Weich, mitlernend und personalisiert

Ein Roboter zum Anziehen: Smarter Exosuit gegen Muskelschwäche

25. August 2025, 10:28 Uhr | Ute Häußler
Ein selbstaufblasender Ballon unter der Achsel hilft u.a. den Arm zu heben.
© Harvard SEAS

Mit Sensoren und Algorithmen passt ein Harvard-Exosuit seine Funktion in Echtzeit an die Bewegungsmuster von Patienten an. Die adaptive Technik aus weichen, textilen Materialen soll Schlaganfall-, ALS- oder Parkinson-Patienten sowie älteren Menschen im Alltag helfen, beweglich zu bleiben.

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Exoskelette und tragbare Robotik verspricht in der Medizintechnik sowohl Hilfe für Patienten mit neurologischen oder muskulären Einschränkungen, aber auch Entlastung für Pflegekräfte und Support in der Rehabilitation. Ein aktuelles Projekt der Harvard School of Engineering and Applied Sciences (SEAS) geht nun einen entscheidenden Schritt weiter: Erstmals wurde ein weiches Exosuit entwickelt, das seinen Nutzern »zuhört« und mitlernt – es passt sich die individuellen Bewegungsmuster an.

Weicher Exosuit mit umfassender Sensorik

Der Exosuit unterscheidet sich von bisherigen Exoskeletten, die zumeist auf starre, voreingestellte Bewegungsprofile setzen und für den einzelnen Patienten aufwendig kalibriert werden müssen. Im Gegensatz dazu führt das Harvard-Team ein lernendes Steuerungssystem ein:

  • Sensorik erfasst die Schrittbewegungen des Trägers kontinuierlich.
  • Ein Algorithmus des maschinellen Lernens berechnet in Echtzeit den individuellen Energieaufwand.
  • Auf dieser Basis wird die Unterstützung der Exosuit-Aktoren dynamisch angepasst.

Indem das System optimalen Antriebszeitpunkt und dessen Intensität selbstständig ermittelt, soll es die Bewegungen und der Gang der Patienten effizienter machen. 

»Jeder Mensch bewegt sich anders. Unser Ansatz ermöglicht es, dass die Technik diese Unterschiede erkennt und berücksichtigt, anstatt starre Muster vorzugeben«, erklärt Studienleiter Conor Walsh, Professor für Ingenieurwissenschaften an der SEAS und international anerkannter Experte für portable Robotik.

ALS, Schlaganfall: Von der Forschung in die Klinik

Bereits in frühen Tests mit gesunden Probanden zeigte sich, dass das lernfähige Exosuit die Energieeffizienz beim Gehen erhöhen kann. Besonders interessant wird dies für medizinische Anwendungen:

Bei Schlaganfallpatienten, deren Gangbild häufig asymmetrisch ist, nimmt das System individuelle Unterschiede auf und verfeinert seine Unterstützung über viele Trainingseinheiten hinweg. Auch bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Multipler Sklerose könnte eine adaptive Unterstützung Beschwerden lindern und die Beweglichkeit der Patienten länger erhalten. Unter dieser Prämisse stellen die Exosuits auch in der Altersmedizin eine mögliche Antwort auf den zunehmenden Verlust an Mobilität und Selbstständigkeit älterer Menschen dar.

Eine Besonderheit des Harvard-Systems liegt in der weichen Bauweise (»soft robotics«). Das Exosuit besteht überwiegend aus textilen Materialien, die um die Hüfte und die Beine getragen werden. Im Unterschied zu harten Exoskeletten erlaubt dies hohe Bewegungsfreiheit und Tragekomfort. Für den klinischen Einsatz ist genau dies entscheidend, um Akzeptanz und Langzeitnutzung sicherzustellen.

A soft robotic shirt form Harvard University should help ALS- und other Neuro Patients to better move and go.
Prabhat Pathak und James Arnold demonstrieren das tragbare Robotergerät im Labor.
© Harvard SEAS

Personalisierte Robotik: Perspektiven und Potenzial

Walsh und sein Team forschen seit mehr als einem Jahrzehnt an den textil-basierten Exosuits. Die nächsten Forschungsschritte sollen klinische Studien mit Reha-Patienten, die technische Validierung in Langzeitanwendungen und die Integration in Physiotherapien umfassen.

Für die Medizintechnik-Branche könnten sich aus der Hyper-Individualisierung sogar  neue Geschäftsmodelle entwickeln: Denn Geräte, die sich selbstständig kalibrieren, senken Schulungsaufwand und Servicekosten. Gleichzeitig erleichtern weiche, komfortable Systeme den klinischen Einstieg und erhöhen die Akzeptanz beim Patienten. In der Forschung wird die Schnittstelle von Robotik, Sensorik und KI zu einem wichtigen Impuls und Feld für interdisziplinäre Kooperation.

Das SEAS-Projekt verweist auf eine Entwicklungsrichtung, die in der Medizintechnik zunehmend Gewicht erhält: die personalisierte Robotik. Ähnlich wie in der Arzneimitteltherapie zunehmend personalisierte Strategien an Bedeutung gewinnen, wird auch in der Rehabilitation verstärkt auf individuelle Anpassung gesetzt. Das Harvard-Team hat mit seinem Exosuit einen ersten Benchmarkt gesetzt und zeigt, wie die tragbare Robotik der Zukunft aussehen kann. 


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