Als der Krieg noch eine Hypothese war
Gut 24 Stunden vor Russlands völkerrechtswidrigem Einmarsch in die Ukraine war die Situation im Osten Europas mit Putins Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken in der Ostukraine natürlich auch ein Thema der versammelten Diskussionsrunde. Eine militärische Konfrontation erschien zu diesem Zeitpunkt, knapp 77 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Europa, trotz des russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze und in Belarus nur eine hypothetische Möglichkeit zu sein, die sich keiner der Diskussionsteilnehmer wirklich vorstellen konnte. Entsprechend drehte sich die Diskussion auch um mögliche Folgen für die Weltwirtschaft und die europäische Elektronikindustrie, sollte es zu einer weiteren Verschärfung der Situation in der Ukraine kommen.
Dass im Zuge der Spannungen zwischen der Ukraine und Russland vor allem Deutschland seine extrem hohe Abhängigkeit von russischen Erdöl- und Erdgas-Lieferungen deutlich wurde, sehen die Diskussionsteilnehmer positiv. »Zielgerichtete Investitionen in Richtung der Umsetzung des Green Deals dürften nun wesentlich schneller erfolgen als ursprünglich vorgesehen«, ist sich etwa Jean Quecke sicher. Eine Einschätzung, die Konsens ist.
Harald Sauer skizziert aber schon einmal die Konsequenzen, sollte Russland, als Reaktion auf zu erwartende westliche Sanktionen, seine Öl- und Gaslieferungen an Europa einstellen: »Dann werden wir ganz schnell bei einer Priorisierung sein, bei der es darum geht, wer zuerst abgeschalten wird. Und dann wird es als Erstes die Industrie und nicht die privaten Verbraucher treffen. Wir können also ganz schnell in die Lage kommen, das es in Fabriken zu Produktionsstopps kommt.«
Thomas Heel setzt zu diesem Zeitpunkt noch darauf, dass sich Russland einen Ausfall seiner wichtigsten Einnahmequellen nicht leisten kann. Perspektivisch warnt er aber davor, dass der deutsche Netzentwicklungsplan auf einen Ausfall der russischen Lieferungen gar nicht vorbereitet sei. So stünden aktuell in Deutschland rund 80 GWh zur Verfügung. Planungen sehen vor, dass bis 2035/37 allein 55 GWh nötig sein werden, um Elektrofahrzeuge zu laden. In diesen Planungen spielen Gaskraftwerke eine wichtige Rolle, sollten keine erneuerbaren Energien im ausreichenden Maße zur Verfügung stehen.
Einig sind sich die versammelten Diskussionsteilnehmer auch, dass der diskutierte Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Bankensystem das mit Abstand schärfste Schwert unter möglichen Sanktionen wäre. »Dann wäre das Russlandgeschäft faktisch tot«, so Ferdinand Leicher, »das ist die Einschätzung unserer Finanzleute«. Da die Produkte aber eindesignt sind, geht er davon aus, dass die russischen Kunden sich über Graumärkte in China mit den benötigten Bauteilen versorgen werden.
Peter Kokot erwartet durch sich gegenseitig aufschaukelnde Sanktionen und Gegensanktionen, dass sich rasch ein Kostendruck aufbaut: »Ob Firmen oder Privatleute, wir werden das sehr schnell am Geldbeutel spüren.« Eine Inflationsrate, die sich eh schon der 7-Prozent-Marke nähert, hält er angesichts der Entwicklung in der Ukraine noch nicht für das Ende der Kette.
Als Elektronikexperten, die mit den geopolitischen Herausforderungen in Asien vertraut sind, gehen die Diskussionsteilnehmer alle davon aus, dass die Situation in der Ukraine und das Verhalten des Westens, speziell der USA, von großer Bedeutung für die Zukunft Taiwans sein wird. »Wenn der Westen angesichts Putins Verhalten wieder nur den Zeigefinger hebt, wird Taiwan als Nächstes dran sein«, vermutet Uwe Reinecke.
Doch auch wenn das Risiko von den Diskussionsteilnehmern als aktuell hoch eingeschätzt wurde »und Putin jetzt offenbar auslotet, wie weit er gehen kann«, wie es Thomas Heel ausdrückt, gingen zum Zeitpunkt des Round-Table-Forums immer noch alle davon aus, dass es nicht zur militärischen Eskalation mit allen darauf folgenden Maßnahmen kommen würde.
»Wir haben bereits einmal einen jahrzehntelang andauernden kalten Krieg erlebt«, so Quecke, »und damals wurde das Gas auch nie abgeschaltet, weil die Einkünfte aus den Rohstoffverkäufen elementar für die damalige Sowjetunion waren und auch für das heutige Russland sind, um ihren jeweiligen Staatsapparat am Laufen zu halten«.