Einen Medizinroboter in weniger als 5 Monaten entwickeln und dabei Millionen an Entwicklungs- und Zertifizierungskosten einsparen? Mit einbaufertigen Komplettantrieben für Roboterarme verspricht ein bayerisches Unternehmen einen neuen Ansatz für die beschleunigte Entwicklung in der Medizinrobotik.
Die Medizinrobotik boomt. Zwar unterscheiden sich die Schätzungen der Analysten, die Richtung aber ist ein und dieselbe: schnelles und starkes Wachstum. Eine Fortune-Business-Insights-Studie verspricht für Roboter in der Medizin bis 2026 eine jährliche Wachstumsrate von 21,5 Prozent und einen Jahresumsatz von 10,71 Milliarden US-Dollar gegenüber noch 2,26 Millionen in 2018. Noch optimistischer sind die Analysten von Mordor Intelligence: Allein die Chirurgierobotik soll von aktuell 7,62 Milliarden bis 2029 auf 11,76 Milliarden anwachsen, was einem jährlichen Wachstum von rund 9 Prozent entspricht. Die chirurgischen Roboter dominieren auf
jeden Fall die medizinische Robotik, gefolgt von Reha- und Pflegerobotern und
der klinischen Automatisierung.
Der Markt ist vielversprechend, für Medizintechnikhersteller und deren Entwickler sind die Herausforderungen in der Robotik jedoch immens: Bei Medizinrobotern ist nicht nur höchste Präzision, sondern auch maximale Sicherheit unerlässlich. Dreh- und Angelpunkt sind im wahrsten Sinne des Wortes die Roboterarme, -gelenke und deren Antrieb und Steuerung. Für OEMs in der Medizinrobotik bedeutet das: Wer eine sichere Roboterachse entwickeln und zertifizieren will, muss viel Geld und vor allem auch Zeit investieren. Insbesondere die strengen Sicherheitszertifizierungen sind exakt einzuhalten und erfordern oft zusätzliche Entwicklungsrunden und Testreihen, was mehrere Jahre in Anspruch nehmen kann und in der Ära von schnellen Technologiezyklen, Fachkräftemangel und volatilen Märkten ein hohes Risiko mit unbekanntem Ausgang darstellt. Wie also können Medizinroboter und ihre mechatronischen Gelenke schneller und günstiger entwickelt werden?
Das bayerische Unternehmen Sensordrive ist eine Ausgründung aus dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Mit einbaufertigen Komplettantrieben haben sich die Wesslinger Forscher Norbert Sporer und Matthias Hähnle 2003 zum Ziel gesetzt, Raumfahrtrobotik industrietauglich zu machen – insbesondere für die Automobil- und Medizintechnik. Diese »Forscher-DNA« ist auch heute noch ein prägender Teil des Unternehmens und so verwundert es nicht, dass die »SensoJoint«-Komplettantriebe heute in zahlreichen Forschungsprojekten zu finden sind (siehe Infoboxen). Vor zwei Jahren hat sich das mittlerweile auf über 40 Mitarbeiter gewachsene Unternehmen auf den Weg zur Zertifizierung für die Antriebe gemacht, im vierten Quartal 2024 soll diese abgeschlossen sein. Die Komplettantriebe sind dann nach IEC 61508, IEC 62061 sowie ISO 13849 zertifiziert und ermöglichen bei der Umsetzung von ISO 10218 und ISO/TS 15066 signifikante Zeit- und Kosteneinsparungen gegenüber der Entwicklung proprietärer Komponenten.
Geschäftsführer Norbert Sporer ist stolz auf die mechatronische Arbeit der vergangenen 20 Jahre: »Wer unsere Komplettantriebe für Medizinroboter einsetzt, spart sich genau diesen immensen Zeitaufwand für Entwicklung und Zertifizierungen der Antriebe«. Die Sensojoint genannten Komponenten können laut dem Mitgründer von Sensodrive »out of the box in nahezu jede Robotiklösung« verbaut werden. »Damit verfügen Hersteller sofort über eine Roboterachse, deren Antrieb alle Anforderungen nach SIL3/PLe erfüllt. Mit Sensojoint kann jedes Unternehmen innerhalb kürzester Zeit Hightech-Medizinroboter entwickeln – ohne jahrelange Entwicklungs- und Zertifizierungszeiten«.
Neue Impulse für die Reha-Robotik In einem Forschungsprojekt der Polytechnischen Universität Mailand konnte der Sensojoint-Antrieb gänzlich neue Möglichkeiten für die Knie-Rehabilitation eröffnen. Das Medizinrobotikmodul wurde seitlich an einem speziellen Rollstuhl montiert und mithilfe einer speziellen Orthese am Knie des beeinträchtigten Patienten befestigt. |
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Time-to-Market halbieren
Die Einsparpotenziale, welche Sensodrive seinen Kunden verspricht, könnten die Sensojoints zu einem Gamechanger in der Entwicklung von Medizinrobotern machen. »Hersteller, die unsere Komplettantriebe einsetzen, anstatt eigene Antriebslösungen zu entwickeln, können ihre Time-to-Market halbieren« sagt Sporer. Statt mehrerer Jahre würden beispielsweise für die Entwicklung eines Operationsroboters nur noch wenige Monate benötigt, was laut
dem Diplom-Elektroingenieur Entwicklungs-
und Zertifizierungskosten in Millionenhöhe
spare.
Marktführende Robotikantriebe
Bei den einbaufertigen Komplettantrieben ist die Drehmomentmessung und -regelung integriert. Vom Drehmomentsensor über den Motor bis hin zum Getriebe sind alle Komponenten bereits in einer kompakten, besonders leichten und leistungsstarken Bauform vereint. »So ist in Zukunft jedes Medtech-Unternehmen in der Lage, wettbewerbsfähige Medizinroboter zu entwickeln«, zumindest in der Theorie des Sensodrive Geschäftsführers. »Gleichzeitig liefern wir eine marktführende Drehmomenttechnologie, welche den OEMs oder Robotikpartnern in der Medizintechnik einen klaren Wettbewerbsvorteil verschafft.«
Universeller Antrieb
»Unser Ziel war es, eine hochintegrierte, einbaufertige Roboterachse zu entwickeln, die in allen denkbaren Medizinrobotern eingesetzt werden kann«, sagt Produktmanager Mark Polak. Tausende Entwicklungsstunden, hunderte Dokumente und unzählige aufwendige Testreihen seien in die Vollendung der Zielsetzung eingeflossen. Der Robotikexperte zeigt sich mit dem Ergebnis sehr zufrieden: »Ob Rehabilitationsrobotik, Operationsroboter, Operationsstative oder Forschungsroboter – dank fünf Standardbaugrößen und einer Vielzahl an Leistungsvarianten können die Sensojoints in jeder Medtech-Anwendung mit zur wichtigsten Robotikkomponente zählen.«
Aktive Schwingungsdämpfung
Eine Anwendung, in der die Roboterachsen ihre einzigartigen Vorteile voll ausspielen, ist die Schwingungsdämpfung bei Operationsmikroskopen. Bei herkömmlichen Operationsmikroskopen benötigt das Mikroskop bei geschlossenen Bremsen bis zu 1,5 Sekunden, um sich zu stabilisieren und schwingungsfrei zu bleiben. Operationsmikroskope mit Sensojoint-Antrieb hingegen können die Stellung des Mikroskops mittels aktiver Schwingungsdämpfung in jeder Situation stabil halten. Dank der Positionsregelung der Antriebe werden die Schwingungen permanent ausgeglichen und Operationen lassen sich besser, schneller und sicherer denn je durchführen. Bremsen sind zwar nach wie vor verbaut, sie werden aber lediglich in Notfällen zur Hilfe genommen, wenn sich die Position über einen definierten Grenzwert hinaus verändern sollte.
Zero-Gravity-Modus
Auch bei der Implementierung eines Zero-Gravity-Modus bei Medizinrobotern ermöglichen die Komplettantriebe laut Sensodrive eine neue Präzisionsstufe. Dank ihrer exzellenten Drehmomentsensoren können sie das Gewicht des eingesetzten Instruments oder Werkzeugs hochgenau messen, dieses exakt ausgleichen und den Roboterarm zuverlässig schwerelos machen. Durch die kontinuierliche Messung des Drehmoments liefern sie zudem Echtzeit-Feedback, welches es dem System ermöglicht, schnell und effektiv auf Veränderungen im Gewicht zu reagieren. Medizinroboter können somit noch präziser kontrolliert werden, was zu stabileren und gleichmäßigeren Bewegungen führt und die Genauigkeit des Eingriffs verbessert.
Kraftregelung für Roboter-gestütztes Bohren in der Chirurgie
Die Kraftregelung bei Chirurgierobotern ist eine Paradedisziplin der Sensojoint-Antriebe. Durch die präzise Drehmomentmessung und -regelung ist der Roboter in der Lage, die Bohrung mit genau der
richtigen Kraft und Geschwindigkeit durchzuführen, um Gewebeschäden zu minimieren und die Integrität umliegenden Gewebes zu erhalten. Der Chirurgieroboter kann das Instrument absolut präzise positionieren und ebenso präzise bohren.
Haptisches Feedback für teleoperierende Robotersysteme
Eine metaphorisch »führende« Rolle spielt Sensodrive bei der Entwicklung von haptischen Eingabegeräten für teleoperierende Robotersysteme, also beispielsweise Operationsroboter. Norbert Sporer verweist dafür auf die Technologieführerschaft im Bereich der Simulatortechnologie. »Dank unserer Drehmomentsensoren sind wir in der Lage, absolut realistisches haptisches Feedback zu erzeugen. Der Chirurg am Eingabegerät ›fühlt‹ jede Bewegung und jeden Widerstand so realistisch, als würde er das Skalpell mit der eigenen Hand führen.« Dass diese Steuerbefehle dann wiederum auch absolut präzise und mit der nötigen Sensitivität ausgeführt werden, sei laut dem Geschäftsführer der feinfühligen Drehmomentregelung der Sensojoints zu verdanken.
Die marktführende Drehmomenttechnologie von Sensodrive kommt aus der Raumfahrtforschung und offeriert der Medizintechnik vielfältige Anwendungsoptionen für die in verschiedenen Baugrößen erhältlichen Komplettantriebe. Mit den Attributen drehmomentgeregelt, sensitiv, voll sicherheitszertifiziert, leistungsstark und gleichzeitig kompakt, leicht und robust sowie hochpräzise sind die Sensojoints unkompliziert in verschiedenste Medizinrobotikkonzepte integrierbar. Für den Sensodrive-Chef Norbert Sporer steht fest: »Mit unserer applikationsspezifischen Kinematik und Antriebstechnik können sich Medtech-OEMs auf ihre Kernanwendung konzentrieren. Wenn unsere Komplettantriebe Ende 2024 voll sicherheitszertifiziert sind, lassen sich damit in kürzester Zeit wettbewerbsfähige Medizinroboter entwickeln«.
Magenspiegelung per ferngesteuerter Kamera-Pille Magenspiegelung ohne Endoskopie-Schlauch: Sensodrive hat für das Forschungsprojekt »nuEndo« mit Forschungspartnern einen sensitiven Medizinroboter entwickelt, dessen drehmomentgeregelter Roboterarm per Magnetkraft eine winzige Kamerakapsel durch den Magen eines Patienten bewegt. Die Kapsel wird wie eine Tablette geschluckt und sendet ihre Bilder kabellos als Livestream. Im Magen angekommen, wird die Kapsel mit dem im Roboterarm integrierten Magneten gekoppelt, welcher über dem Körper des Patienten positioniert ist – jetzt kann der Arzt die Kapsel durch Bewegen des Roboters steuern. Die Sensodrive-Drehmomenttechnologie ermöglicht ein absolut präzises Bewegen des Robo-Armes und gibt dazu haptisches Feedback. Der Arzt »fühlt« also beim Bewegen des Roboters, wenn die Kamerakapsel auf Widerstand stößt. So kann er den Magnet intuitiv führen und die Kapsel sicher durch den Magen des Patienten führen. Zusätzlicher Vorteil: Da das Eigengewicht des Roboterarms und des Magneten voll kompensiert wird, kann der Arzt ermüdungsfrei arbeiten. |
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