Wiederherstellung des Formensehens

Makula-Degeneration: Netzhautprothese lässt Blinde wieder lesen

28. Oktober 2025, 10:28 Uhr | Ute Häußler
Links: Simulation des Sehvermögens eines Patienten mit Makuladegeneration. Rechts: Simulation des Sehvermögens des Patienten, verbessert durch die PRIMA-Augenprothese.
© Palanker Lab

Neue Netzhautprothese lässt Blinde wieder sehen: 27 von 32 Patienten mit unheilbarer Makuladegeneration können dank PRIMA-Chip und Infrarot-Brille wieder lesen – erstmals echtes Formensehen statt bloßer Lichtwahrnehmung. Die photovoltaische Retina-Prothese der Stanford Medicine arbeitet kabellos.

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Über 5 Millionen Menschen weltweit leiden an geografischer Atrophie, einer fortgeschrittenen Form der altersbedingten Makuladegeneration, die bislang als unheilbar galt. Forscher der Stanford Medicine haben mit PRIMA (Photovoltaic Retinal Implant for Macular Degeneration) nun erstmals eine Augenprothese entwickelt, die nicht nur Lichtwahrnehmung, sondern echtes Formensehen ermöglicht – ein Meilenstein, an dem alle bisherigen Versuche gescheitert waren. In einer klinischen Studie konnten 27 von 32 Teilnehmern nach einem Jahr wieder lesen.

Photovoltaik statt Kabel

Das Herzstück des PRIMA-Systems ist ein gerade einmal 2 x 2 Millimeter großer photovoltaischer Chip, der subretinal – also unter der Netzhaut – implantiert wird. Anders als frühere Retina-Prothesen, die externe Stromquellen und Kabel benötigten, die aus dem Auge hinausführten, arbeitet PRIMA vollständig drahtlos. »Der Chip ist photovoltaisch, das heißt er benötigt nur Licht, um elektrischen Strom zu erzeugen«, erklärt Entwickler Daniel Palanker, Professor für Ophthalmologie an der Stanford Medicine. Diese Design-Entscheidung ermöglicht nicht nur eine sichere Implantation unter der Retina, sondern eliminiert auch die Komplikationen, die mit kabelgebundenen Systemen einhergehen.

Der Chip besteht aus 378 unabhängig steuerbaren Pixeln in einer Wabenstruktur, jedes Pixel ist 100 Mikrometer breit. Wenn Infrarotlicht auf ein Pixel trifft, erzeugt es Strom und aktiviert eine Elektrode, die den direkt darunter liegenden Teil der Retina stimuliert. Das System nutzt dabei gezielt die erhaltenen bipolaren Zellen der Netzhaut, die normalerweise Signale von den Photorezeptoren weiterleiten – bei Makuladegeneration gehen zwar die Photorezeptoren verloren, die nachgeschalteten neuronalen Schichten bleiben aber oft intakt.​

Infrarot-Projektion für hybrides Sehen

Die zweite Komponente des Systems ist eine Spezialbrille mit integrierter Kamera und Infrarot-Projektor. Die Kamera erfasst Bilder der Umgebung in Echtzeit, ein tragbarer Computer verarbeitet sie und verstärkt Kontrast sowie Helligkeit – mit bis zu 12-facher Vergrößerung. Die optimierten Bilder werden dann als Infrarotlicht-Muster präzise auf den implantierten Chip projiziert. »Die Projektion erfolgt mit Infrarot, weil wir sicherstellen wollen, dass sie für die verbliebenen Photorezeptoren außerhalb des Implantats unsichtbar ist«, so Palanker.

Diese Lösung ermöglicht Patienten, gleichzeitig ihr natürliches peripheres Sehen und das prothetische zentrale Sehen zu nutzen. »Die Tatsache, dass sie gleichzeitig prothetisches und peripheres Sehen wahrnehmen, ist wichtig, weil sie beides zusammenführen und das Sehvermögen voll ausschöpfen können«, betont der Stanford-Wissenschaftler. Für Orientierung und Navigation ist diese Kombination entscheidend.

Klinische Daten überzeugen

An der Studie nahmen 38 Patienten über 60 Jahre teil, alle mit geografischer Atrophie und einer Sehschärfe schlechter als 20/320 in mindestens einem Auge. Vier bis fünf Wochen nach der Chip-Implantation begannen die Patienten mit dem Training der Brille. Zwar konnten einige sofort Muster erkennen, doch die volle Sehschärfe entwickelte sich erst über Monate – ähnlich wie Cochlea-Implantat-Träger das prothetische Hören erlernen müssen.

Von den 32 Patienten, die die einjährige Studie abschlossen, konnten 27 lesen und 26 zeigten eine klinisch relevante Verbesserung der Sehschärfe – definiert als die Fähigkeit, mindestens zwei zusätzliche Zeilen auf einer Standard-Sehtafel zu lesen. Im Durchschnitt verbesserte sich die Sehschärfe um 5 Zeilen, ein Teilnehmer sogar um 12 Zeilen. Mit aktivierten digitalen Verbesserungen wie Zoom und höherem Kontrast erreichten manche eine Sehschärfe von etwa 20/42. Die Teilnehmer nutzten die Prothese im Alltag zum Lesen von Büchern, Lebensmitteletiketten und U-Bahn-Schildern, zwei Drittel berichteten von mittlerer bis hoher Zufriedenheit mit dem Gerät.

Nächste Generation mit 10.000 Pixeln

Derzeit liefert PRIMA nur Schwarz-Weiß-Sehen ohne Graustufen, doch Palanker entwickelt bereits Software für die vollständige Grauskala-Darstellung. »Nummer eins auf der Wunschliste der Patienten ist das Lesen, aber Nummer zwei, dicht dahinter, ist die Gesichtserkennung – und die erfordert Graustufen«, erklärt er. Parallel arbeitet sein Team an Chips mit höherer Auflösung. Die Auflösung wird durch die Pixelgröße begrenzt, aktuell 100 Mikrometer bei 378 Pixeln pro Chip. Die neue Version, bereits in Ratten getestet, könnte Pixel von nur 20 Mikrometern aufweisen – mit 10.000 Pixeln pro Chip.

»Dies ist die erste Version des Chips, und die Auflösung ist relativ niedrig«, räumt Palanker ein. Ein Chip mit 20-Mikrometer-Pixeln könnte einem Patienten eine Sehschärfe von 20/80 ermöglichen, mit elektronischem Zoom sogar nahe 20/20. Die nächste Generation wird mit schlankeren Brillen gekoppelt sein. Palanker plant zudem Tests für andere Erblindungsformen, die durch Photorezeptor-Verlust verursacht werden. (uh)

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