Auf dem Herbst-GTC in Washington präsentierte Nvidia-Chef Jensen Huang eine KI-Strategie, die auch das Gesundheitswesen formen wird. Die Ankündigungen reichen von der größten KI-Infrastruktur für Pharma über offene Modelle für die Wirkstoffentwicklung bis zu physischer KI für die Medizinrobotik.
Wer Nvidia und Jensen Huangs Art und Weise, das von ihm 1993 mitgegründete Unternehmen zu führen über die letzten Jahre verfolgt hat, dem ist am Ende der Keynote des GTC in Washington wahrscheinlich kurz anders geworden: Der mit seinen Eltern aus Taiwan eingewanderte CEO des wohl wichtigsten Halbleiterlieferanten für Künstliche Intelligenz tut alles, um den Weltkonzern und sein Vermächtnis über die Trump-Legislatur hinaus in die Zukunft zu führen. Dass Huang seine Keynote nach rund 100 Minuten mit Trumps Wahlkampfslogan »Make America Great Again« beendete, zeigt: Hier geht es nicht nur um Technologie, sondern um Marktmacht und nationale Industriepolitik. Wie er mit leicht gesenktem Blick von der Bühne geht, ist es dem sonst so sympathisch auftretenden Unternehmer schwer zu verübeln.
Doch zur Technologie: Welche KI-Neuigkeiten wurden auf dem Herbst-GTC für Healthcare vorgestellt? Kurz und knapp lässt sich die Frage mit ‚KI für Pharma und Medizinrobotik‘ beantworten. Dass sich KI in der pharmazeutischen Forschung zunehmend durchsetzt, ist längst kein Geheimnis mehr: Die Technologie analysiert große Mengen biologische und chemische Daten, um Wirkstoffkandidaten zu identifizieren, die mit konventionellen Methoden schwer zu entdecken sind. Entgegen des ersten »Disruption«-schreienden Hypes passiert dieser Wandel eher als schrittweise Integration in etablierte Entwicklungsprozesse – die Validierung KI-gestützter Entwicklungen in klinischen Studien benötigt Zeit, ist auf jeden Fall aber vielversprechend.
Einen sehr großen Schritt in Richtung dieser KI-basierten Forschung soll das GTC-Beispiel von Eli Lilly verdeutlichen. Der Pharmariese hat die nach eigenen Angaben weltweit größte und leistungsstärkste KI-Fabrik in Betrieb genommen, die vollständig von einem Pharmakonzern betrieben wird. Das System besitzt eine – ohne zu übertreiben – gigantische Rechenleistung. Es basiert auf dem ersten Nvidia DGX SuperPOD mit DGX B300-Systemen und ist mit 1.016 Nvidia Blackwell Ultra GPUs ausgestattet. Mit über 9.000 Petaflops Rechenleistung kann die Anlage mehr als neun Trillionen mathematische Operationen pro Sekunde durchführen.
Das klingt spektakulär – und ist es auch. Das System wurde im Rahmen des GTC als Leuchtturm für die Pharmabranche präsentiert: Die KI-Fabrik soll Zeitlinien in der Wirkstoffentdeckung komprimieren und Durchbrüche in Genomik, personalisierter Medizin und molekularem Design im industriellen Maßstab ermöglichen. Thomas Fuchs, Chief AI Officer bei Lilly, erklärt: »Unsere Foundation Models eröffnen unseren Chemikern neue Möglichkeiten und helfen ihnen, neue Motive und Konfigurationen von Atomen zu entdecken, die mit traditionellen Methoden unerreichbar waren«. Zunächst eine wissenschaftliche Hypothese, für die Validierungsdaten und messbare Durchbrüche noch ausstehen.
Eli Lilly nutzt dazu Nvidias Full-Stack-Architektur mit Spectrum-X Ethernet-Netzwerk und optimierter KI-Software, wodurch eine sichere sowie skalierbare Plattform für die stark regulierten Gesundheits- und Life-Sciences-Branche entstehen soll. Per Mission Control kann Lilly seinen DGX SuperPOD verwalten, Workloads orchestrieren und KI-Operationen über mehr als 1.000 GPUs hinweg automatisieren. Unerwähnt blieben bei der Technik-Show bisher der Energieverbrauch, die tatsächlichen Investitionskosten und die Frage, wie abhängig der Pharmakonzern in seiner KI-Strategie von einem einzigen Anbieter wird bzw. aus Gründen der nationalen Sicherheit sein will.
Um nicht von einem Anbieter oder in einer einzigen Infrastruktur abhängig zu sein, sind Modelle wichtig, die ohne proprietäre Hardware nutzbar sind: Auch hier legt Nvidia in Washington nach und erweitert seine Clara-Modellreihe um drei neue offene Modelle für beschleunigte wissenschaftliche Entdeckungen. Clara CodonFM lernt die Regeln der RNA, um zu zeigen, wie Änderungen im genetischen Code das Design von Therapien und Medikamenten verbessern können. Das Modell wurde gemeinsam mit dem Arc Institute entwickelt und wird von Unternehmen wie Therna Biosciences, Greenstone Biosciences und dem Stanford RNA Medicine Program genutzt.
Clara La-Proteina erstellt 3D-Proteinstrukturen Atom für Atom mit doppelter Länge und Geschwindigkeit im Vergleich zu bisherigen Modellen, was die Entwicklung besserer Medikamente, Enzyme und Materialien ermöglicht. Das dritte neue Modell, Clara Reason, ist ein Vision-Language-Modell, das Chain-of-Thought-Reasoning für Radiologie und medizinische Bildgebung ermöglicht und damit erklärbare KI in der medizinischen Forschung vorantreibt.
NVIDIA-Forschende haben dazu mit den nordamerikanischen National Institutes of Health (NIH) zusammengearbeitet, um den menschlichen Expertendenkprozess zu erfassen und Transparenz sowie Interpretierbarkeit in die medizinische KI zu bringen. Die NIH integrieren Clara Reason-Modelle in radiologische Workflows zur Unterstützung bei Berichtserstellung, Befunderklärung und die klinische Ausbildung. Die Modelle sind über Hugging Face verfügbar und werden auf Plattformen wie Microsoft Azure AI Foundry und Google Vertex AI bereitgestellt.
Der Clou: Diese Modelle funktionieren ohne 1.016-GPU-Cluster. Für die deutsche Medizintechnik-Industrie, die zumeist nicht über die Kapitalausstattung eines Pharmariesen verfügt, sind gerade diese offenen Ansätze der eigentlich relevante Teil der Nvidia-Strategie.
Insgesamt dürfte die Medizintechnik ohnehin eher auf die Beispiele aus der Medizinrobotik geschielt haben: So setzt Johnson & Johnson MedTech auf Physical AI und Simulation, um die Entwicklung seiner Robotiksysteme zu beschleunigen. Im Fokus steht die Monarch Platform for Urology, für die mithilfe von Nvidia Isaac for Healthcare virtuelle OP-Umgebungen geschaffen werden. Das System kann klinischen Teams helfen, das Robotersystem vor einem Eingriff aufzubauen, und simulierte Patientenanatomie sowie klinische Szenarien für Nierenstein-Eingriffe generieren.
»Simulation ist die nächste Grenze in der chirurgischen Robotik«, erklärt Neda Cvijetic, Senior Vice President für Robotics & Digital R&D bei J&J MedTech. »Mit KI-gestützter Simulation können wir hochauflösende digitale Zwillinge erstellen, die den Gesetzen der Physik folgen, sodass die Simulation die reale Welt präzise vorwegnimmt und letztendlich physische KI-Fähigkeiten freisetzt«.
Die medizinische Notwendigkeit ist real: Nierensteine betreffen fast jeden neunten Amerikaner und führen jährlich zu bis zu zwei Millionen Notaufnahmebesuchen. Auf Seite der Ärzte wiederum berichten mehr als 60 Prozent der Endo-Urologen berichten von orthopädischen Verletzungen durch lange, repetitive endoskopische Eingriffe. Die Monarch Platform for Urology soll 2026 kommerziell in den USA eingeführt werden und ermöglicht Chirurgen durch robotische Unterstützung eine präzise Instrumentenkontrolle während Nierenstein-Operationen beizubehalten.
Ein weiterer Punkt betraf die Entwicklung: Nvidia Omniverse erlaubt es Medizintechnik-Ingenieuren und Klinikern digitale Zwillinge sowohl der Anatomie als auch des Operationssaals mitzuentwerfen und zu testen – sowie Layout, Ergonomie und Prozessablauf dabei zu optimieren, ohne physischen Raum oder Ausrüstung zu belegen. Design-Reviews, die früher Monate oder Jahre dauerten, sollen so in Stunden erfolgen können. Die Cosmos-Plattform generiert realistische synthetische Datensätze, um Wahrnehmungs- und Navigationsmodelle für Vision, Tracking und Automatisierung zu trainieren – und komprimiert damit Monate an Datenerfassung auf Stunden.
Die Ankündigungen unterstreichen Nvidias Position als Technologiepartner für die digital transformierte Medizintechnik- und Pharmaindustrie. Huang betonte in seiner Keynote, dass KI nicht länger ein optionales Werkzeug sei, sondern zum ersten Mal in der Lage sein soll, Arbeit zu verrichten und »uns produktiver zu machen«. Die auf der GTC vorgestellten Systeme sollen nicht nur die Wirkstoffentwicklung beschleunigen, sondern auch Lieferketten optimieren, klinische Studien effizienter gestalten und die Patientenversorgung durch personalisierte Therapien verbessern.
Die GTC-Ankündigungen zeigen auf jeden Fall eindrucksvoll, wohin die Reise gehen kann – und wie stark Nvidia diese Reise prägt. Ob die versprochenen Pharma-Durchbrüche tatsächlich eintreten, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Bis dahin gilt: Die Technologie ist real, die Rechenleistung beeindruckend, die Integration machbar. Entscheidend wird sein, welche messbaren medizinischen Fortschritte daraus entstehen – und ob sich die Investitionen in die Technologie auch in schnelleren Zulassungen, besseren Therapien und einer erleichterten Chirurgie niederschlagen.
Und am Ende bleibt zudem zu hoffen, dass Trump sich nicht zum König krönen lässt – und die ebenfalls angekündigten sieben neuen Supercomputer des US-Energieministeriums tatsächlich einer glaubwürdigen wissenschaftlichen Forschung dienen statt nur der nationalen Industriepolitik. Jensen Huang, der die Konferenz extra nach Washington verlegt hatte, damit Trump teilnehmen konnte (der dann doch auf Asien-Tour war) , navigiert geschickt zwischen den Gewalten: ein Unternehmer, der versteht, dass in der KI-Ära technologische Exzellenz und politisches Kalkül untrennbar verbunden sind.
Die Medizintechnik-Industrie sollte sich vom MAGA-Abgang nicht beirren lassen. Die Infrastruktur steht, die Modelle sind offen verfügbar, die Werkzeuge auch diesseits des Atlantiks einsetzbar. Und Jensen Huang wird seine Firma clever führen, egal welcher Präsident gerade im Weißen Haus sitzt. (uh)