»Sensojoint Safe« für die Medizinrobotik

Die ersten drehmomentgeregelten Roboterantriebe mit voller Safety

7. April 2025, 11:54 Uhr | Ute Häußler
Feierlich gelüftet: Die Safety-Zertifizierung der Sensojoint-Komplettantriebe für u.a. medizinische Roboterarme.
© Sensodrive / J.SP.

Wer Medizinroboter baut, braucht bisher viel Zeit, Geduld und Geld – speziell für die Entwicklung und Zertifizierung sensitiver und sicherer Antriebsgelenke. Mit den Komplettantrieben »Sensojoint Safe« verspricht die DLR-Ausgründung Sensodrive eine Revolution und will damit den Weltmarkt erobern.

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Mit den voll sicherheitszertifizierten und drehmomentgeregelten Roboterantrieben soll jeder OEM in die Lage versetzt werden, innerhalb weniger Monate einen Medizinroboter zu bauen.


Noch hält die feingliedrige Roboterhand das weiße Stofftuch ein paar Zentimeter über dem Tisch - was darunter liegt, bleibt zunächst verborgen. Eine kleine Bewegung offenbart dann die lang erwartete Neuheit aus dem Haus Sensodrive: Franz Xaver Peteranderl, Präsident der Handwerkskammer, dreht einen Schlüssel, der Roboterarm lüpft das Stofftuch und gibt den Blick auf silbrig glänzende Metallzylinder frei: Die Komplettantriebe »Sensojoint Safe« des Weßlinger Antriebsherstellers feiern vor den Augen von über 30 geladenen Gästen aus Wissenschaft, Industrie, Finanzwirtschaft und Politik Premiere.

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Geschäftsführer Norbert Sporer neben dem gerade eine Woche alten TÜV-Zertifikat für die volle Safety seiner Sensojoint-Komplettantriebe für die Robotik.
© Componeers

Die drehmomentgeregelten Robotergelenke haben – laut Sensodrive als erstes und einziges Produkt dieser Art weltweit – eine vollständige Safety-Zertifizierung des TÜV Süd erhalten. 

Das Zertifikat repräsentiert die Früchte von über 20 Jahren Arbeit und der Stolz über den erreichten Meilenstein ist dem 50-köpfigen Team rund um Norbert Sporer anzusehen. Der Geschäftsführer spielt dann zur Feier des Tages auch erstmal Musik. Das Mundartstück »Kopfstimm‘« von Pizzera & Jaus handelt von intrinsischer Motivation, dem Verfolgen der eigenen Ziele – auch über Hürden hinweg – und der dafür notwendigen Hingabe. Laut Sporer hat es den rockigen Song während der Entwcklung der Roboterantriebe oft gebraucht, in voller Lautstärke, unten im Keller. Am Premierentag der »Sensojoint Safe« ehrt das Lied den Moment und nimmt die Besucher mit auf die Sensodrive-Reise bis zum heutigen Tag - der den Beginn eines internationalen Wachstums markieren soll, insbesondere in der Medizintechnik.

Quantensprung für die Robotikentwicklung

Die zertifizierten Sensojoints sollen die Entwicklung sensitiver Robotiklösungen gleich in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf stellen. Bislang mussten Hersteller von Cobots und Medizinrobotern ihre Antriebe selbst entwickeln und zertifizieren lassen – mit immensen Kosten und oft jahrelangem Aufwand. Wer stattdessen die einbaufertigen Sensojoint-Antriebe in seine Robotik-Lösungen integriert, spare sich diesen gesamten Aufwand, sagt Norbert Sporer - und rückt den größten Vorteil der Plug-and-Play-Komponente in den Vordergrund: »Das Drehmomentsignal wird garantiert richtig erkannt« und dann über das funktionale Sicherheitsprotokoll »Safety over Ethercat« in Echtzeit an die Robotersteuerung übertragen.

Die in Serie gelieferten Robo-Antriebe sind je nach Typus kaum größer als eine Cola-Dose und nach allen für das Sicherheitsintegritätslevel SIL3/PLe relevanten Sicherheitsnormen zertifiziert: IEC 61508, IEC 6206, IEC 61800-5-2 sowie ISO 13849. Zudem können Roboterentwickler mit diesem Grundstock auch weitere Normen wie EN ISO 12100, EN ISO 10218-1, EN ISO 10218-2, EN 60204-1 sowie DIN ISO/TS 15066 deutlich schneller umsetzen.

Sicherheitsfunktionen der »Sensojoint Safe«
STO - Safe Torque Off
SBC - Safe Brake Control
SBT - Safe Brake Test
SS1 - Safe Stop 1
SS2 - Safe Stop 2
SOS - Safe Operating Stop
SP & SLP - Safe Position & Safely Limited Position
SV & SLS - Safe Velocity & Safely Limited Speed
ST & SLT Safe Torque & Safely Limitd Torque

Alle Sicherheitsfunktionen wurden im Vorfeld der TÜV-Zertifizierung auf Basis gültiger Industrienormen umfangreich getestet. Dazu gehörten u.a. EMV-Tests, Failure Insertion Tests - auch in der Thermokammer und auf Feuchte -, ausgedehnte Rüttel- und Dauertests sowie die Überprüfung der Regelungstechnik und mißbräuchlicher Nutzung. Rund 1,5 Personenjahre und und mehrere Millionen Zyklen sind allen in das Testing geflossen.

Besonders stolz ist Nobert Sporer darauf, das seine Antriebe den im Überlasttest geforderten 50 Newtonmetern Krafteinwirkung sechsfach standgehalten haben - die Roboterarme trugen ohne Probleme Lasten mit bis zu 300 Newtonmetern. »Das ist unser Faustpfand, das kann nicht einfach erkauft werden,« freut sich der Geschäftsführer.

Wettbewerbsvorteile für Medizinrobotik-OEMs

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Von links nach rechts: Leiter Qualitätsmanagement Dr. Michael Kappel, Entwicklungsleiter Sebastian Wenleder, Produktionsleiter André Seifert, Leiterin Buchhaltung und Personal Susanne Sporer, Geschäftsführer Norbert Sporer, Custom Solutions Manager Stephan Sporer und Marek Polak sowie Safety-Ingenieur Sebastian Fries.
© Sensodrive / J.SP.

Business Developement Manager Marek Polak erklärt dem Publikum in Weßling anschließend, dass sich dank der Komplettantriebe, »Cobots und Medizinroboter in weniger als fünf Monaten entwickeln« lassen. »Mit unserem modularen Antrieb müssen Hersteller das Rad nicht immer neu erfinden,« und stellt dank der umfangreichen Zertifizierungen eine Halbierung der Time-to-Market in Aussicht. Die Entwicklungskosten sollen gar um einen siebenstelligen Betrag sinken. Zudem bestehe für OEMs kein Risiko durch Entwicklungsfehlschläge, wie sie bei so komplexen Medizinsystemen nicht selten vorkämen.

Patentierte Drehmomentsensorik

Herz der Sensojoint-Antriebe sind patentierte Drehmomentsensoren, die mit ihren »Advanced Control Algorithmen« über eine einzigartige Regeltechnik verfügen. Die Positionskontrolle mit aktiver Schwingungsdämpfung tariert auch unter höheren Trägheiten und Traglasten kleinste Schwingungen und unerwünschtes Nachschwingen aus und hält eine definierte Position sicher - etwa für die vibrationsfreie Positionierung von Operationsmikroskopen.

»Unsere Antriebe sind absolut vergleichbar mit denen, die in Medizinrobotik-Systemen wie von Johnson & Johnson, Kuka oder Intuitive verbaut sind,«

sagt Stephan Sporer, Custom Solutions Manager, vor einem Demonstrationsroboterarm im Showroom von Sensodrive. Am Anfang hätte das Unternehmen unterschätzt, wie wichtig auch die Handführung von Robotern in der Chirurgie ist. Heute sei die Gravitationskompensation, welche das Eigengewicht der Roboterarme kompensiert und eine federleichte Handführung sowie ein punktgenaues Roboter-Teaching ermöglicht, eine der herausragenden Funktionen der Sensojoint-Technologie. Die präzise Drehmomentsensorik erfasst die auf die sechs Achsen wirkenden Kräfte und versetzt den Roboter damit in die Lage, in Echtzeit zu reagieren.

Ein weiteres zentrales Feature ist das sogenannte »Force Feedback«, das es ermöglicht, Bewegungen mit hoher Sensitivität auszuführen. Der Operateur bekommt damit - egal ob direkt am Roboter oder per Remote-Steuerung - haptisches Feedback und spürt über diesen Tastsinn bei Berührung selbst feinsten Widerstand. Diese Technologie hat sich in den neuesten Generationen von OP-Robotern mittlerweile zum Standard etabliert. 

Dazu gehört auch die Kollisionserkennung als integraler Bestandteil der Sensojoint-Antriebe. Unerwartete Drehmomente werden genutzt, um Kollisionen zu erkennen und den Roboter sofort in einen sicheren, aber weiterhin aktiven und damit steuerbaren, Zustand zu versetzen.

Integrierbare Antriebe mit feinster Sensitivität

»Diese Sensitivität ist superwichtig und gewinnt in der Entwicklung immer weiter an Relevanz,« sagt Dr.-Ing. Ulrich Hagn, Engineering Director der Surgical Operating Unit von Medtronic. Wie ein Roboter bei der Kollision mit einem Patienten reagiert, sei entscheidend, meint der aus direkter Nachbarschaft gekommene Besucher. Aktuell setze der Hersteller des Hugo-Chirurgieroboters, dessen MiroSurge-Technologie ebenfalls aus dem DLR stammt, »noch nicht« auf externe Antriebssysteme. Entwicklungsleiter Hagn sagt: »Vor zehn, elf Jahren war die Technik noch nicht soweit, die Komponenten waren nicht so klein, die Programmsteuerung nicht so integrierbar. Jetzt schon.«

»Der Reifegrad der Antriebspakete ist beeindruckend,« bestätigt Rüdiger Stahl vom Motorenlieferant TQ-Systems aus Seefeld. Zu den Vorzügen gehören für den Geschäftsführer die Feinfühligkeit und gleichzeitig Stärke der Drehmomentsensorik sowie die herausragende Sicherheit auf Plattformebene. Es sei nun wirklich »sehr einfach, robotische Systeme zu bauen«.

Für Sensodrive und die nun voll Safety-zertifizierten Sensojoint-Antriebe sind das, vorsichtig ausgedrückt, gute Nachrichten. Automatisierte Roboter-Assistenten, Remote-OP-Helfer, medizinische Haltearme, C-Bögen oder Mikroskop-Stative - Norbert Sporer zeigte in seiner Präsentation Logos aller großen Medizinrobotik-OEMs, welche robotische Antriebssysteme einsetzen, und sieht den »zweistelligen Milliardenmarkt« als Sweet Spot für die weitere Unternehmensentwicklung. Die von ihm angepeilten »100 bis 200 Millionen« Umsatz dürfen auch als eine Art Versprechen für anwesende, potenzielle Geldgeber gelten.

»Was 100% kommen wird, ist die Medizintechnik. Und der Markt ist riesig!«

Einsatz in der Medizinrobotik weltweit

Für die kommende Internationalisierung bzw. Globalisierung des Vertriebs braucht der Antriebshersteller nun Partner, die das Wachstum mit ausreichend Kapital unterstützen und möglich machen - Bootstrapping reicht für den Schritt auf den Weltmarkt nicht mehr aus. Die Safety-Zertifizierung der Komplettantriebe dürfte dafür technisch und wirtschaftlich eine extrem gute Voraussetzung sein. (uh)

 

Aus dem Keller in den OP-Saal

Sensodrive ist ein deutsches Hightech-Unternehmen, das sich auf die Entwicklung von Force-Feedback-Systemen, Drehmomentsensoren und Robotik-Antrieben mit integrierter Drehmomentmessung und -regelung spezialisiert hat. 

2003 hatte die DLR-Ausgründung mit einem gemieteten Kellerraum im heutigen Headquarter in direkter Nachbarschaft zum DLR angefangen. Norbert Sporer brachte Erfahrung aus der Leichtbauroboterentwicklung, der Drehmomentsensorik sowie eine hehre Vision für Roboterantriebe mit. Seit dieser Zeit kooperieren Sensodrive, Kuka und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt im Bereich Medizinrobotik und Cobots.

Nach vielen Herausforderungen und auch einigen Rückschlägen ist Sensordrive heute der einzige Mieter in dem dreistöckigen Bürogebäude. Weil es nach der Dotcom-Krise keine Investoren gab, verlegte sich die kleine Firma für die Finanzierung ihres großen Ziels aufs Bootstrapping. In den folgenden 15 Jahren wurde jeder in Kundenprojekten verdienten Cent beiseitegelegt. »2020 haben wir unser Entwicklungsteam dann komplett auf die Sensojoints fokussiert,« beschreibt Sporer den Switch im Geschäftsmodell hin zum eigenen Produkt und den Grundsein für den heutigen Erfolg.


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