Das Zusammenspiel von Gleichgewicht und Augen messen: Die autarke Diagnostikbrille »Merlin« kombiniert Video-Kopfimpuls und Video-Okulografie für eine sofortige Diagnose von Gleichgewichtsstörungen. Ein Embedded-Vision-System aus MIPI-Kameras und Raspberry Pi verarbeitet die Daten auf der Brille.
Das menschliche Gleichgewicht basiert auf einem komplexen Zusammenspiel mehrerer Sinne und Organe; vom Innenohr aus steuert das sogenannte Vestibularisorgan unsere Balance. Es besteht unter anderem aus drei Bogengängen, die im 90°-Winkel zueinander stehen und schnelle Drehbewegungen des Kopfes erkennen. Das Gleichgewichtsorgan leitet die Information ans Gehirn weiter. Der Körper reagiert auf die rotatorischen Reize unter anderem mit schnelleren Augenbewegungen und ermöglicht so auch in der Bewegung stabile Bilder und nahtloses Sehen.
Video-Okulografie-Systeme werden von Ärzten, Kliniken und Forschenden eingesetzt, um dieses Zusammenspiel von Kopfbewegung und Augenreaktion zu messen. Ein klassisches Verfahren ist dabei der Video-Kopf-Impulstest, bei dem der Arzt den Kopf des Patienten fixiert und dreht. Kameras zeichnen dabei die Augenbewegung auf. Die Schnelligkeit der Augenreaktion und Sprünge in der Nachstellbewegung – die sogenannten Sakkaden – geben Aufschluss über mögliche Beeinträchtigungen und betroffenen Bogengänge.
Die mit 10 bis 20 Millisekunden Dauer extrem kurzen und schnellen Sakkaden sind nur schwer aufzuzeichnen. Herkömmliche Tests arbeiten mit einer Framerate von 100 bis 200 Frames pro Sekunde (fps). Selbst bei 200 fps liegen dabei fünf Millisekunden zwischen zwei Bildern. Sakkaden können so leicht übersehen werden und die geringe Auflösung ermöglicht nur eine ungenaue Diagnostik.
Der Hör- und Gleichgewichtsspezialist Zeisberg aus Metzingen hat eine neuartige Diagnostikbrille entwickelt: »Merlin« (Bild 1) arbeitet mit einer Framerate von 500 Bildern pro Sekunde. Mit einer bis zu fünfmal höheren Auflösung sind die Messergebnisse verlässlich und Ärzte können den Video-Kopf-Impulstests einfacher und sicherer durchführen.
Video-Okulografie-Systeme gibt es seit über 30 Jahren. Die etablierten Systeme arbeiten kabelgebunden und sind nur im Labor und an einem externen PC nutzbar. Das erschwert die Durchführung der Tests. Hinzu kommt, dass die Kopfbewegung zwar über Gyroskope und Beschleunigung gemessen wird, Angaben zur Kopfstellung und -bewegung im Raum jedoch fehlen. Das ist für einige Testverfahren problematisch und kann die Testergebnisse verfälschen.
Die Merlin-Brille arbeitet mit einem neuartigen Verfahren zur Fusion der Sensordaten. Die resultierenden 4-dimensionalen Vektorinformationen geben Aufschluss über die Stellung der Chips – und damit der Brille – im Raum. »Wir wollten eine Diagnostikbrille entwickeln, die ohne Kabel auskommt und autark direkt in der Praxis einsetzbar ist. Das vereinfacht die Tests enorm«, sagt Sven Zeisberg, der die Diagnosebrille gemeinsam mit Vera Spöttl-Zeisberg entwickelt. »Merlin ermöglicht erstmals ein Head- und Eye-Tracking in einem Medizinprodukt. Der Arzt erhält eine nie dagewesene Unterstützung bei der Durchführung der Tests und direktes Feedback.«
Neben der Testautarkie waren eine höhere Aufnahmegeschwindigkeit und Bildqualität wichtige Kriterien der Merlin-Entwicklung. »Wir haben uns für MIPI-Kameras von Vision Components auf Basis von Sonys Bildsensor IMX 273 (Bild 2) entschieden.
Die extrem schnelle Framerate von 500 fps sowie der Global-Shutter-Verschluss ermöglichen Bildaufnahmen ohne Artefakte durch Bewegung«, so Sven Zeisberg. »Wichtig waren uns außerdem die MIPI-CSI-2 Schnittstelle zum Anschluss an ein Raspberry Pi Prozessorboard sowie die hohe Qualität und Langzeitverfügbarkeit. Auch die Unterstützung von Vision Components bei der Integration hat uns überzeugt.« Hinzu kommt, dass die sehr kleinen Kameras ohne weitere Anpassungen in das Gehäuse der Brille integriert werden konnten. Der Einsatz von Standardkomponenten spart Aufwand und reduziert die Kosten für das Serienprodukt.
Für die kompakte, leichte und energieeffiziente Bauweise der Brille war neben den Kameras auch das Embedded-Vision-System für die Erfassung und Verarbeitung der Bilddaten ausschlaggebend. Als Prozessorboard war das Raspberry Pi Compute Module 4 gesetzt, weil dessen Entwicklungsumgebung und die zur Verfügung stehenden Tools und Programme eine schnelle Implementierung der Anwendung ermöglichten.
Insgesamt dauerte die Entwicklung vom Konzept bis zum ersten Prototyp der Diagnostikbrille lediglich 15 Monate. Sven Zeisberg: »Vision Components passte die Treiber für die MIPI-Kameras an, sodass wir beide Kameras simultan verwenden können und ein externer Trigger unterstützt wird, der die Bildaufzeichnung mit den Daten der verbauten Gyroskope synchronisiert. Das perfekte Zusammenspiel der Kameras mit dem Rasperry Pi und die zur Verfügung gestellten Treiber haben die schnelle Entwicklung zur Serienreife möglich gemacht.«
Auch beim Gehäuse (Bild 3) setzt Zeisberg auf innovative Verfahren: Hier kommt ein 3D-gedrucktes Gehäuse zum Einsatz, das dank einer speziellen Oberflächenbeschichtung von der FDA für die Verwendung in Medizintechnikprodukten freigegeben ist.
Die Merlin-Diagnostikbrille ist völlig autark einsetzbar. Die Interpretation der Daten erfolgt über Video4Linux und direkt im Betriebssystem des Raspberry Pi. Dieser überträgt die Ergebnisse zur Visualisierung des Befunds, Speicherung und Auswertung per WLAN an einen PC oder ein Mobilgerät (Bild 4). Dort erfolgt auch die Verwaltung der Patientendaten. Gleichzeitig können die Messergebnisse per MQTT auch in Echtzeit übertragen und z. B. in Matlab importiert werden. Das ermöglicht Medizingeräte-OEMs umfassende Auswertungen und die Entwicklung eigener, weiterführender Applikationen.
Ein weiterer Vorteil des Zeisberg-Systems: eine deutlich verbesserte Usability für Arzt und Patient. Die Optik der Diagnosebrille muss nicht mehr mechanisch an den Patienten angepasst werden und auch der Kopf des Patienten braucht nicht mittels Kinn- oder Stirnauflage fixiert werden. Stattdessen werden Kopf- und Augenposition sowie Kamerafokus mittels Mausklick auf der kabellos verbundenen Steuersoftware auf einem beliebigen PC oder mobilen Endgerät adjustiert.
Aktuell ist die Merlin-Diagnostikbrille in Arztpraxen und Kliniken im Einsatz. Die CE-Kennzeichnung als Medizinprodukt der Klasse I ist bereits erfolgt und die FDA-Zulassung für den US-Markt in Vorbereitung, die finale Freigabe wird Anfang 2025 erwartet. Als Diagnostikverfahren sind derzeit der weltweit erste kabellose Video-Kopf-Impulstest sowie die Aufzeichnung des Spontan-Nystagmus, unkontrollierbarer Augenbewegungen ohne äußere Reize, implementiert.
Die kabellose, autarke und mobile Einsetzbarkeit der Merlin-Diagnostikbrille eröffnet darüber hinaus weitere medizinischen Anwendungen, die sich derzeit noch in Entwicklung befinden. Gleichzeitig lässt sich die Technologie einfach und schnell auf weitere Medizin- und Laborgeräte sowie andere Industrien übertragen: Embedded-Vision-Systeme auf Basis von MIPI-Kameramodulen und Embedded-Prozessorboards ermöglichen äußerst kompakte, energieeffiziente und – dank Onboard-Datenverarbeitung – von externen PCs unabhängige Geräte zu entwickeln. Diese können direkt am Point-of-Care und mobil eingesetzt werden und ermöglichen umfassende Bildverarbeitungsszenarien – vom Screening von Haut- und Gewebeproben über die Bestimmung von Laborwerten und die Erkennung von Keimen bis hin zur Unterstützung bildgebender Diagnoseverfahren mit künstlicher Intelligenz.
Auf der Messe Vision stellt Vision Components in Halle 8, Stand C31, aus. (uh)