Nachdem die niederländische Regierung letztlich die Kontrolle über Nexperia übernommen hat, verweigert China die Exporte von Nexperia-Produkten aus China. Nun drohen Bandstillstände nicht nur in der europäischen Automobil-Industrie. Eine Lösung des Konflikts zeichnet sich bisher nicht ab.
Ein über Monate schwelender Konflikt im Topmanagement von Nexperia eskalierte Mitte September. Führende Managementmitglieder und der Betriebsrat reichten Mitte September Klage gegen das eigene Unternehmen ein. Ihr Ziel: eine weitere missbräuchliche Verwendung von Unternehmensgeldern sowie Know-how- und Technologieabfluss aus den Niederlanden und den europäischen Nexperia-Werken zu verhindern.
Noch bevor der Fall am 7. und 8. Oktober vor der Wirtschaftskammer des Berufungsgerichts in Amsterdam zur Verhandlung kam (Fallnummer: 200.359.769/01 OK 2), verschärften äußere Einflüsse die Situation. So erließ das US-amerikanische Bureau of Industry and Security (BIS) am 29. September eine Verordnung, die die US-Exportkontrollbeschränkungen auf Unternehmen ausweitet, die zu mindestens 50 Prozent im Besitz eines oder mehrerer Unternehmen von der US-amerikanischen Entity List sind. Obwohl nicht ausdrücklich genannt, ist Nexperia aufgrund seines Status als hundertprozentige Tochtergesellschaft der chinesischen Wingtech Technology (kaufte Nexperia 2019 für 3,63 Milliarden Dollar) von diesen Beschränkungen betroffen, weil Wingtech seit Dezember 2024 auf der BIS-Entity Liste steht.
Am Tag darauf erließ der niederländische Wirtschaftsminister eine außerordentliche Notverordnung auf Grundlage des Warenverfügbarkeitsgesetzes (Wet beschikbaarheid goederen). Es handelt sich dabei um ein selten angewendetes Gesetz aus der Zeit des Kalten Krieges (1952). Mit dieser Anordnung wurde Nexperia für einen Zeitraum von einem Jahr untersagt, Unternehmensteile zu verlagern, bestehende Führungskräfte zu entlassen und/oder andere Entscheidungen ohne ausdrückliche Genehmigung der niederländischen Regierung zu treffen. Der Schwerpunkt dieser Anordnung liegt auf der Sicherstellung der Geschäftskontinuität von Nexperia.
Eine Maßnahme, die Zhang Xuezheng, bis dahin noch CEO von Nexperia offenbar dazu veranlasste, sich diplomatischen Rückhalts in China zu versichern. Was funktionierte: Am 4. Oktober erließ das chinesische Handelsministerium eine Exportkontrollmitteilung, die Nexperia China und seinen Subunternehmen den Export bestimmter in China hergestellter Fertigungskomponenten und Baugruppen untersagt. Nexperia arbeitet nach eigener Darstellung aktiv mit den chinesischen Behörden zusammen, um eine Ausnahme von dieser Beschränkung zu erhalten, und setzt zu diesem Zweck alle verfügbaren Ressourcen ein.
Vor diesem Hintergrund kam es dann am 7. und 8. Oktober vor der oben genannten Wirtschaftskammer zur Verhandlung, die folgendes Ergebnis hatte: Zhang Xuezheng wurde als CEO vorläufig suspendiert. Als nicht-geschäftsführender Direktor für Nexperia berief die Unternehmenskammer Guido Dierick, einen niederländischen Unternehmer und langjährigen Top-Manager von NXP. Als Interims-CEO von Nexperia fungiert seit dem Urteil Stefan Tilger, Achim Kempe bleibt weiterhin COO. Ruben Lichtenberg arbeitet als CLO und satzungsgemäßer Direktor der Nexperia Holding BV und Nexperia BV zusammen mit Guido Dierick.
Darüber hinaus entschied das Gericht, dass im Wesentlichen alle Stimmrechte an den Aktien von Nexperia, die indirekt von Wingtech Technology gehalten werden, unter die Verwaltung eines von der Wirtschaftskammer ernannten unabhängigen Verwalters gestellt werden.
Im Rahmen von Recherchen der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad wurde zudem deutlich, dass Zhang Xuezheng kein unbeschriebenes Blatt ist. So verhängte im Jahr 2024 die chinesische Wertpapieraufsichtsbehörde CSRC eine Geldstrafe in Höhe von 8 Millionen Renminbi (970.000 Euro), weil er jahrelang Handelsgeschäfte an der Börse von Shanghai verschleiert und heimlich mit zwei anderen Aktionären bei der Kontrolle von Nexperia zusammengearbeitet hatte. Im Jahr 2005 war er zudem bereits wegen Diebstahls von Geschäftsgeheimnissen seines ehemaligen Arbeitgebers ZTE zu siebzehn Monaten Haft und einer Geldstrafe in Höhe von 50.000 Renminbi verurteilt worden. Verfehlungen, die den europäischen Vorstandsmitgliedern von Nexperia offensichtlich nicht bekannt waren.
Welche Interessen Zhang Xuezheng als CEO von Nexperia im Zweifel verfolgte, wird unter Punkt 3.18 der Gerichtsentscheidung besonders deutlich: Er hatte 2020 WSS mit Sitz in Shanghai gegründet. WSS produziert Wafer und unterzeichnete 2023 ein Foundry Service Agreement (FSA) mit Nexperia. Für die Quartale 2 bis 4/2025 wurden auf Anweisung von Zhang Xuezheng 215.000 Wafer für die Geschäftseinheit Metalloxid-Halbleiter und 5000 Wafer pro Monat für die Geschäftseinheit Logik bestellt. Eine interne Schätzung vom 8. Mai war zu deutlich niedrigeren Zahlen gekommen – 98.400 und 400 Wafer. Konkret stand einem Auftragswert von 200 Millionen Dollar nur ein realer Bedarf in Höhe von 70 Millionen Dollar gegenüber. Zhang Xuezheng hatte das bestehende FSA zudem mit Wirkung zum 1. Januar 2025 dahingehend abgeändert, dass für jede Bestellung eine Anzahlung von 70 Prozent des Kaufpreises notwendig war. Angesichts der schlechten Finanzlage der WSS zu dieser Zeit bestehen nach Ansicht des Gerichts berechtigte Zweifel, dass das Handeln von Zhang Xuezheng als CEO von Nexperia ausschließlich von den Interessen von Nexperia und dessen Geschäften geleitet wurde.
Zusammengefasst könnte man sagen, Nexperia wurde in den Niederladen auf dem aktuellen Ist-Stand eingefroren, in China mit einem Exportverbot belegt und steht auf der schwarzen Liste der USA. Eine vertrackte Situation, die dadurch nicht besser wird, dass das Unternehmen aufgrund seiner Stellung im Kfz-Elektronikbereich zu einem Problem für seine Kunden werden könnte. Zwar handelt es sich in der Mehrzahl der Produkte um Commodities, aber auch die lassen sich eben nicht einfach 1:1 austauschen. Und so geht in der Automotive-Branche die Sorge vor Bandstillständen ab KW 43 um. Die Telefone glühen offenbar, und während man von Infineon Technologies zumindest noch erfährt, »dass wir die aktuellen Ereignisse bezüglich Nexperia zur Kenntnis genommen haben«, hüllt sich der Rest der Branche offiziell in Schweigen.
Wie sehr es aber angesichts der Ereignisse in der Branche rumort, zeigt das aktuelle Statement von Wolfgang Weber, Vorsitzender der ZVEI-Geschäftsführung: »Die Lage ist angespannt. Aber wir erhalten mittlerweile Signale von unseren anderen Mitgliedsunternehmen, die Anlass zur Hoffnung geben. Sie arbeiten eigenständig an Ersatzlösungen, um die Bedarfe an den betroffenen Chips ersatzweise zu decken. Je nach Erfolg bleibt aber noch immer die Gefahr eines mehr oder weniger großen partiellen Stillstands in der Automobilproduktion und in zahlreichen anderen Industriebranchen.«
Ein Statement, das wohl auch dazu dienen soll, Panik zu vermeiden. Ob das gelingt, wird sich zeigen. Optimistisch stimmt auf jeden Fall die Tatsache, dass diese plötzlichen »Zusatzbedarfe« nicht auf vollausgelastete Produktionslinien treffen. In den letzten Monaten war ja alles kurzfristig verfügbar. Und Konsignationslager? Vielleicht zu teuer? Wer im Rahmen seiner Bauteilfreigaben keine Second Sources freigegeben hat, könnte das momentan bereuen. Als Worst-Case-Szenario dürfte vielleicht in dem ein oder anderen Fall nicht nur eine Cross-Evaluierung alternativer Bauteile anstehen, sondern vielleicht auch eine nötige Anpassung der Gate-Treiber auf manchen Kunden zukommen.
»Offenbar kommt nicht jeder Investor aus dem Ausland mit dauerhaft konstruktiven Absichten zu uns«, stellt ZVEI-Geschäftsführer Weber fest, »Europa braucht darum ein klares, harmonisiertes Inbound-Investment-Screening mit eindeutigen Kriterien zu Eigentum, Kontrolle und Systemrelevanz.« Für Frank Bösenberg, Geschäftsführer von Silicon Saxony, »zeigen die aktuellen Entwicklungen rund um Nexperia, wie sensibel und eng verflochten die globale Halbleiterindustrie heute ist. (…) Für weltweit tätige Unternehmen mit Standorten in Europa ist entscheidend, dass staatliche Eingriffe nachvollziehbar und berechenbar bleiben. (…) Nur durch ein abgestimmtes Zusammenspiel von Politik und Industrie kann Europa wettbewerbsfähig bleiben und widerstandsfähige Strukturen aufbauen«.