Second- und Third-Source-Ansätze

Neue Embedded-Standards sind ein voller Erfolg

25. Mai 2023, 13:00 Uhr | Tobias Schlichtmeier
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Der Mangel an Bauteilen führte in den letzten Jahren zu Stornos und Produktionsrückständen. Entwickler, die lediglich auf einen Hersteller setzten, stellte das vor Herausforderungen. Aus diesem Grund möchten viele auf weitere Lieferanten zurückgreifen können – was die Embedded-Standards befeuert.

In den letzten beiden Jahren schufen die Standardisierungsgremien der Embedded-Branche, die PCI Computer Manufacturers Group (PICMG) sowie die Standardization Group for embedded Technologies (SGET), neue Standards im Bereich der Computermodule. Gerade COM-HPC im Bereich des Hochleistungs-Computing sowie Open Standard Module (OSM) im Bereich der Auflötmodule sind hierbei sehr erfolgreich. Hinzu kommen demnächst COM-HPC Mini – eine Erweiterung von COM-HPC – sowie ModBlox7, ein Standard für Industriecomputer. Was mit den »alten«, bestehenden Standards passiert, ist derweil fraglich.

OSM schlägt voll ein – jedoch nicht überall

Martin Steger, Geschäftsführer bei iesy und gleichzeitig im Vorstand der SGET, betont, Standards seien ein wichtiges Merkmal der Embedded-Branche, das in Zukunft nicht an Bedeutung verlieren werde. Steger weiter: »Wir haben unser OSM-Portfolio stark ausgebaut und insgesamt acht Plattformen auf der embedded world gezeigt. Für uns ist OSM ein Umsatzträger, der in den nächsten 12 bis 18 Monaten an Signifikanz gewinnt.«

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Martin Steger, iesy: »Für uns ist OSM ein Umsatzträger, der in den nächsten 12 bis 18 Monaten an Signifikanz gewinnt.«
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Laut Markus Mahl, Senior Product Marketing Manager für Boards bei Avnet Embedded, habe OSM voll eingeschlagen – er sei erstaunt, wie hoch die Nachfrage ist. Man habe erste Kunden bemustert und könne im nächsten Jahr bereits Umsatz mit OSM-Modulen erzielen. Hierzu müsse man allerdings erst noch einige Produktionsstraßen ausbauen, um die Kapazitäten zu erhöhen.

Als eine der besten Innovationen der letzten Monate bezeichnet gar Thomas Kaminski, Director Product Sales and Marketing Management bei Advantech, den neuen Standard für Auflötmodule. »Der Standard öffnet uns die Tür zum bestehenden Markt an Auflötmodulen und gibt zugleich unseren Kunden Sicherheit und eine Second Source. So haben wir Zugang zu wachsenden Märkten«, so Kaminski weiter. OSM trage sogar bereits jetzt und recht kurzfristig zum Geschäft bei.

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Markus Mahl, Avnet Embedded: »OSM hat voll eingeschlagen – ich bin erstaunt, wie hoch die Nachfrage ist.«
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Auch Silas Renner, Business Development Manager bei Hy-Line, freut sich über den neuen Standard: »OSM ist sehr interessant für uns, wir haben in kurzer Zeit drei Mainboard-Design-Entwicklungen gewonnen. Das ist für uns im Arm-Bereich eigentlich undenkbar, aber mit dem neuen Standard geht das recht einfach. So verlieren wir unsere Hemmungen, kundenspezifische Entwicklungen im Arm-Bereich durchzuführen – und OSM trägt sogar bereits zum Umsatz bei«, so Renner.


Bei OSM habe Seco sehr lange gezögert, berichtet Dirk Finstel, Geschäftsführer von Seco Nor­thern Europe. Mit ehemals Garz & Fricke und Keith & Koep verfüge der Seco-Konzern über etwa 100 Arm-Entwickler in Europa und sei hiermit unschlagbar bei der Arm-Technik. »OSM ist kein Thema für kundenspezifische Entwicklungen – dennoch setzen wir inzwischen auf den Standard. Denn im Bereich der Full-Custom-Designs können wir mit OSM ein ganzes Ökosystem für die Baseboard-Entwicklung anzapfen, entsprechend einen höheren Output generieren«, so Finstel. Kontron habe schon seit Längerem kundenspezifische Auflötmodule hergestellt, mit OSM komme jedoch ein ganz neuer Schub in den Markt, meint Peter Müller, Vice President der Product Line Modules bei Kontron. Christian Eder, Director Product Marketing bei congatec, ist als SGET-Vorstandsmitglied stolz, dass ein SGET-Standard so erfolgreich ist. congatec habe jedoch derzeit kein OSM-Modul im Portfolio

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Thomas Kaminski, Advantech: »COM-HPC war die richtige Innovation und öffnet die Tür zu neuen wachsenden Märkten.«
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Stefanie Kölbl, Geschäftsbereichsleiterin TQ-Embedded bei der TQ-Group, möchte mit TQ die Technologie im Arm-Bereich weiter vorantreiben und mit ihren Entwicklungsingenieuren technisch das Optimale herausholen. Sie denkt: »Standards haben ihre Berechtigung; wir haben OSM ebenfalls intensiv verfolgt, haben bisher für uns jedoch festgestellt, dass wir mit unseren proprietären Modulen aus der CPU und dem Modul noch ein wenig mehr herausholen können. Auch von unseren Kunden bekommen wir noch kein Signal in Richtung OSM.«

Ina Schindler, Co-Geschäftsführerin bei Microsys Electronics, unterstreicht das: »Wir prüfen bei jedem Design den Prozessor, versuchen die maximale Leistung herauszukitzeln. Letztendlich möchten wir, dass der Kunde zufrieden ist. Zudem setzen wir stark auf die S32G-Familie von NXP Semiconductors, die auf das autonome Fahren abzielt.«

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Silas Renner, Hy-Line: »OSM ist sehr interessant für uns.«
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COM-HPC in den Startlöchern

Ist OSM bereits ein voller Erfolg und in vielen Projekten schon im Einsatz, muss man die Situation bei COM-HPC etwas differenzierter betrachten. »Bei COM-HPC geht es mehr um die Konnektivität, die mit COM Express nicht mehr verfügbar ist. Es gibt viele neue Projekte, jedoch noch nicht in dem Maße, wie man es sich vorgestellt hat«, erklärt Markus Mahl. »Entwickler, die die Konnektivität noch nicht benötigen, setzen derzeit eher noch auf COM Express. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass beide Standards parallel nebeneinander existieren.« – »COM-HPC war die richtige Innovation und öffnet die Tür zu neuen wachsenden Märkten, gerade in neuen Performance-Klassen«, meint Thomas Kaminski.

Laut Richard Pinnow, Business Development Manager für Modules bei Adlink Technology, müsse man zwischen den Client- und Server-Formfaktoren unterscheiden. »Gerade im Server-Bereich sehen wir eine sehr hohe Nachfrage, wir sprechen von 10-, 25- bis zu 100-Gigabit-Ethernet-Schnittstellen. Zudem stellt COM-HPC eine sehr hohe Anzahl an PCIe-Schnittstellen bereit, die Entwickler momentan über COM Express nicht abbilden können. Wir haben schon viele Projekte im Server-Bereich laufen, und das wird sich am Ende des Jahres im Umsatz zeigen. Bei den Client-Modulen sehe ich vor allem die gesockelten CPUs im Vorteil, gerade mit PCIe Gen 5. Mit der Alder-Lake-Generation von Intel wollen unsere Kunden in COM-HPC-Projekte investieren«, so Pinnow weiter.

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Dirk Finstel, Seco: »Für mich ist COM-HPC Mini der Nachfolger von COM Express.«
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COM-HPC Server sei der Ansatz, der viele Projekte und zeitnah Umsatz bringe, stimmt Peter Müller Richard Pinnow zu. Hiermit ließen sich viele neue Applikationen im Vergleich zu COM Express abbilden. »COM-HPC Client überlappt sich hingegen zu einem gewissen Teil mit COM Express; hierdurch ist noch nicht der Grip da, weil viele Kunden ihre Projekte noch mit COM Express abbilden. Trotzdem gibt es neue Applikationen, die von Beginn an auf COM HPC setzen«, so Müller weiter.

Dirk Finstel betont, bei COM-HPC komme langsam Traktion auf den Markt. Jedoch hätten viele Kunden einen Entwicklungsstau, weil sie damit beschäftigt seien, ihre Produktion am Laufen zu halten. »Bei COM-HPC Mini sind congatec und Seco sehr stark vorangegangen. Für mich ist COM-HPC Mini der Nachfolger von COM Express«, so Finstel. Stefanie Kölbl berichtet, dass bei der TQ-Group COM-HPC nicht so gut ins Produktportfolio passe, jedoch beobachte man COM-HPC Mini mit sehr großem Interesse.

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Peter Müller, Kontron: »Mit OSM kommt ein ganz neuer Boost in den Markt.«
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Einer, der COM-HPC entscheidend auf die Straße gebracht hat, ist Christian Eder, denn er ist Chairman der PICMG Working Group für COM-HPC. Das Besondere sei laut Eder bei COM-HPC die Serverklasse. »Wir wollten einen Standard schaffen, der zukunftsfähig ist«, betont Eder. »Mit den Server-Modulen lassen sich zudem Applikationen im Bereich 5G entwickeln, denn dort ist eine hohe Rechenleistung nötig. Der Bedarf an Datenübertragung wächst ständig, somit müssen immer mehr Daten am Edge verarbeitet werden – genau hier greift COM-HPC an.« Erste Projekte bei congatec seien akquiriert, die Umsätze würden erst noch kommen, so Eder weiter.

»Wir vertreiben Industrierechner, die mit proprietären Motherboards aufgebaut sind«, berichtet Helmut Artmeier, Managing Director der EFCO-Electronics-Niederlassung in Deggendorf. »Zudem vertreiben wir eine Produktlinie, die mit Modulen arbeitet, derzeit in den Formfaktoren Qseven und COM Express, in Zukunft möglicherweise ebenso mit COM-HPC. Uns bietet die Plattform die Möglichkeit, sehr schnell auf Markttrends zu reagieren«, so Artmeier.

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Christian Eder, congatec: »Wir wollten mit COM-HPC einen Standard schaffen, der zukunftsfähig ist.«
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ModBlox7 in der Spezifikationsphase

Ein weiterer Standard der PICMG, der derzeit spezifiziert wird, ist ModBlox7. Er soll der erste Standard für Industriecomputer werden. Thomas Kaminski meint hierzu: »Ob eine Standardisierung im Box-PC-Bereich sinnvoll und hilfreich ist, kann ich noch nicht abschätzen. Es gibt bereits Fragen danach, es ist jedoch noch zu früh, um das zu bewerten. Es ist wie bei OSM, der Markt muss die Vorteile im Detail kennenlernen, um sie als Vor- oder Nachteil einschätzen zu können.«

Fraglich sei zudem, welche Hersteller einsteigen und wie die Spezifikation am Ende aussehe, so Kaminski weiter. Für compmall und Cincoze könnte ModBlox7 ein Thema werden, erklärt Albin Markwardt, Geschäftsführer von compmall. Helmut Artmeier und EFCO beobachten den neuen Standard für Industrie-Rechner ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit.

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Stefanie Kölbl, TQ-Group: »Wir haben Kunden, die seit 20 bis 25 Jahren mit unseren proprietären Modulen arbeiten.«
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Legacy-Standards weiter umsatzträchtig

Nun, da bereits viele neue Standards zum Umsatz der Embedded-Unternehmen beitragen, stellt sich die Frage, was mit den sogenannten Legacy-Standards passiert. Richard Pinnow merkt an: »Alte Standards wie COM Express Type 6 werden sich noch lange am Markt halten, denn es ist ein etablierter Standard mit guten Umsätzen. Gerade für 5G Small Cells ist COM Express Type 7 ideal als Formfaktor geeignet, weil er klein und kompakt ist«, so Pinnow.

»COM Express ist nicht tot«, meint ebenfalls Dirk Finstel. Man habe auch bei ETX eine gewisse Überlappung gesehen und bei vielen anderen Standards ebenfalls. »COM Express wird noch mindestens zehn Jahre Bestand haben und entsprechend Umsätze generieren. Man sieht das bei PCI: Dieser vermeintlich alte Standard generiert immer noch 200 Mio. Euro Umsatz weltweit.

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Ina Schindler, Microsys: »Wir prüfen bei jedem Design den Prozessor, versuchen die maximale Leistung herauszukitzeln.«
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COM Express hat mittlerweile 2 Mrd. Euro Umsatz am Gesamtmarkt erreicht – und bevor sich dieser reduziert, wird es noch eine Dekade dauern. Es ist für einen Hersteller immer noch interessant, in den Markt zu investieren«, weiß Finstel zu berichten. Peter Müller denkt, die Ablösung für COM Express wird in einigen Jahren COM-HPC Mini sein. Derzeit reiche jedoch COM Express oft noch aus.

»Es war nie die Absicht, dass COM-HPC COM Express verdrängen soll«, erklärt Christian Eder. Er sieht bei COM Express sogar noch etwas Wachstum – es werde den Standard sogar in 20 Jahren noch geben, ähnlich wie es heute noch ETX-Module zu kaufen gibt. »Es gibt Applikationen, die die alten Module benötigen, da sie fest eindesignt sind«, so Eder.

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Richard Pinnow, Adlink Technology: »Alte Standards wie COM Express Type 6 werden sich noch lange am Markt halten.«
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Ein weiterer Punkt sei die vorhandene Infrastruktur für Qseven oder ETX, die weiter bedient werden wolle, gibt Peter Müller zu bedenken. Gerade für Qseven gäbe es Designs auf Basis der letzten Intel-Atom-Generationen, die über die nächsten zehn Jahre noch zu bedienen seien. Auch Dirk Finstel sieht das so: »Die Unternehmen, die die meisten Kunden auf alten Plattformen haben, sind gezwungen, diese weiter zu beliefern.« Seco habe beispielsweise als Originator von Qseven eine sehr große Kundenbasis und ein sehr großes Portfolio an Produkten, so Finstel.

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Albin Markwardt, compmall: »Für compmall und Cincoze könnte ModBlox7 ein Thema werden.«
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Auch proprietäre Standards weiter gefragt

Wird von vielen Embedded-Unternehmen die Standardisierung von Modulen unterstützt und gefordert, so gibt es dennoch Firmen, die überwiegend auf eigene, proprietäre Standards setzen, zum Beispiel die TQ-Group. Stefanie Kölbl berichtet, dass gerade im Arm-Bereich zum Beispiel SMARC keine Rolle spiele. »Wir haben Kunden, die seit 20 bis 25 Jahren mit unseren proprietären Modulen arbeiten. Viele Projekte befinden sich im Redesign, um den Performance-Boost mitzunehmen, aber alle wollen weiterhin den TQ-Standard.« Anders sehe es mit SMARC im x86-Bereich aus, das komme hingegen sehr gut an, so Kölbl.

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Helmut Artmeier, EFCO: »Wir vertreiben Industrierechner, die mit proprietären Motherboards aufgebaut sind.«
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»Wir haben volle Auftragsbücher, wir brauchen immer mehr Entwickler, immer mehr Baugruppen, und hier finden wir ein Segment an Kunden, die nicht auf Standards setzen«, so Schindler. Peter Müller meint, es liege an der benötigten Performance – je höher diese sei, desto eher gingen Kunden auf x86-Designs, je niedriger sie sei, eher auf kundenspezifische Designs. Egal, ob ein Unternehmen auf Computermodule nach Standard-Formfaktoren oder auf proprietäre Formfaktoren setzt, die Auftragslage der Branche ist gut und die Aussichten sind sogar noch besser – und das macht Mut für kommende Herausforderungen.


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