Neben neuen Technologien wie KI, maschinellem Lernen oder neuartigen Materialien erschweren regulatorische Anforderungen die Entwicklung von modernen Medizingeräten. Die neuen Übergangsfristen der MDR eröffnen aber auch neue Möglichkeiten.
Kaum etwas hat die technologische Produktion und Weiterentwicklung so disruptiv verändert wie die Digitalisierung. Heute geht es nicht mehr nur darum, Prozesse zu beschleunigen oder Fehler zu vermeiden. Technologien wie die erweiterte Realität (Augmented Reality, kurz: AR) oder Künstliche Intelligenz (KI) sollen Nutzern das Leben und Arbeiten erleichtern – in unterschiedlichen Bereichen. Bekannt ist etwa das autonome Fahren, bei der eine KI künftig das Fahrzeug steuert. Zusammen mit Sensortechnologie soll dies präzise und unfallfrei gelingen. Viele Technologiefirmen arbeiten daran, zumal Autofahren eine relativ simple Aufgabe für KI darstellt: Es ist stark regelbasiert und findet über nur zwei Dimensionen statt. Ab wann sich diese Form der Fortbewegung durchsetzen wird, ist jedoch umstritten. Denn Autofahren geschieht alltäglich und die Abgabe der Entscheidungsgewalt an eine künstliche
Intelligenz wird auch kritisch gesehen.
Die Titelstory der Elektronik medical |
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Hoch spezialisiert ist im Vergleich zum Autofahren dagegen die moderne Medizin. Auch dort kommen KI und AR zum Einsatz, wobei ein Großteil des Fachpersonals deren Einsatzmöglichkeiten positiv bewerten dürfte. Denn mit künstlicher Intelligenz lassen sich neue Diagnosemethoden entwickeln. Beispielsweise können Blutwerte oder die Leistung einzelner Organe mittels Sensoren permanent überwacht werden. Eine große Menge an Daten verbunden mit dem Wissen der KI mündet am Ende in Behandlungsvorschläge. Medizinerinnen und Mediziner ergänzen diese um ihr Wissen und individuelle Beobachtungen der Patientinnen und Patienten. Die KI schlüpft damit in die Rolle eines digitalen Behandlers und unterstützt in Echtzeit eine fundierte Erstmeinung zum Gesundheitszustand. Sie wertet dafür alle verfügbaren Daten effektiver aus, als es Menschen je möglich wäre.
Eine wesentliche Vorbedingung für diesen medizinischen Fortschritt ist die Weiterentwicklung von Sensoren. Auch neue Materialien ermöglichen weitere Einsatzfelder und höhere Auflösungen als aktuell noch möglich. Wer eine Smartwatch besitzt, weiß aus eigener Erfahrung, welchen Umfang an Echtzeitdaten Sensoren heute liefern. Noch präziser wird gemessen, wenn Sensoren implantiert werden. Seit Jahren etabliert ist das Messen der Herzleistung bei Patienten, die z. B. an einer Insuffizienz leiden, die engmaschig – im besten Fall lückenlos – zu überwachen ist. Genauso schnelles Handeln ist bei Diabetes mellitus geboten, weswegen intelligente Sensoren inzwischen auch den Zuckerspiegel des Körpers kontinuierlich auswerten. Kleine Blutproben durch schmerzhafte Einstiche in die Fingerspitzen werden dadurch überflüssig.
Ein weiteres künftiges Anwendungsgebiet für implantierte Sensoren ist die Überwachung des Heilungsprozesses bei Knochenbrüchen. Auch noch komplexere Einsatzmöglichkeiten sind denkbar: Grundsätzlich können Diagnosesensoren Daten für alle im Körper stattfindenden Prozesse erheben, die biochemisch ablaufen und damit elektrisch messbar sind. Wo Sensoren mit KI kombiniert werden, entstehen möglicherweise schnell eigene digitaldiagnostische Gesundheits-Ökosysteme. Eine mögliche Weiterentwicklung ist durch Machine Learning vorstellbar: Daten, die regelmäßig anfallen, werden von einem Algorithmus interpretiert und analysiert. Tatsächlich werden immer mehr Medizinprodukte mit KI entwickelt, um Krankheiten zu erkennen, Krankheitsbilder präziser zu diagnostizieren und im Anschluss die Ärztinnen und Ärzte zu befähigen, ihre Patientinnen und Patienten wirksamer zu behandeln.
Kurzfristige Konformitätsbewertung |
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Als eine der führenden Benannten Stelle bietet TÜV Süd kurzfristig verfügbare Plätze für Konformitätsbewertungsverfahren zur MDR und IVDR – für Bestandsprodukte genauso wie für Neuzulassungen. Da TÜV Süd langfristig und vorausschauend die richtigen Ressourcen aufgebaut hat, können Neukunden aufgenommen sowie Projekte schnell, verlässlich und transparent gestartet werden. |
Medizinische Innovationen haben einen hohen gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Wert. Dennoch gibt es Aspekte, die bedenkenswert sind und deshalb auch diskutiert oder bereits rechtlich geregelt werden. Zum Beispiel der Schutz von Daten: Sie müssen sicher und außer Reichweite von Dritten gesichert und verarbeitet werden. Weitere Punkte sind die Kompetenz der KI, fehlerfreie Entscheidungen überhaupt treffen zu können – sowie ihre Diskriminierungsfreiheit.
»Fehlprogrammierungen« der KI sind für Laien unter Umständen gar nicht festzustellen. Dennoch müssen sie ausgeschlossen werden, weshalb das Europaparlament vor Kurzem den Artificial Intelligence Act (AI Act) verabschiedet hat. Damit geht der Gesetzesentwurf zunächst in einen sogenannten Trilog, in dem die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten Änderungen am AI Act in Abstimmung mit dem Parlament vornehmen können. Ein übliches Verfahren, welches auch die MDR (Medical Device Regulation) durchlaufen hat.
Nachdem der Trilog – eine zeitliche Einschätzung ist hier schwierig – erfolgreich abgeschlossen ist, haben Unternehmen zwei Jahre Zeit, sich an die neuen Regelungen anzupassen. Auch Aufsichtsbehörden und Benannte Stellen werden diese Zeit entsprechend nutzen. Die Vorgaben müssen von Herstellern, die der AI-Definition des AI Acts entsprechen, dringend berücksichtigt werden. Den Unternehmen der Medizinprodukteindustrie sind solche, teils weitreichende Änderungen von Regularien bereits aus der Vergangenheit bekannt. Im Jahr 2017 wurde die neue Verordnung – EU 2017/745 über Medizinprodukte (MDR) – veröffentlicht, die die lange genutzte
Medizinprodukterichtlinie (90/385/EEC und 93/42/EEC) ablöste.
Inwieweit Neuregelungen aus MDR und bald aus dem AI Act Innovationen begünstigen und die Sicherheit von Patienten erhöhen, wird intensiv diskutiert. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es bislang nicht. Als Indikator dafür, dass der EU-Markt für Innovatoren aktuell nicht als der einfachste wahrgenommen wird, kann gelten, dass viele Unternehmen ihre Neuheiten derzeit verstärkt als erstes in den USA vermarkten. Die dort zuständige Food and Drug Administration (FDA) gilt als konstruktiv und informiert Firmen aktiv über die Voraussetzungen und Anforderungen für die Marktzulassung ihrer Medizinprodukte.
Derweil ist es in der EU kaum möglich, dass Benannte Stellen und entwickelnde Unternehmen sich über medizinische Innovationen frühzeitig und offen austauschen, bevor eine Vereinbarkeit mit der MDR offiziell geprüft wird. Beratungstätigkeiten sind für Benannte Stellen wie TÜV SÜD aus guten Gründen ausgeschlossen, ein nichtberatender Austausch für Regularien und Anforderungen wird von der MDR hingegen nicht generell ausgeschlossen. Aktuell werden in enger Absprache mit den Aufsichtsbehörden Regeln etabliert, um einen solchen Austausch strukturiert stattfinden zu lassen. Die Unsicherheit der Hersteller bleibt indessen weiter bestehen und kann Innovationen hemmen.
Dennoch gibt es Möglichkeiten, die Marktchancen eines modernen Medizinprodukts im europäischen Markt frühzeitig auszuloten. Die Anpassung der Fristen der MDR räumt Herstellern nun mehr Zeit ein, um Bestandsprodukte zur MDR tauglich zu machen und diese unter der MDR auf den Markt zu bringen. Durch die Fristverlängerung bleibt Herstellern also mehr Zeit, und diese Zeit kann für Innovationen und Neuprodukte genutzt werden. Insbesondere Prüfungen und Tests für neuartige und innovative Produkte, sollten frühzeitig angestoßen werden. In akkreditierten Laboren unterstützen Experten bei der Nachweiserstellung über die Sicherheit der Produkte. Frühzeitig erkannte Schwächen aufzuzeigen und Verbesserungsbedarf zu ermitteln, hilft Herstellern beim zukünftigen Konformitätsbewertungsverfahren. Auch der Schutz vor Hackerangriffen oder anderen Bedrohungen aus dem Cyberraum gehört heutzutage dazu und werden in Zukunft um Elemente rund um den AI Act erweitert werden.
Bestehen die Produkte diese Prüfungen nach dem aktuellen Stand der Technik, ist es wahrscheinlich, dass später auch ihre Konformität mit der MDR nachgewiesen werden kann. Das schafft Planungssicherheit und ist vor jedem Eintritt in neue, kostspielige Phasen der Entwicklung zu empfehlen. So fließen keine weiteren Mittel mehr in Produkte, die einer Prüfung nicht standhalten. Zugleich lassen sich Anpassungen unter Zeitdruck oder aufgrund von Kundenbeschwerden oder Zwischenfällen durch Fehlfunktionen vermeiden. Auch muss der Entwicklungsprozess u. U. nicht an einem Punkt ausgebremst, rückgängig gemacht oder beendet werden, an dem dies deutlich kostspieliger und zeitaufwendiger wäre. Prüfungen nach der Devise »Fail early, fail cheap« erhöhen von Phase zu Phase die Wahrscheinlichkeit, dass eine medizinische Innovation am Ende zugelassen wird. (uh)