Siliziumkarbid wird bei Anwendungen bis 25 kW und Spannungen bis 1200 V bis Ende des Jahrzehnts durch Galliumnitrid ersetzt. Diese These vertreten immer mehr Experten in der Leistungselektronik. Wir fragten bei Industrievertretern, Forschern und Analysten nach.
Auf einer Telefonkonferenz am 3. März 2023 zur geplanten Übernahme von GaN Systems meinte Adam White, Division President PSS bei Infineon, dass Siliziumkarbid (SiC) in den meisten Anwendungen im unteren zweistelligen Kilowatt-Bereich bis zum Ende dieses Jahrzehnts von Galliumnitrid (GaN) ersetzt würde (Bild 1). Damit würde Siliziumkarbid zur Brückentechnologie oder gar zum Auslaufmodell – zumindest für den Bereich unter etwa 10 bis 25 kW.
So berichtet Prof. Johann Kolar von einem 10 kW starken dreiphasigen Onboard-Ladegerät für Elektroautos auf Basis einer Dreilevel-Topologie, das sein Team an der ETH Zürich gemeinsam mit Infineon entwickelt hat und das auf CoolGaN-Bausteinen für 600 V beruht (Bild 2).
Auch Texas Instruments hat zwei Referenzdesigns für bidirektionale 10-kW-Umrichter entwickelt — eines auf Basis von Siliziumkarbid (TIDA-01606) und eines auf Basis von Galliumnitrid (TIDA-010210).
Laut David Snook, der dort als Product Line Manager für GaN verantwortlich ist, arbeiten beide Designs mit einem Wirkungsgrad von 98,5 bis 99 Prozent. Der Unterschied: Das GaN-Design erreicht eine höhere Leistungsdichte, das SiC-Design kommt mit weniger Leistungs-FETs aus, weil dort 1200-V-Bauelemente zum Einsatz kommen. Das zeigt aber auch, dass viele Anwendungen im Multi-Kilowatt-Bereich Leistungstransistoren mit einer Sperrspannung von 1200 V benötigen.
»Galliumnitrid für 1200 V ist nur eine Frage der Zeit«, ist sich Doug Bailey sicher. Für den Vice President Marketing bei Power Integrations lautet die eigentliche Frage, in welchen Anwendungen solche Bauelemente eingesetzt werden. »Da GaN eine laterale Technologie ist, dürfte sie zunächst für Anwendungen mit niedrigen Strömen eingesetzt werden, um später die Ströme zu erhöhen«, so Bailey.
Nicht so optimistisch ist Navitas Semiconductor. So hat der GaN-Marktführer derzeit keine gezielte Forschung und Entwicklung bei 1200 V, wie Stephen Oliver versichert. Dann schiebt der Vice President Marketing & Investor Relations jedoch nach: »Aber wir werden das im Auge behalten. Allerdings können wir schon heute für 1200 V die GeneSiC-Bausteine aus Siliziumkarbid anbieten.«
»Gegenwärtig arbeiten nur wenige Akteure an solchen GaN-Bauelementen«, weiß Taha Ayari von Yole Intelligence. Der Technologie- und Marktanalyst für Verbundhalbleiter und Emerging Substrates führt GaNPower International an, ein kanadisches Start-up, das bereits über einige GaN-auf-Silizium-Produkte für 1200 V verfügt. Transphorm forscht und entwickelt ein 1200-V-Bauteil auf Basis von GaN auf Saphir. NexGen Power Systems und Odyssey planen die Markteinführung von 1200-V-Produkten auf Basis einer vertikalen GaN-auf-GaN-Technologie. »Technische Hindernisse für 1200-V-Bauelemente gibt es nicht, aber das Ökosystem und die Lieferkette sind noch nicht so weit«, resümiert Ayari.
Wie sehr man sich allerdings verschätzen kann, musste Yole am eigenen Leib verspüren. In ihren jüngsten drei Jahresberichten zur Marktentwicklung bei GaN mussten sie die Prognosen jeweils drastisch nach oben korrigieren (Bild 3). Nach deren letzter Prognose soll dieses Segment bis 2027 nun mit jährlich 59 Prozent wachsen, von 126 Mio. Dollar im Jahr 2021 auf dann 2 Mrd. Dollar. Das kumulierte Marktpotenzial für die nächsten fünf Jahre soll bei 6 Mrd. Dollar liegen.
»Derzeit befindet sich der GaN-Markt auf dem Niveau des SiC-Marktes von vor zehn Jahren«, urteilt Elena Barbarini, Leiterin des Semiconductor Devices Department bei Yole SystemPlus. Dieser zeitliche Vorsprung könnte dazu beitragen, dass SiC bei mittleren Leistungen doch noch länger eine wichtige Rolle spielt. »Siliziumkarbid hat sein Potenzial bei 1200 V bereits unter Beweis gestellt, und da immer mehr Systeme damit ausgestattet werden, dürfte es seine Marktanteile mindestens konsolidieren oder gar ausbauen«, so Barbarini.
Prof. Leo Lorenz, Vorsitzender des European Center for Power Electronics (ECPE), bringt als dritte Technologie noch vertikale GaN-Strukturen (GaN auf GaN) ins Spiel. Denn aus seiner Sicht würden die Vorteile der lateralen HEMT-Struktur (GaN auf Silizium) mit ihrem extrem niedrigen flächenspezifischen Einschaltwiderstand, den extrem niedrigen Ansteuer- und Schaltverlusten sowie der Rückwärtsleitfähigkeit ohne Schwellenspannung bei 1200 V nur noch sehr bedingt gelten. Die große Herausforderung sieht er in der Herstellung von monokristallinen GaN-Wafern in vertretbaren Durchmessern und Defektdichten zu vertretbaren Kosten. »Doch das ist über die nächsten fünf Jahre nicht erkennbar«, räumt Lorenz ein. »Aber an 1200-V-Bauteilen arbeiten nicht nur Forschungseinrichtungen wie das Ferdinand-Braun-Institut in Berlin, sondern auch namhafte Unternehmen wie etwa Bosch.
»GaN-Substrate sind derzeit auf Wafer-Durchmesser von 100 mm begrenzt«, gibt Gianfranco Di Marco zu bedenken. Für den Marketing-Manager bei STMicroelectronics werden die Kosten daher bei GaN auf GaN erheblich höher sein als bei GaN auf Silizium. »Sollten die Weiterentwicklungen im Design und bei der Fertigung von GaN-Transistoren tatsächlich bis 1200 V die erforderliche Leistungsfähigkeit erzielen, so wird dies erhebliche Vorteile bei der Entwicklung kompakterer und kostengünstigerer Lösungen mit sich bringen, was sich auch in den Marktanteilen niederschlagen würde«, so Di Marco abschließend.
Neben der Frage der Spannungsfestigkeit betont Prof. Kolar von der ETH Zürich, dass die (teilweise) monolithische Integration bauteilnaher Funktionen ein besonderer Vorteil der lateralen HEMT-Struktur sei. Damit meint er beispielsweise Gate-Treiber, deren potenzialgetrennte Signalübertragung und Stromversorgung, Strommessung, Zustandsüberwachung (Condition Monitoring) und Schutzfunktionen vor Übertemperatur, Überstrom oder Kurzschluss. »Hier weist GaN Vorteile insbesondere für Multi-Level-Konverter auf, mit denen sich unter anderem passive Komponenten minimieren lassen«, so Kolar. »Bereits heute haben wir durch hochkompakte 3-Level-Konverter die 800-V-DC-Ebene für GaN-Halbleiter mit 600 V Sperrspannung erschlossen und eine Performance erreicht, die so mit Siliziumkarbid nicht erreichbar wäre. Darüber hinaus erlaubt die laterale Struktur sehr einfach monolithisch bidirektionale Schalter zu realisieren, was völlig neue Anwendungsfelder eröffnet«.
Auch Stephen Oliver sieht Multi-Level-Topologien als interessante Alternative. Allerdings gibt der Navitas-Manager zu bedenken, dass Multi-Level komplexer und potenziell teurer ist, aber möglicherweise eine bessere Schaltperformance aufweist und daher kleiner und leichter ausfällt. »SiC-Single-Level ist einfacher, daher potenziell zuverlässiger und vielleicht kostengünstiger. Aber möglicherweise ist die Leistungsdichte nicht so hoch und das System schwerer.«
Doug Bailey von Power Integrations vermutet, dass Siliziumkarbid bei 1200 V von Silizium auf der einen Seite und Galliumnitrid auf der anderen Seite in die Zange genommen wird. »Auf lange Sicht dürfte Silizium für die Wandlung hoher Ströme zu niedrigen Kosten relevant bleiben. GaN wird den Bereich der niedrigen Ströme und der hohen Effizienz übernehmen. SiC dürfte in der Mitte zwischen dem Besten und dem Billigsten liegen, was bei Hightech ein schwieriges Unterfangen sein kann«, so Bailey. »Grundsätzlich sollte die GaN-Technologie die logische Wahl sein, wenn sie die Anforderungen erfüllen kann – und das kann sie in zunehmendem Maße.«
Stephen Oliver zieht folgenden Schluss: »Bei Navitas sehen wir zum jetzigen Zeitpunkt nur zwei Technologien – GaN auf Silizium und Siliziumkarbid – und nicht drei. Denn GaN auf GaN wird für die nächsten fünf Jahre noch zu vernachlässigen sein.«