Entwicklung von Medizinrobotik

Mit Kollege Roboter erfolgreich im OP

10. Juni 2024, 15:32 Uhr | Dr. Klemens M. Thaler, TÜV Süd

Roboter sind als Operateure gefragt. Präzise entfernen sie bereits Karzinome und haben wortwörtlich den Patienten im Blick. Welche rechtlichen Vorgaben für Entwickler und Hersteller gelten, definieren die MDR oder die IEC 80601-2-77. Worauf genau müssen Entwickler für Medizinrobotik dabei achten?

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Komplikationen im OP sind keine Seltenheit, die Bedingungen für Chirurgen und Operateure sind anspruchsvoll: Sie müssen unter hohem Druck wichtige Entscheidungen treffen, über einen langen Zeitraum Konzentration und Feinmotorik aufrechterhalten. Laut offizieller Statistik der Gutachterkommission und der Schlichtungsstellen der Bundesärztekammer gab es im Jahr 2022 rund 2.300 neue Schlichtungsanträge, die operative Behandlungsmethoden betrafen. Zwar ist die Zahl der Anträge um 30 Prozent niedriger als 2021 und im Verhältnis zu den 2022 deutschlandweit durchgeführten 16 Millionen Operationen sehr klein – eine Dunkelziffer von nicht bemerkten oder nicht angezeigten Fehlern dürfte es aber genauso geben wie beträchtliche Einschnitte in die Lebensqualität und Lebenserwartung der betroffenen Patientinnen und Patienten.

Mit Robotik gegen Fehler in der Chirurgie

Chirurgische Roboter können die Qualität von Eingriffen deutlich verbessern und die Sicherheit erhöhen. Sie erleichtern den Operateuren die Arbeit und schonen diese körperlich, sodass die Konzentration aufs Wesentliche leichter fällt. So können gegebenenfalls mehr Operationen auf einem hohen Qualitätsniveau stattfinden.

Ein Schlüssel zum Erfolg liegt in der Ausdauer der Roboter: Anders als menschliche Operateure können sie über Stunden eine stabile Position einhalten. Sie ermüden nicht, beginnen nicht zu zittern und ihre Konzentration lässt nicht nach. Deswegen kommen sie immer häufiger zum Einsatz, insbesondere bei Operationen am Gehirn. Ihre Fähigkeit, auf den Millimeter präzise zu schneiden, minimiert die Verletzungen bei einer Operation. Das führt zur besseren und schnelleren Heilung und damit auch zu weniger langen Verweildauern in den Kliniken. Dies wiederum reduziert beispielsweise die Gefahr einer Infektion mit Krankenhauskeimen und fördert zudem indirekt die Verfügbarkeit medizinischer Versorgung.

Telechirurgie in der Praxis
Bislang finden die meisten Operationen statt, während Roboter und Chirurg am selben Ort sind. Eine der wenigen öffentlich bekannten Operationen, die über größere Distanz ausgeführt wurden, ist die sogenannte »Operation Lindbergh«. Bei der remote über den Atlantik durchgeführten OP entfernte ein Arzt in den USA einer Patientin in Frankreich die Gallenblase. Doch Technisierung und Digitalisierung schreiten voran, für künftige Marsmissionen hat die NASA erste Operationen an künstlichem Gewebe auf der ISS durchgeführt.

Roboter als Hilfsmittel für Ärzte

Trotz des Vormarschs künstlicher Intelligenz ist wichtig zu betonen: Roboter arbeiten im Operationssaal nicht allein. Sie sind ein technisches Hilfsmittel und werden von Menschen bedient. Die Operateure führen die mechanischen Greifarme und können sich selbst dabei in eine bequeme Haltung begeben, um über einen längeren Zeitraum konzentriert und kräfteschonend zu arbeiten. Dabei orientieren sie sich an der dreidimensionalen Darstellung des Eingriffsgebiets und können über Vergrößerungen teils deutlich besser und präziser sehen und arbeiten.

Der robotische Operateur ist das technische Hilfsmittel des Chirurgen, ersetzt ihn aber nicht. Die Informationsübertragung erfolgt wechselseitig und muss fehlerfrei sein
Der robotische Operateur ist das technische Hilfsmittel des Chirurgen, ersetzt ihn aber nicht. Die Informationsübertragung erfolgt wechselseitig und muss fehlerfrei sein.
© TÜV Süd

Auch ist es möglich, Bewegungsabläufe so zu kalibrieren, dass selbst kleinste Bewegungen möglich sind. Ein Beispiel: Die Steuerungseinrichtung eines Roboterarms kann so eingerichtet werden, dass eine Bewegung um einen Zentimeter mit der Hand des Operateurs einem Millimeter am Patienten entspricht.

Experten operieren aus der Ferne

Über die Schnittstelle steuert der Chirurg die Roboterarme. Er profitiert von der ergonomischen Freiheit und kann länger konzentriert arbeiten
Über die Schnittstelle steuert der Chirurg die Roboterarme. Er profitiert von der ergonomischen Freiheit und kann länger konzentriert arbeiten.
© TÜV Süd

Ausdauer und Präzision sind aber nicht die einzigen Argumente für Roboterunterstützung: Sie eröffnet auch neue Optionen in der Chirurgie. So müssen Spezialisten, die an anderen Orten, manchmal sogar auf anderen Kontinenten sitzen, nicht mehr einfliegen oder umgekehrt Patienten an deren Arbeitsort gebracht werden – was einen hohen Zeitaufwand und für die Patienten teils ein erhöhtes Risiko bedeutet. Die so genannte Telechirurgie erlaubt es, diese Eingriffe aus der Ferne durchzuführen. Dabei arbeiten die maschinellen Helfer sehr detailgetreu. Sie geben den Operateuren selbst Informationen wie Hautwiderstand und Gewebebeschaffenheit genau wieder. Durch Steuerungsmodule, die ähnlich wie Operationsinstrumente zu greifen sind, entsteht der Eindruck einer herkömmlichen Operation am Patienten.

Die Herausforderungen für Mensch und Maschine sind dennoch hoch: Die Robotertechnik darf im oftmals sehr eng begrenzten Eingriffsbereich keine zu schnellen Positionsveränderungen vollführen und sollte so dimensioniert sein, dass sie ihre Position flexibel ändern kann. Antriebe mit moderatem Drehmoment und Force Feedback tragen zu einem hohen Maß an Kontrolle bei und ermöglichen, die Kraft des Roboters reguliert am Patienten einzusetzen.

Programmierung und Training wichtig

Relevant ist auch, wie die Schnittstelle zur Maschine programmiert und gestaltet ist. Nur wenn die Informationsübertragung zwischen Chirurg und Roboter fehlerfrei ist, gelingt die robotergestützte OP. Trotz modernster Technologien sind Operationen ohne Beteiligung von dafür ausgebildeten Menschen derzeit nicht vorstellbar. Da aktuell keine vollautomatischen Eingriffe angestrebt werden, sind umfangreiche Schulungsangebote für angehende und praktizierende Chirurgen wichtig – ebenso wie Maßnahmen, die der Sicherheit von Mensch und Maschine dienen. Nur so lassen sich Risiken früh erkennen und Bedienungsfehler vermeiden. Bis zum ersten Einsatz am Patienten brauchen selbst erfahrene Chirurgen Monate oder Jahre der Übung mit den neuen technischen Kollegen. Den Schulungsumfang legen die Hersteller selbst fest. In manchen Fällen sind 250 Trainingseinheiten vorgeschrieben.

Die Rechtsgrundlage

Chirurgische Roboter halten auch über lange Zeiträume eine stabile Position und arbeiten hochpräzise
Chirurgische Roboter halten auch über lange Zeiträume eine stabile Position und arbeiten hochpräzise.
© TÜV Süd

Obwohl der Einsatz robotergestützter Chirurgie noch recht neu ist, setzt die Medizinbranche enge Vorgaben. Zu Design, Herstellung, Inverkehrbringen und Verwendung von Medizingeräten stellt die Medical Device Regulation (MDR) EU-weit eine Reihe von sicherheitsrelevanten Anforderungen.

Die Norm IEC 80601-2-77 geht noch etwas weiter und nimmt explizit bei Operationen verwendete Medizinroboter in den Blick. Im Fokus steht zum Beispiel die Steuerung der Roboter durch die Operateure. Ein wichtiges Sicherheitstool ist der automatische Stopp, der einsetzt, sobald etwas zwischen Kamera und Patient gerät und die Sicht einschränkt. Ebenso muss ein Notstopp vorhanden sein, der in kritischen Situationen betätigt wird. Außerdem definiert IEC 80601-2-77 Sicherheitsrisiken in der Datenübertragung zwischen Roboter und Chirurg. Die Steuerungsvorgaben der Operateure müssen in Zielrichtung und Geschwindigkeit vom Roboter genau ausgeführt werden, um die Sicherheit und Unversehrtheit der Patienten zu gewährleisten.

Cybersecurity und weitere Services

Prüfdienstleister bieten zudem oftmals eigene Trainings und Workshop-Formate für die Arbeit mit medizinischen Robotern. Die aktuelle Rechtslage dient dabei stets als Orientierung. Für Nutzer sowie Inverkehrbringer der Technologien gibt es oftmals spezifische Angebote. Ein Thema dabei ist zum Beispiel die Sicherheit gegenüber gezielten Hackerangriffen oder willkürlichem Datenverlust. Schon während ein Produkt entwickelt wird, kann es mit dem so genannten Early Bird Assessment auf Schwierigkeiten untersucht werden. Das vermeidet kostenintensive Korrekturen im Nachgang.

Vor der Zulassung kann mithilfe der externen Experten auch überprüft werden, wie die robotischen Helfer am Patienten agieren. Der TÜV Süd in München verfügt beispielsweise über ein eigens dafür eingerichtetes Testlabor. Dort können Hersteller und Entwickler mögliche Fehlfunktionen und die Arbeit unter herausfordernden OP-Umständen realitätsnah testen. So sammeln sie Praxiserfahrung und bekommen valides Feedback, bevor die robotischen Helfer zur Zulassung und zum Einsatz am Patienten kommen. (uh)


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