Die Herzvorsorge steckt mitten im technologischen Umbruch. Obwohl Todesursache Nummer Eins, werden viele Herzkrankheiten oft erst sehr spät erkannt. Eine neue dreidimensionale EKG-Methode soll jetzt eine frühzeitigere Prävention und gezieltere Therapien ermöglichen.
Herzkrankheiten sind die Todesursache Nummer Eins in Deutschland. Besonders tückisch: Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten häufig asymptomatisch auf. Betroffene merken erst sehr spät oder gar nicht, dass ihr Herz nicht gesund ist. So ist der Herzinfarkt meist das erste und leider oft tödliche Symptom einer fortgeschrittenen Herzkrankheit. Doch auch bei einem vermeintlich glimpflichen Verlauf hinterlässt der Infarkt in den meisten Fällen große Schäden am Herzmuskel. All das ist mit der richtigen Prävention und rechtzeitigen Gegenmaßnahmen eigentlich gut zu verhindern.
Das Problem: Herzkrankheiten sind oft nicht einfach zu diagnostizieren. Für die nicht-invasive Diagnose von Herzkrankheiten hat sich das EKG als Standardmethode etabliert. Das EKG misst die elektrische Aktivität der Herzmuskulatur. Diese kann, vereinfacht gesagt, als simpler Dipol-Vektor dargestellt werden, welcher mit jedem Schlag seine Richtung ändert. Durch die De- und Repolarisierung, so der Name für die Ausbreitung, entsteht das typische Muster, in welchem Anomalien wie Herzrhythmusstörungen oder akute Herzprobleme diagnostiziert werden können.
Doch das EKG hat auch seine Limitationen, besonders bei der Erkennung von ischämischen Erkrankungen wie koronaren Herzkrankheiten (KHK) oder Herzkranzgefäßverengungen. Das Problem liegt vor allem an der technischen Herangehensweise des EKG. Dieses misst die elektrische Ausbreitung des Herzmuskels an der Brustoberfläche, und damit nur die Projektion des Dipol-Vektors auf die Brustoberfläche. Die elektrische Aktivität des Herzens findet jedoch im dreidimensionalen Raum statt. So wird ein dreidimensionaler Prozess auf eine zweidimensionale Messung projiziert, was unweigerlich zu Informationsverlusten führt. Ähnlich wie ein Globus, dessen Inhalte auf eine zweidimensionale Weltkarte übertragen werden, führt auch die Messung durch das EKG zu Verzerrungen. Die Folge: das Verfahren weist besonders bei der Erkennung ischämischer Herzkrankheiten eine niedrige Sensitivität auf und viele Ischämien bleiben unerkannt.
Unsere Lese-Empfehlungen zur Herzgesundheit |
---|
Digitale Zwillinge in der Medizin - Das Herz schlägt virtuell |
Kardio-Diagnostik per Pupillometrie - Blick in die Augen zeigt Herzprobleme |
Dieses Mismatch in der Diagnostik von Herzerkrankungen war der ausschlaggebende Faktor für die Entwicklung der Cardisiographie, einer innovativen Methode zur Früherkennung von Herzkrankheiten. Bei der Cardisiographie wird ebenso die elektrische Ausbreitung des Herzmuskels vermessen. Doch eine zusätzliche Elektrode am Rücken ermöglicht eine dreidimensionale Darstellung, die den realen Prozess wesentlich präziser darstellt. Aus diesem Grund wird das Verfahren auch als 3D-Vektor-EKG bezeichnet. Die gesammelten Daten sind allerdings sehr komplex. Daher werden sie in einem Rechenzentrum mithilfe von Machine Learning ausgewertet, verständlich aufbereitet und an die Ärzte zurückgeschickt. So können pathologische Muster und Hinweise auf ischämische Herzkrankheiten frühzeitig, schnell und nicht-invasiv entdeckt werden.
Die Cardisiographie wurde von dem Arzt Prof. Gero Tenderich und dem IT-Experten Meik Baumeister ins Leben gerufen. Tenderich sah in dem Verfahren der Vektorkardiographie, die der Cardisiographie zugrunde liegt, bereits seit Jahrzehnten großes Potenzial. Die komplexe Auswertung der Daten verhinderte allerdings den flächendeckenden Siegeszug der Methode – bis er mit Meik Baumeister das damalige Start-Up Cardisio gründete. Baumeister hatte die Tücken einer unerkannten Herzkrankheit am eigenen Leib erlebt, als er mit Anfang 30 scheinbar aus dem Nichts einen Herzinfarkt erlitt. Gemeinsam mit dem technischen Kopf, Thomas Fechner, stellten sie ein Team zusammen und entwickelten die Cardisiographie. Mit dem Helmholtz-Instituts für Biomedizinische Technik (RWTH Aachen) kreierten sie einen ersten Prototypen. Nach ersten vielversprechenden Ergebnissen zeigte sich allerdings, dass eine einfache Regression, also der lineare Zusammenhang zwischen zwei Punkten, nicht ausreicht, um den Gesundheitszustand eines Herzens zu messen.
So wurde das Team um Elektrotechniker, IT-Experten, Mathematiker und Machine-Learning-Fachleute erweitert und ein Supervised Machine Learning Algorithmus entwickelt. Die Lösung fußt dabei nicht auf einer monolithischen Architektur, sondern nutzt Microservices, die miteinander kommunizieren. Sie erlauben es, den Algorithmus, die App und den Cardisiograph unabhängig voneinander weiterzuentwickeln, ohne, dass die anderen Komponenten beeinträchtigt werden oder es zu ungewollten Wechselwirkungen kommt. Zudem bietet die Microservice-Architektur die Möglichkeit, alle Prozesse direkt in der Cloud laufen zu lassen, sodass in Zukunft Public Clouds wie AWS oder Microsoft Azure für den Betrieb genutzt werden können.
Doch bevor es zum finalen Launch kam, mussten noch einige Hürden gemeistert werden. Da es sich bei der Cardisiographie um ein Medizinprodukt handelt, gelten in diesem Fall besonders strenge regulatorische Vorgaben und Compliance-Richtlinien.
Für die Cardisiographie ist vor allem die EU-Medizinprodukteverordnung EU/2017/745 (kurz: MDR) von Bedeutung. Diese ersetzte die Medical Device Directive (kurz MDD) im Mai 2021 und sieht strengere Vorgaben für Medizinprodukte vor, die als Entscheidungshilfe für Diagnosen dienen. So wird ein Qualitätsmanagementsystem (QMS) verpflichtend, welches durch eine Benannte Stelle zertifiziert werden muss. Zudem muss eine vollständige technische Dokumentation nach MDR-Standards erfolgen. Ein solches MDR-Zertifikat gilt in der Regel für drei Jahre und die Einhaltung der Regularien wird durch die Benannte Stelle einmal im Jahr überprüft. Neben der europaweit geltenden MDR-Richtlinie können einzelne EU-Mitgliedsstaaten darüber hinaus eigene Vorgaben machen, beispielsweise in der Regelung von Rückrufaktionen. Dies muss zusätzlich beachtet werden, wenn neue Märkte innerhalb der EU erschlossen werden. Für Zielmärkte darüber hinaus (z.B. USA oder UK) gelten noch einmal ganz andere Vorgaben, die erfüllt werden müssen.
Doch nicht nur regulatorischen Standards muss die Cardisiographie nachkommen, auch technische Herausforderungen gilt es zu meistern. Allen voran muss ein Höchstmaß an Datensicherheit garantiert werden. Um dies zu gewährleisten, braucht es zunächst die richtige Infrastruktur. Das heißt, es dürfen nur so viele Endpunkte wie nötig existieren, die Hacker als Einfallstor nutzen könnten. Darüber hinaus dürfen von Anfang an nur so viele Patientendaten wie unbedingt notwendig verarbeitet werden. Das bedeutet im konkreten Fall der Cardisiographie, dass Namen oder andere persönliche Informationen nicht gespeichert werden. Nur relevante Daten wie Gewicht, Alter, Geschlecht oder Größe werden genutzt. Doch auch diese Daten müssen gut geschützt werden. Dafür braucht es die richtigen Cybersecurity-Maßnahmen, u.A. regelmäßige Pentests, die unbekannte Schwachstellen aufdecken.
2019 wurde die Cardisiographie als Basisprodukt fertiggestellt und als Medizinprodukt zugelassen. Im Jahr 2020 wurde das Produkt dann in einer Launch and Learn Phase bei Pilotanwender:innen erstmalig ausgiebig getestet. Der offizielle Markteintritt erfolgte, verzögert durch die Covid-19 Pandemie, im Jahr 2022. Während der Entwicklung kooperierte das Unternehmen mit der Universitätsklinik in Heidelberg, dem Herzzentrum Bad Oeynhausen und ersten Hausärzteverbänden. Weitere Studien tragen dazu bei, die Cardisiographie kontinuierlich zu testen und zu verbessern.
Inzwischen zahlen nun auch die ersten gesetzlichen Krankenkassen in Kooperation mit dem Hausärzteverband Nordrhein das Herzscreening mittels Cardisiographie. Der Inselstaat Mauritius im Indischen Ozean nimmt eine Vorreiterrolle ein und rollte die Cardisiographie bereits flächendeckend als Präventionsmethode aus. Denn regelmäßige Herzvorsorge ist der beste Weg, um Herzkrankheiten als häufigste Todesursache richtig vorzubeugen. Neue, nicht-invasive E-Health-Verfahren, die günstig, schnell sowie präzise und sicher sind, bilden dabei einen der wichtigsten Grundsteine und die präventiv-angelegte Medizintechnik der Zukunft. (uh)