Smarte Schuhsohle zur MS-Therapie

»Die Analyse wäre mit klassischen klinischen Tools undenkbar«

1. August 2023, 12:16 Uhr | Ute Häußler
Sensorische Hard- und Software der Münchner Tech-Schmiede Moticon wird mit Software der kanadischen Celestra Health zu einem bisher einzigartigen Tracking-Werkzeug für Multiple Sklerose.
© Celestra Health

Sensoren tracken als digitale Biomarker den Krankheitsverlauf von MS-Patienten - als Wearbale dient eine intelligente Sohle im Schuh, die KI-Analyse läuft in der Cloud: Bruce Ford, CEO von Celestra Health, gibt Einblicke in die neue Digital Health-Technologie gegen Multiple Sklerose.

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Ein digitalen Biomarker hilft MS-Patienten, Ärzten sowie Medizinherstellern und Krankenkassen wichtige Krankheitsindikatoren wie Gang und Gleichgewicht im täglichen Leben der Patienten zu überwachen - unauffällig und wenig störend als dünne Einlegesohle im Schuh.

Technologie behält MS im Blick

Celestra Health Systems, ein in Ottawa ansässiges MedTech-Unternehmen, treibt mit diesem Ansatz die Behandlung von Multipler Sklerose (MS) mit Hilfe modernster tragbarer Technologie, Smartphone-App-Software und cloudbasierter künstlicher Intelligenz (KI) voran. In Zukunft sollen nicht nur Patienten mit Multipler Sklerose von den smarten Einlegesohlen als Medizingeräte profitieren - auch für die Überwachung des Fortschreitens weiterer neurologischer Indikationen wie Parkinson ist die neue Technologie geeignet.

Wir sprechen mit Bruce Ford, dem Geschäftsführer von Celestra Health, über die Medizintechnologie zur MS-Therapie und die aus Deutschland stammende Hardware des Müchner DeepTech-Unternehmens Moticon.

Moticon Sportmedizin Digital Schuhsohlenmessung App
Bruce Ford, CEO von Celestra Health, war Senior Manager des NASDAQ notierten Unternehmens CounterPath Technologies, wo er den SaaS-Umsatz in 15 aufeinander folgenden Quartalen um jeweils 30 % steigerte und Partnerschaften in über 30 Ländern aufbaute. Ford bringt zudem Technologie-Expertise aus leitenden Positionen bei Ribbon (ehemals Genband), Nortel und Telstra im Channel und Produkt-Management sowie Marketing und Vertrieb in das MS-Tracking von Celestra Health ein.
© Celestra

Herr Ford, wie kamen Sie auf die Idee, eine Technologie für die Überwachung von Multipler Sklerose zu entwickeln?

Meine Frau ist MS-Neurologin und hat mir immer wieder von den Herausforderungen erzählt, mit denen sowohl Ärzte als auch Patienten bei Multipler Sklerose konfrontiert sind. Mit meinem Technik-Hintergrund wurde uns schnell klar, dass es angesichts der jüngsten Fortschritte bei Wearbales und KI ein großes Potenzial gibt - und es auch machbar sein sollte - einen digitalen Biomarker zu entwickeln, der die Krankheit besser einschätzen und kontrollieren kann. Wir wollten die Therapie und die Lebensqualität der Patienten merklich verbessern.

Welches spezifische MS-Problem adressiert die Technologie?

Viele MS-Betroffene haben neben anderen funktionellen Einschränkungen recht schnell Gehprobleme - gleichzeitig ist dies einer der einschränksten Faktoren von MS und hat den größten Einfluss auf die Lebensqualität. Mit dem Fortschreiten der Krankheit landen die Patienten im Worst Case im Rollstuhl. Unsere Technologie soll diesen Zeitpunkt soweit wie möglich verzögern.

Die smarten Einlegesohlen erfassen genau, welche Aspekte der Gehbewegungen eines Patienten sich ändern - z.B. Gleichgewichtsveränderungen, Unterschiede zwischen den Bewegungen des rechten und linken Beins oder die Steifheit bestimmter Muskeln. Diese objektiven Gesundheitsdaten dienen medizinischem Fachpersonal als Frühwarnsystem für den Krankheitsverlauf. Die Sensordaten helfen bei der Entscheidung über die medikamentöse Behandlung und zur Entwicklung personalisierter Rehabilitationsprogramme sowie der Überprüfung deren Wirksamkeit.

Moticon Sensoren
Moticon ermöglicht mit seiner Sensortechnik aus München kostengünstige biomechanische Analysen für Ärzte und Therapeuten.
© Moticon

Wie wird der Krankheitszustand von MS-Patienten aktuell eingeschätzt und welche Diskrepanz soll die Technik beheben?

Ms-Patienten gehen durchschnittlich ein Mal im halben Jahr, manche auch nur einmal jährlich zum Neurolgen. In diesem Zeitraum kann extrem viel passieren. Für die MS-Neurologen ist es sehr schwierig, den aktuellen Stand der Krankheit inerhalb eines halbstündigen Termins exakt und richtig zu bestimmen. Bei den meisten aktuellen Gehtests - Patienten sollen z.B. so schnell wie möglichen einen Raum durchschreiten - werden weitere wichtige Daten wie Stabilität, Gleichgewicht, Fußschleifen usw. nicht erfasst. Darüber hinaus können gute oder schlechte Tage das Ergebnis um bis zu 20 Prozent verzerren.

Ebenfalls recht häufig werden MRT-Untersuchungen des Gehirns genutzt. Die weißen Läsionen, die auf dem MRT sichtbar sind, entsprechend aber nich direkt den Symptomen, die der Patient im Alltag erlebt. MS-Neurologen benötigen also objektive Daten, die den realen Lebensbedingungen entsprechen. Die Daten müssen für eine hohe Akzeptanz bei den Patienten natürlich unauffällig und bequem zu erfassen sein.

Celestra Health kommt aus dem Software-Bereich, die intelligenten Sohlen beruhen auf neuester MedTech-Hardware in Form von Sensoren. Woher stammt die Expertise?

Unser Produkt basiert auf einem hochspezialisierten Wearbale, den intelligenten Sensorsohlen der deutschen Firma Moticon. Moticon ist ein Deep Tech Unternehmen, das unter höchsten Qualitätsstandards in München produziert. Die smarten Sensorsohlen ähneln äußerlich herkömmlichen Einlegesohlen, die in Apotheken verkauft werden. Sie enthalten jedoch Drucksensoren, Beschleunigungsmesser und eine inertiale Messeinheit (IMU), die Bewegungsdaten erfassen. Diese Daten werden sicher über Bluetooth an die Celestra Health-Smartphone-App übertragen und dann in der Cloud analysiert, wo proprietäre KI-Algorithmen subtile Veränderungen im Gang und Gleichgewicht erkennen. Zusammen werden unsere Technologien zum »Ganglabor im Schuh«.

Erzählen Sie uns bitte mehr zu Ihren spezifischen KI-Algorithmen.

Die KI-Algorithmen, die wir entwickelt haben, basieren auf der Pionierforschung
der University of Ottawa im Bereich der Ganganalyse bei MS. Wir haben bereits eine umfassende Patentanmeldung eingereicht, die mehrere Schlüsselinnovationen umfasst, darunter die Erkennung spezifischer Gangmuster, die bei MS-Patienten häufig auftreten, die automatische Erkennung von unterstützenden Gehhilfen wie Fußorthesen und Gehstöcken sowie die Messung der Auswirkungen von Fatigue. Diese Erfindungen liefern medizinischen Fachleuten sowie den Patienten selbst wertvolle Einblicke in den Zustand der MS-Erkrankung, der mit herkömmlichen klinischen Werkzeugen so nicht darstellbar wäre.

Moticon Sportmedizin Digital Schuhsohlenmessung App
Die Moticon ReGo-Sensorsohlen verfügen über 16 Plantar-Drucksensoren, eine 6-Achsen Intertialmesseinheit (IMU), übertragen Daten kabellos in Echtzeit, ein integriertes USB-C-Ladegerät und intelligente Modi zur Selbstdiagnose des Sensorsystems. Die Sohle lassen sich leicht reinigen und wiederverwerten, sie sind robust für eine lange Lebensdauer gebaut.
© Moticon

Welche Pläne verfolgen Sie mit Celestra Health und den smarten Schuhsohlen im Kampf gegen MS?

Zuerst einmal freuen wir uns riesig über das überwältigende Feedback: Wir haben führende MS-Organisationen und MS-Pharmaunternehmen konsultiert, die sagten, dass sie seit Jahren auf diese Art von Lösung gewartet haben. Und wir wurden beim Digital Health Partnership Award des britischen National Health Services (NHS) unter die letzten Sieben aus über 120 Bewerbern ausgewählt.

Multiple Sklerose ist mit durchschnittlich 70.000 US-Dollar jährlichen Behandlungskosten pro Patient ein sehr großer und spezialisierter Markt. Die geschätzten Lebenszeitkosten von MS betragen 4 Millionen US-Dollar pro Patient, was es zur zweitteuersten chronischen Krankheit in den USA macht. Es ist auch erwähnenswert, dass MS im Gegensatz zu neurologischen Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer, die in den 60er, 70er und 80er Lebensjahren diagnostiziert werden, oft bereits in den 20er Jahren diagnostiziert und dann ein Leben lang behandelt wird.

Aufgrund der erforderlichen Genehmigungen und Zertifizierungen für klinische Studien und Vermarktungsaktivitäten dauert es traditonell etwas länger, ein Gesundheitsprodukt auf den Markt zu bringen. Wir sind daher sehr zufrieden, dass wir jetzt schon ein ein herzeigbares Produkt haben, das bereit für die bevorstehenden klinischen Studien der Phase II ist.

In den nächsten drei Monaten planen wir, uns von unserem Investor Wesley Clover abzuspalten, was mit dem Start unserer Seed-Investitionsrunde zusammenfällt. Außerdem planen wir den Beginn unserer multizentrischen Phase-II-Studie mit Patienten in Ottawa. Wir rechnen auch mit den ersten Einnahmen für eine bezahlte Studie in Großbritannien. Und schließlich bewerben wir uns um einen großen mehrjährigen Zuschuss der International Progressive MS Alliance.

Im Jahr 2024 wollen wir unser Produkt in den USA und Großbritannien auf den Markt bringen. Wir haben auch Partner in Deutschland und Frankreich, so dass es für uns ein natürlicher nächster Schritt wäre, weiter in diese Länder zu expandieren. Unsere jüngste Patentanmeldung wurde für alle diese Märkte eingereicht. Außerdem unternehmen wir Schritte, um unser Angebot auf andere chronische neurologische Erkrankungen, einschließlich Parkinson, auszuweiten. (uh)


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