Warum das so ist? Die versammelten Experten für passive Bauelemente verweisen auf den laufenden Transformationsprozess in der Elektronikbranche. Es seien die seit Jahren beschriebenen Mega-Trends, die nun wirkten, und für die die Corona-Pandemie nicht der Auslöser, sondern vielmehr ein Katalysator gewesen sei. »Es ist dieser Transformationsprozess, der die Bedarfszahlen in der Elektronik nicht mehr wie in der Vergangenheit linear, sondern in den nächsten Jahren exponentiell wachsen lässt«, so Reinecke.
Heel hebt hervor, dass auch TSMC darauf hingewiesen habe, »dass, wenn dieser Transformationsprozess und der dadurch geweckte Bedarf weiter auf diesem Niveau bleibe, der aktuelle Knappheitszustand noch über Jahre hinweg erhalten bleiben könne«. Vor dem Hintergrund dieser anhaltend hohen Auftragseingänge versuchen die Hersteller ihre Beschaffung und ihre Produktion nach diesen Zahlen zu steuern. Dass das nicht immer klappt, macht Harald Sauer, Director von Taiyo Yuden Europe, deutlich: »Wir hatten durchaus Monate, in denen der Auftragseingang 20 Prozent über dem Budget und der Verkauf 20 Prozent unter dem Budget lag. Das sind Mengen, die man irgendwie handeln muss.« Auf dieser Rasierklinge zu tanzen sieht er als die Management-Herausforderung schlechthin.
Dass es im Zuge dieser Herausforderungen zu Priorisierungen kommt, verneint niemand. Speziell die Distributoren wehren sich aber gegen den Vorwurf, sie würden speziell kleine und mittelständische Kunden nicht in dem Maße versorgen wie Key-Kunden. Kokot widerspricht diesem Vorwurf deutlich: »Der Kunde, der bei uns frühzeitig platziert, der bekommt auch seine Aufträge. Wir machen bei Avnet Abacus keine internen Verschiebungen, nur weil jetzt gerade mal ein Topkunde kommt. Wer rechtzeitig platziert und uns gegenüber loyal ist, dem gegenüber sind auch wir loyal.«
»Es geht nicht um groß oder klein«, pflichtet ihm Bittigkoffer bei, »sondern darum, ist es ein langjähriger Bestandskunde, der auch langfristig bei uns platziert?« Wenn dem so sei, »dann ist es unsere Pflicht, diesen Partner nicht gegen die Wand rennen zu lassen, nur weil gerade ein großer Endkunde zu uns kommt, der aber schon lange nichts mehr bestellt hat«. Schließlich habe Rutronik seine Kunden rechtzeitig über die steigenden Lieferzeiten informiert und darauf aufmerksam gemacht, dass man die langfristigen Aufträge brauche. »Der, der rechtzeitig platziert, soll davon dann auch profitieren.«
Eine Priorisierung nach Kundengröße zu leugnen ist in Reinecks Augen etwas geflunkert. »Natürlich hat ein Topkunde Priorität, aber wir würden auch einen kleinen Kunden nicht wegen 500 oder 5000 Stück absterben lassen!« Die Lösung ist für ihn in so einem Fall ganz einfach: »Ob ein Topkunde nun 1 Million Stück oder nur 995.000 erhält, ist für ihn erst einmal ohne Belang, er kann produzieren, und dem kleinen Kunden, dessen Existenz vielleicht von dieser Bauteilelieferung abhängt. ist auch geholfen.«
Dass es trotzdem im letzten Jahr durchaus immer wieder zu Situationen in der Distribution gekommen sein kann, in denen Kunden kurz vor Schluss mitgeteilt wurde, dass die zugesagte Lieferung nun doch erst in vier Wochen verfügbar sei, hat für Reinecke nichts mit der Priorisierung von Kunden zu tun, sondern oftmals mit Banalitäten in der Lieferkette. »Es kommt vor, dass man nach einer Lieferung fragt, die eigentlich schon angekommen sein sollte, die angeblich in dem und dem Container war, und dann erfährt man am Telefon, sorry, war der falsche Container, oder die Ware wurde doch nicht aufgeladen.«
Aus Sicht der Hersteller sind solche Probleme eine Frage des Shortage Management. »Wenn ich 50 Kunden habe, die alle das gleiche Bauteil benötigen, dann bediene ich erst mal die Kleinen«, erläutert Heel, »denn der Conference Call mit denen dauert ja genauso lange wie der mit einem großen Kunden«. Auch auf der Herstellerseite wird ein Kunde nach Loyalität und Partnerschaft eingeordnet. Heute hier und morgen da kaufen, »das kann man als Consumer im Online-Bereich machen, aber nicht im Business-to-Business-Sektor«.