Die Automotive-Industrie musste in den letzten Jahren mit Lieferengpässen kämpfen. Letztes Jahr hat sich die Lage geändert, wie Jeremie Bouchaud, Director for Autonomy, E/E & Semiconductor bei S&P Global Mobility, bereits Ende 2022 prognostiziert hatte.
Was folgt 2024, die alten Verhaltensmuster bei den OEMs?
Markt&Technik: Es war mehrfach zu hören, dass einzelne OEMs ihr eigenes Wachstum für 2024 zu optimistisch einschätzen. Was erwarten Sie?
Jeremie Bouchaud: Wir sind überzeugt, dass der Automobilmarkt sich in diesem Jahr nicht genauso erholen wird, wie das 2023 der Fall war. Für 2023 schätzen wir, dass weltweit fast 86 Mio. PKWs verkauft wurden. Das entspricht einem Anstieg von 8,9 Prozent gegenüber 2022, wobei die Nachfrage nach Neufahrzeugen von Produktionssteigerungen dank einer normalisierenden Supply-Chain profitieren konnte.
Geht es um die weltweite PKW-Produktion schätzen wir, dass im letzten Jahr 89,8 Mio. Fahrzeuge fertiggestellt wurden. Das entspricht einem gesunden Plus von 9 Prozent gegenüber 2022 und übertrifft damit die Erwartungen in mehreren Regionen, was auf den Aufbau von Lagerbeständen zurückzuführen ist. Das stellt eine willkommene Rückkehr zu den Produktionsniveaus vor der Corona-Pandemie auf globaler Basis dar, angetrieben durch Zuwächse in Festlandchina und Indien.
Für 2024 erwarten wir, dass die Anzahl der verkauften PKWs nur noch um 2,8 Prozent steigen wird. Wir sind eher skeptisch, was die Aussichten auf eine weitere Erholung im Jahr 2024 angeht. Wir glauben, dass die Nachfrage nach Neufahrzeugen auf der Verbraucherseite durch höhere Fahrzeugpreise und schlechtere Kredit- und Darlehensbedingungen negativ beeinträchtigt wird. In unsere Prognose für 2024 sind viele Faktoren eingeflossen, einschließlich höherer Zinssätze, eine Verbesserung der Lieferketten, größere Probleme in Hinblick auf die Bezahlbarkeit der Fahrzeuge, hohe Neuwagenpreise, eine schwankende Zuversicht auf der Verbraucherseite, Bedenken hinsichtlich der Energiepreise und -versorgung, Risiken bei der Kreditvergabe oder anhaltende Wachstumsprobleme bei der Elektrifizierung. Dazu kommt aus unserer Sicht noch ein weiteres großes Problem, nämlich die Frage, wie sich die »natürliche« Nachfrage nach E-Fahrzeugen weiterentwickeln wird, wenn die Regierungen ihre interventionistische Förderpolitik zurückfahren.
Und wie sehen die einzelnen Regionen aus?
Wir gehen davon aus, dass Festlandchina die dynamischste Region bleiben wird; hier prognostizieren wir ein Plus von 4,2 Prozent. Die Verkäufe in West-/Mitteleuropa werden wohl nur um 2,9 Prozent steigen, was auf die Risiken einer wirtschaftlichen Rezession, die schlechteren Kreditbedingungen, den nachlassenden Nachholbedarf, die immer noch hohen Fahrzeugpreise und die auslaufenden Subventionen für Elektrofahrzeuge zurückzuführen ist. In Nordamerika erwarten wir sogar nur ein Plus von 1,9 Prozent, denn die US-Verbraucher, die ein neues Fahrzeug kaufen wollen, sind weiterhin mit dem Problem der Machbarkeit konfrontiert: Die Zinsen sind hoch, die Kreditkonditionen sind schwierig und die Preise für Neufahrzeuge sinken gar nicht oder nur langsam.
Welcher OEM wird in diesem Jahr am meisten zulegen können?
Unter den 20 größten OEMs sind Tesla und BYD die Unternehmen, die bei Weitem am stärksten wachsen.
Und was heißt das für den Halbleiterbereich in diesem Jahr?
Das Halbleiterumsatzwachstum im Automotive-Markt wird in diesem Jahr geringer ausfallen als in den letzten Jahren. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Umsätze 2021, 2022 und 2023 auch enorm gestiegen sind, sprich: erst 31 Prozent, dann 27 Prozent und im letzten Jahr waren es immer noch 19 Prozent. Und auch wenn diese Wachstumsrate für dieses Jahr nicht erreicht wird, erwarten wir immer noch ein zweistelliges Wachstum, allerdings im unteren zweistelligen Bereich.
Welche Anwendungen im Fahrzeug sind Ihrer Meinung nach die stärksten Wachstumstreiber und gibt es im Gegensatz Anwendungsbereiche, die schrumpfen werden?
Ganz klare Wachstumstreiber sind der elektrische Antrieb, ADAS und das, was wir als »Cross-Domain« bezeichnen, d. h. neue Rechner-Typen, die die neuen E/E-Architekturen unterstützen wie z. B. Zentralrechner, zonale Controller, die mit dem Gateway verbunden sind. Das sind die Wachstumstreiber im Halbleitermarkt für dieses Jahr, aber auch in Zukunft. Im Gegensatz dazu erwarten wir, dass beispielsweise der Markt für Halbleiter, die in den konventionellen Antriebsstrang wandern, anfängt zu schrumpfen.
Welche Produktgruppen werden im Automotive-Segment am stärksten wachsen und welche werden zurückfallen?
Speicher-ICs werden in diesem Jahr die Produktkategorie im Automotive-Segment sein, die am schnellsten wächst; ihr Anteil am gesamten Halbleiterumsatz wird sich in diesem Jahr auf fast 30 Prozent belaufen. Der Speichermarkt hat seine eigenen Zyklen, die durch das Gleichgewicht von Nachfrage und Kapazität in anderen Branchen, z. B. in Rechenzentren, bestimmt werden. Insbesondere die DRAM-Märkte werden zulegen, da DDR4 und LPDDR4, die immer noch in großen Mengen in Fahrzeugen verwendet werden, das Ende ihres Zyklus erreichen. Die Kapazitäten sind knapp, die Preise haben 2023 ihre Talsohle erreicht und dementsprechend werden die Umsätze in diesem Jahr in die Höhe schnellen.
Diskrete Halbleiter – insbesondere mit SiC – sind die Kategorie, die in diesem Jahr am zweitschnellsten wachsen wird. Wir gehen von einem Plus von fast 20 Prozent aus; der Antriebsfaktor ist in dem Fall die Elektrifizierung der Fahrzeuge.
Die meisten anderen Chip-Kategorien kehren zu einem einstelligen Wachstum zurück. In einem einzigen Bereich erwarten wir, dass der Umsatz zurückgehen wird, und zwar bei den Drucksensoren. Dieser Umsatzrückgang ist nicht auf Preissenkungen zurückzuführen, denn die MEMS-Hersteller investieren nicht mehr in eine neue Generation von Drucksensoren, und der Preis kann nicht mehr erodieren. Der Rückgang ist vielmehr auf den Wechsel von Verbrennungsmotoren, in denen viele MEMS-Drucksensoren eingesetzt werden, zu elektrischen Antrieben zurückzuführen, bei denen Drucksensoren nicht mehr benötigt werden.
DRAM und MEMS-Drucksensoren bilden in Bezug auf die Preisentwicklung also in diesem Jahr eine Ausnahme. Bei den analogen Chips erwarten wir in diesem Jahr hingegen eine Rückkehr zum »normalen Preisverfall«. Die Lieferengpässe hatten es den Halbleiterunternehmen ermöglicht, die Preise in den Jahren 2021, 2022 und sogar 2023 wieder auf ein viel höheres Niveau zu bringen. Mit Blick auf 2024 sind OEMs und Tier-Ones überzeugt, dass diese hohen Preise nur noch schwer zu rechtfertigen sind, zumal die Halbleiterhersteller Rekordgewinne melden, obwohl die Auslastung ihrer Fabs niedrig ist. Wir haben von einzelnen Fällen gehört, in denen OEMs und Tier-Ones hohen Druck auf die Halbleiterlieferanten ausüben, damit sie ihre Preise senken. Im letzten Jahr war außerdem zu beobachten, dass Analog-Hersteller ihre Preise gesenkt haben, um ihre Fabs zu füllen und Marktanteile zu gewinnen. In der Summe gehen wir also für dieses Jahr davon aus, dass die Preise für analoge Chips wieder zu dem normalen Preisverfall zurückkehren werden, anstatt wie zuvor prognostiziert auf dem hohen Preisniveau stagnieren.