Editorial der Elektronik Medical 4-2025

Hören wir mit KI auf zu denken?

22. September 2025, 17:34 Uhr | Ute Häußler
Ute Häußler ist die Leitende Redakteurin der Elektronik Medical.
© WFM

»Ich denke, also bin ich« – doch was passiert, wenn wir das Denken der KI überlassen? Ärzte verlieren binnen drei Monaten 20 Prozent ihrer Kompetenz, Junior-Stellen schrumpfen mit KI um 54 Prozent. Werden wir zu abhängigen Gefolgswesen der Algorithmen? Droht sogar das Ende menschlicher Intelligenz?

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»Ich denke, also bin ich« ist einer der wichtigsten Aussprüche der Philosophie und unseres ureigensten Bewusst-Seins als Mensch. Der Satz von René Descartes sagt, dass wir zwar an allem zweifeln können, aber nicht daran, dass wir selbst zweifeln. Das Zweifeln an allem Wahrgenommenen, an allen Empfindungen beweise unweigerlich die Existenz eines denkenden Ichs. Ergo: Würden wir nicht denken, wären wir keine Menschen.

Nicht nur Ärzte verlieren Fähigkeiten durch KI

Hier beginnt das Dilemma: Je mehr der Mensch sich auf Technik verlässt, desto mehr verlernt er das eigene Denken. Es gibt Menschen, die ohne Navigationssystem den Weg nicht mehr finden. Der sogenannte »Google Maps-Effekt«, der auch schon bei Ingenieuren und Piloten nachgewiesen ist, hat jetzt die Medizin erreicht: Eine polnische Studie zeigt, dass Gastroenterologen, die für die Darmkrebsvorsorge mit KI-Systemen arbeiten, nach nur drei Monaten bereits 20 Prozent ihrer Kompetenzen verloren haben. Ohne technische Hilfe bleiben ein Fünftel der gefährlichen Läsionen unentdeckt.

Das sogenannte »Deskilling« durch Künstliche Intelligenz ist gefährlich. Denn so wie ein Pilot ein Flugzeug ohne Autopiloten steuern und landen können muss, so müssen Ärzte auch ohne die Hilfe von KI-Systemen weiterhin korrekte Diagnosen stellen. Ohne das regelmäßige Üben der menschlichen Skills und das nicht-hinterfragte Verlassen auf eine Maschine geht schlicht Erfahrung verloren.

Nachwuchsprobleme aufgrund KI-Nutzung

Diese Erkenntnis dürfte auch bald Unternehmen ereilen, die aufgrund des Fachkräftemangels oder aus Kostengründen Jobs an die KI auslagern. Eine aktuelle Analyse der Jobplattform Indeed zeigt, dass aufgrund der KI-Nutzung die Stellenangebote für Junior-Softwareentwickler aktuell 54 Prozent unter der Anzahl von 2020 liegen, für berufserfahrene Developer beträgt der Rückgang lediglich 15 Prozent.

Doch wer überprüft die Ergebnisse technischer Systeme, schätzt Antworten ein, hakt nach, prüft und hinterfragt? Eine Vielzahl der erfahrensten Mitarbeiter wird in den kommenden Jahren in Rente gehen. Damit die KI weiterhin überwacht werden kann, muss jungen Talenten der Einstieg, das Sammeln eigener Erfahrung, ermöglicht werden. Wie medizinische Leitlinien, Ausbildungen und der klinische Alltag künftig so gestaltet werden müssen, dass sowohl der Nutzen von KI-Systemen beim Patienten ankommt, Ärzte aber auch weiterhin die manuelle Diagnose und ihre »Skills« trainieren, muss Unternehmen der Spagat gelingen, Effizienzgewinne durch KI zu realisieren, ohne dabei den Nachwuchs zu verprellen.

Denken definiert das Menschsein

Die philosophische Frage bleibt: Sobald KI vom Werkzeug zur Leittechnik wird, wäre der Mensch nicht mehr Herr der Maschine, sondern ein abhängiges Gefolgswesen der Algorithmen. Als Gegenbewegung werden auf LinkedIn bereits Zertifikate für »Menschliche Intelligenz« beworben. Wer bestimmte Richtlinien und deren Einhaltung unterschreibt, darf sich mit einem »MI-Siegel« von der Flut an KI-Inhalten abgrenzen. Sie schmunzeln? Der Ansatz erscheint mir relevanter denn je: Denn wenn wir das Denken der KI überlassen, wären wir frei nach Descartes keine Menschen mehr.

Ihre Ute Häußler

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