgabe, die sich zunehmend auch in Local-Content-Anforderungen für chinesische Unternehmen niederschlägt. »Erst sind es 20, dann 30, schließlich 40 Prozent aus chinesischer Produktion, die eingesetzt werden müssen, darauf müssen wir uns vorbereiten.«
»Wir bauen den freien Handel zurück, weltweit und auch in Europa«, beklagt Gerkensmeyer eine zunehmende Ideologisierung des weltweiten Handels und immer weiter um sich greifende Abschottungstendenzen. »Das bislang geltende Ricardo-Prinzip des komparativen Kostenvorteils des englischen Ökonomen David Ricardo wird im globalen Welthandel schrittweise zurückgedreht«, stellt Grasshoff fest. »Die globale Arbeitsteilung, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten kannten, wird zurückgefahren, manche sprechen gar von einer Deglobalisierung.«
Eine Möglichkeit dem zu begegnen, wäre, Unternehmen nach Wirtschaftsräumen aufzuteilen, dann gäbe es für Europa, die USA und China jeweils einen eigenen Unternehmensteil. Ein Konzept, das sich wohl nur große Konzerne leisten können dürften. Die letztlich von beiden Systemrivalen vorangetriebenen Bemühungen könnten aber auch skurrile Blüten treiben. So hält es Gerkensmeyer durchaus für möglich, »dass wir schon 2024, spätestens 2025 rein europäische Firmen sehen werden, die einem Investor aus China gehören, für den das dann schlicht eine Fertigung in Europa ist«. Selektierende Gesetze lassen sich in beide Richtungen nutzen.
Doch bei der Diskussion um Local Content und Relokalisierung drängt sich die Frage auf: Was ist letztlich Local Content? Man einigt sich auf eine Dollar-Definition: Wie hoch ist die Wertschöpfung in Dollar in der jeweiligen Trade-Zone? Aber es geht ja nicht nur um Local Content, es geht auch darum, dass etwa Technologie-Förderprogramme an Vorgaben gekoppelt sind, dass bestimmte Technologien nicht in bestimmte Wirtschaftsräume gehen dürfen. Exportbeschränkungen, wie sie etwa für die Sub-Nanometer-Technologie von ASML bekannt geworden sind, bilden da nur die Spitze des Eisbergs.
Bei den Distributoren taucht die Frage nach der Relokalisierung bislang nicht so häufig auf, nur dann, wenn es um Aufträge aus der öffentlichen Hand geht, »dann wird schon mal gefragt, wie hoch eigentlich die Wertschöpfung bei diesem Produkt in Deutschland ist«, so Krause. »Es gibt solche Fragen«, bestätigt auch Kasteleiner, »aber viel häufiger fragen Kunden, ob es bei dem Hersteller eigentlich einen Plan B in Bezug auf Taiwan gibt.«
Unterschwellig wird spätestens ab diesem Punkt der Diskussion deutlich, dass viele der Relokalisierungs- und auch Investitionsanstrengungen, nicht nur in Europa, wohl auch etwas mit der Sorge um die Zukunft Taiwans zu tun haben. Bislang wurde die Tatsache, dass in Taiwan etwa 20 Prozent des weltweiten Halbleiterbedarfs produziert wird, als eine Art Rückversicherung angesehen – das scheint nicht mehr sakrosankt. Krause und Grasshoff weisen darauf hin, dass die Rückführung Taiwans im Parteiprogramm der KP Chinas stehe und sogar mit einer Jahreszahl versehen sei: 2027.
Für Hesener Anlass für ein Gedankenspiel: »Wenn wir uns jetzt einmal vorstellen, dass Chinas Halbleiterfertigung so weit ist, dass sie einen weltweiten Lieferstopp durch einen Shutdown in Taiwan abpuffern kann, dann ist das in meinen Augen schon ein Schreckensszenario.