Standards am Embedded-Markt

»Skalierbarkeit: ja! – Kompromisse: nein!«

6. Juni 2023, 8:30 Uhr | Tobias Schlichtmeier
Marcus Lickes ist Teil der Geschäftsführung von Phytec Messtechnik.
© Phytec Messtechnik

Im Interview mit Markt&Technik spricht Marcus Lickes darüber, warum Standards seiner Definition von »Embedded« widersprechen, welche Chancen er dennoch sieht und wohin die Fertigung in Deutschland steuert.

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Markt&Technik: Herr Lickes, wo steht Phytec auf dem Embedded-Markt und wie differenzieren Sie sich?

Marcus Lickes: Der Einsatz von System-on-Modules (SoMs) ist die etablierte Vorgehensweise für die schnelle und effiziente Entwicklung industrieller Serienprodukte. Dass es so kommt, haben wir früh erkannt – und ebenso, dass wir uns global aufstellen müssen, um technologisch führend zu sein und unseren Kunden Top-Qualität zu einem jederzeit wettbewerbsfähigen Preis bieten zu können. Unsere globale Präsenz bildet die Grundlage dafür. Wir haben Schwesterfirmen in den USA, China, Indien und Frankreich. Alle diese Unternehmen werden geführt von Managern aus dem entsprechenden Land, besitzen eine große Eigenständigkeit und sind dennoch fester Teile der Phytec-Gruppe.

Wir pflegen beste Kontakte zu allen wesentlichen Halbleiterherstellern; gerade erst wurden wir zum Platinum-Partner von NXP ernannt und erhalten durch unser Engagement, Know-how und langjährige, vertrauensvolle Zusammenarbeit frühen Zugang zu neuen Technologien. Insbesondere in der kritischen Phase der Bauteilverknappung haben diese Kontakte zusammen mit unserem globalen Einkaufsteam auch dafür gesorgt, dass unsere Kunden ihre Baugruppen bekommen haben. Für viele Kunden ist das ein wichtiger Faktor bei der Auswahl des passenden Partners in einem Projekt, ebenso wie das Produkt- und Leistungsangebot.

Was genau gehört zu Ihrem Leistungsangebot rund um System-on-Modules?

Phytec bietet Lösungen an, komplett aus einer Hand. SoMs sind der Kern dieser Embedded-Komponenten. Fester Bestandteil ist für uns immer ein stabiles und gepflegtes Betriebssystem. Dazu kümmern wir uns um Themen wie Security für Embedded-Systeme, übernehmen CVE-Monitoring, patchen Bugs sowie Security-Issues und noch vieles mehr.

Wenn das Standard-SoM nicht passt, wird auch das passend gemacht – mit kundenspezifischen Bestückungen oder individuell entwickelt. Dabei bleiben die Vorteile vielfach erprobter Designs erhalten, und der Kunde bekommt trotzdem sein »eigenes« Modul. Das ist ein weiteres wichtiges Stichwort und Unterscheidungsmerkmal: Bei all der Arbeit, die wir unseren Kunden sehr gerne abnehmen, behalten sie immer die volle Kontrolle über das, was sie von uns beziehen. Wir nennen das bei Phytec »Besser als selbst gemacht« – und meinen damit, dass der Kunde sich auf seine Kernkompetenz konzentrieren und darauf verlassen kann, dass wir uns auf höchstem Niveau um den Rechenkern und dessen Umfeld kümmern. Das gehört zu unserer täglichen Arbeit und umfasst auch die Produktionsstückliste, ebenso wie die Software. Wenn der Kunde es möchte, wird er in jede Änderung einbezogen; die Beteiligungstiefe kann er dabei auswählen.

Embedded-Komponenten heißt aber auch, dass wir für alle SoMs passende Standard-Single-Board-Computer anbieten, mit serienoptimierten Designs und ideal für die schnelle Entwicklung von Funktionsmustern oder direkt in der Serie einsetzbar. Einige Varianten gibt es auch mit Gehäuse und damit als Komplettgeräte, die OEM-Kunden direkt mit ihrer Applikation weiterverkaufen oder individuell angepasst erhalten können. Außerdem bieten wir Software und Dienstleistungen rund um unsere Systeme an – vom Update- und Device-Management bis zu Embedded-Vision-Lösungen inklusive Optikmontage und Bildverarbeitung auf den Systemen.

Zu guter Letzt entwickeln wir auch für viele Kunden maßgeschneiderte Komplettgeräte, die wir ebenfalls bei uns im Haus produzieren und montieren. Der Kunde hat die freie Wahl, wie viel Arbeit wir ihm abnehmen dürfen.

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Phytec-Technologie-Campus
Der im Jahr 2021 nach ökologischen Richtlinien erbaute Phytec-Technologie-Campus in Mainz-Hechtsheim bietet rund 10.000 m2 Büro- und Produktionsfläche. Eine Erweiterung ist bereits vorgesehen.
© Phytec Messtechnik

Wie steht Phytec zu Standards im Embedded-Bereich? Setzt Phytec eher auf Standard-Formfaktoren oder auf proprietäre Formfaktoren?

Das ist ein sehr interessanter Punkt, der durch die extrem angespannte Situation auf dem Bauteilmarkt, besonders im letzten Jahr, wieder an Aktualität gewonnen hat. Die ernüchternde Erkenntnis für viele Unternehmen war allerdings, dass die anderen potenziellen Lieferanten auch nicht liefern konnten. Wenn Bauteile am Markt generell nicht verfügbar sind, helfen auch Standards und Second oder Third Sources nicht.  Gewonnen haben in der Phase nicht die, die Standardmodule im Programm hatten, sondern die, die Bauteile beschaffen konnten. In dieser Situation haben wir in besonderem Maße von unserem global tätigen Einkaufsteam profitiert und waren so in der Lage, alle Kunden zu beliefern – wenngleich auch teils mit Verschiebungen. Um das zu untermauern: Im kritischen Jahr 2022 haben wir 17 Prozent mehr Baugruppen ausgeliefert als 2021.

Im Allgemeinen ist unsere Devise: »Skalierbarkeit: ja! – Kompromisse: nein!« Viele unserer Kunden denken in Plattformen für ihre Hardware und Software. SoMs mit gleichem Footprint für Prozessoren mit ähnlichem Feature-Set, aber unterschiedlicher Rechen- und Grafikleistung ermöglichen genau das. Wir haben gerade einen regelrechten Ansturm auf die phyCore-SoMs mit NXPs i.MX 6UL, i.MX 93 sowie dem STM32MP13 von STMicroelectronics. Die Lötmodule sind pinkompatibel und ermöglichen durch unterschiedliche Leistung und Preise skalierbare Produktserien oder Upgrades im Lebenszyklus. Solche Plattformen stellen unserer Meinung nach einen großen Vorteil für Kunden dar.

Generell stehen die aktuellen Ansätze für Standards im Embedded-Bereich für uns leider oft im Gegensatz zu unserem Verständnis von Embedded: Dabei geht es ja darum, perfekt angepasste Lösungen für die spezifische Anwendung zu schaffen, Funktionalitäten der Prozessoren optimal auszunutzen, und all das im kleinstmöglichen Format. Standards dürfen nun nicht bedeuten, das Feature-Set zugunsten der Kompatibilität zu beschneiden. Bei hochspezialisierten Arm-Prozessoren ist das häufig verbunden mit dem Verlust genau der Features, die eine bestimmte CPU für die eigene Anwendung besonders interessant machen. Außerdem sind viele Standardmodule durch den festgelegten Formfaktor und das festgelegte Pinout größer, als sie eigentlich sein müssten.

Beteiligt sich Phytec denn an der Standardisierung?

Ja – wir sind absolut offen für Standards, die der stark ausgeprägten Diversifikation von Embedded-Prozessoren auf Arm-Basis Rechnung tragen. Trotz allen gegebenen Hürden im Bereich der universellen Austauschbarkeit können Standards eine gute gemeinsame Basis für neue Technologien bieten – wie beispielsweise für eine robuste und zuverlässige Löttechnologie von Modulen. Aus diesem Grund sind wir mittlerweile auch Mitglied in der SGeT und beteiligen uns gerne an der Ausarbeitung von Standards.

Wie ist Ihre Einschätzung zum OSM-Standard?

In den mehr als 35 Jahren, die wir Embedded-Elektroniken entwickeln, haben wir für uns interne Designregeln und Standards aufgebaut. Sie stellen sicher, dass unsere Produkte für die uneingeschränkte Nutzung aller Schnittstellen und Features optimiert sind, maximale Robustheit und bestes EMV-Verhalten bieten. Gleichzeitig legen wir alle Module für die niedrigstmögliche Layout-Komplexität aufseiten des Carrierboards unserer Kunden aus. Der OSM-Standard war zum Zeitpunkt unseres Beitritts zu SGeT bereits so weit definiert, dass wir diese Erfahrungen nicht mehr einbringen konnten, und ist in relevanten Bereichen aus unserer Sicht schwächer ausgelegt als unsere eigenen Designregeln. Zudem zielt er auf eine breit angelegte Kompatibilität von Modulen mit unterschiedlichen Prozessoren und Controllern ab, die für uns – wie geschildert – zu viele Kompromisse nach sich zieht. Beides hält uns bislang davon ab, Module nach OSM zu fertigen. Wie gesagt bringen wir unsere Erfahrungen aber gerne ein, um künftige Standards mitzuentwickeln.

Produktpalette der Phytec-Embedded-Komponenten
Die Produktpalette der Phytec-Embedded-Komponenten reicht von System on Modules und Single Board Computern bis hin zu Komplettlösungen für spezifische Anwendungen, inklusive Software, Gehäuse und Montage.
© Phytec Messtechnik

Was macht Phytec im Sinne der Nachhaltigkeit bezogen auf Lieferkette, Energieerzeugung, Produktion, Auftragsfertiger etc.?

Unsere Produkte waren schon immer nachhaltig. Unsere Designs sind immer auf Langlebigkeit ausgelegt und nicht selten zehn Jahre und mehr im Einsatz. Künftig wird es natürlich etwas mehr als nur eine robuste Hardware brauchen, um das zu erreichen. Während in der Vergangenheit Systeme einmal ins Feld gebracht wurden und danach einfach unverändert über Jahre liefen, wird es in den meisten Fällen erforderlich sein, mindestens die Software zu pflegen und Sicherheitslücken zu schließen. Hier haben wir mit unserem Software-Lifecycle-Management ein Angebot geschaffen, das dies deutlich erleichtert. Nightly Builds der Kundensoftware und automatisierte Tests in unserer Testfarm sorgen dafür, dass Kunden jederzeit einen funktionsfähigen Stand basierend auf den aktuellsten Softwarepaketen zur Verfügung haben. Das ebenfalls angebotene CVE-Monitoring zeigt auf, wann der Zeitpunkt gekommen ist, sich mit den Geräten im Feld zu beschäftigen und eine neue Softwareversion auszurollen.

Außerdem bieten wir Unterstützung, um Systeme möglichst energiesparend betreiben zu können – von der Auswahl der entsprechenden Prozessoren und Komponenten bis hin zur Optimierung der Applikationssoftware. Zusammen mit Langzeitverfügbarkeit und Upgrade-Möglichkeiten möchten wir dazu beitragen, dass Elektroniken möglichst lang eingesetzt werden können, trotz immer schnellerer Entwicklungszyklen.

Mit dem neu erbauten Phytec-Technologie-Campus in Mainz haben wir außerdem die Grundlage gelegt, mit minimalem Verbrauch von Energie und Ressourcen Elektronik zu entwickeln und zu produzieren. Gleichzeitig sehen wir insbesondere bei der Herstellung noch großes Potenzial, zum Beispiel mit additiven Fertigungstechnologien. Wir arbeiten aktiv daran, hier immer neue und noch umwelt- und ressourcenschonendere Lösungen und Verfahren zu entwickeln.

Wie sieht es im Bereich Software aus? Welche Strategie verfolgt Phytec – insbesondere auch im Hinblick auf KI-Applikationen?

Wir unterstützen Kunden mit angepassten Board-Support-Packages und einem umfassenden Angebot an Infrastruktur und Middleware – ob für Softwarepflege, Cloud-Integration, Security, Device-Management oder für Spezialthemen wie Sprachsteuerung. Dabei verfolgen wir eine klare Strategie: Vorleistungen, die für den größten Teil unserer Kunden relevant sind, machen wir zum Kern-Know-how der Phytec. Das gilt für Software ebenso wie im Hardware-Bereich – und sorgt dafür, dass wir für die Qualität unserer Embedded-Komponenten geradestehen. Weitere Vorleistungen, die für viele Kunden interessant sind, bedienen wir über Partnerschaften mit führenden Unternehmen der entsprechenden Bereiche.

Was KI betrifft, haben wir schon vor einigen Jahren eine eigene Data-Science-Abteilung aufgebaut. Wir beherrschen die für KI-Anwendungen verwendeten Prozessoren und Toolchains und beraten unsere Kunden zur Strategie für den Einsatz künstlicher Intelligenz. KI-Anwendungen setzen häufig auf Kameras als Sensoren. Das passt ideal zu Phytec, weil wir für Embedded Vision und Bildverarbeitung ja bereits seit über 30 Jahren eine eigene Abteilung und umfangreiches Know-how im Haus haben.

Phytec fertigt Elektroniken am Standort in Mainz. Sehen Sie allgemein, dass die Fertigung in Europa wieder interessant wird?

Ich glaube, die Fertigung in Europa war nie uninteressant. Natürlich sind die Lohnkosten in Europa höher, ebenso die Energiekosten; der Fachkräftemangel macht es auch nicht einfacher. Aber mit qualifizierten Mitarbeitenden, die auch langfristig dem Unternehmen treu bleiben, effizienten Prozessen und der passenden Produktionstechnologie ist eine wirtschaftliche Fertigung auch in Deutschland möglich. Unsere Räumlichkeiten am neuen Standort in Mainz sind so ausgelegt, dass die Produktion weiter wachsen kann. Auch unsere Kunden schätzen es sehr, dass die Produkte nicht nur in Deutschland entwickelt, sondern auch gefertigt werden; für viele ist das sogar ein Auswahlkriterium.

Für Kunden mit Umsatzschwerpunkt in USA oder China bieten wir bei entsprechenden Stückzahlen aber auch eine Produktion bei einem von uns zertifizierten Lohnbestücker vor Ort an.

Was denkt Phytec über den EU Chips Act? Hilft er deutschen Unternehmen?

Der EU Chips Act ist ohne Frage eine sehr sinnvolle Maßnahme, die jetzt schnell umgesetzt werden muss – ich hoffe, dass uns die Bürokratie dabei nicht im Wege steht. Dennoch wird der Chips Act die Abhängigkeit Europas nicht über Nacht auflösen können, wenn die Patente für Produkte europäischer Unternehmen in den USA liegen und nur Fabs in China und Taiwan überhaupt in der Lage sind, mit entsprechenden Technologien zu fertigen. Die Globalisierung lässt sich nicht zurückdrehen. Unser Ziel sollte die Gestaltung einer fairen Handelsbeziehung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe sein. Ich hoffe, der EU Chips Act ist dafür ein Anfang.

Zum Abschluss noch eine Frage zu Ihrer neuen Position, Herr Lickes: Wo sehen Sie Ihre Schwerpunkte als Geschäftsführer der Phytec?

Michael Mitezki, Bodo Huber und ich werden das Wachstum der Phytec gemeinsam voranbringen und die strategische Ausrichtung weiterentwickeln. Dafür haben wir bereits in meiner Zeit als Leiter der Abteilung für Forschung und Entwicklung und Mitglied des Lenkungskreises eng zusammengearbeitet. Künftig konzentriere ich mich nun ganz auf diese Themen, insbesondere im operativen Bereich.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lickes.


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