Da seine Mutter infolge von Diabetes gelähmt war, entwickelte ein indischer Biomediziner einen Schuh, der mithilfe von KI die Nerven im Bein stimuliert. Heute kann die Frau wieder selbstständig laufen und aus dem Prototypen des Start-ups ist eine Neuromodulationsplattform gegen Lähmungen gewachsen.
Die Mutter des indischen Ingenieurs für Biomedizintechnik Siddharth Nair litt schon länger an Diabetes. Als sich 2012 erste Symptome einer diabetischen Neuropathie in ihren Beinen zeigen, versucht sie es zunächst mit Nahrungsergänzungsmitteln, jedoch stellt sich keine Besserung ein. Die Erkrankung der Nerven breitet sich rasch in ihren Beinen aus, schließlich ist die ältere Frau fast gelähmt. Zwar wäre Physiotherapie eine Option, für Nairs Mutter ist diese allerdings unerschwinglich und der Weg zur Therapie ist zu weit.
»Meine Mutter hätte jemanden gebraucht, der sie zum Physiotherapeuten fährt, dort auf sie wartet und dann wieder nach Hause fährt«, erzählt der Ingenieur. »In einer Stadt wie Bengaluru, wo der Verkehr einfach wahnsinnig ist, war das unmöglich.« Nair beschloss seine Ausbildung und Expertise zu nutzen und eine alternative Behandlung für seine Mutter zu entwickeln.
Nair gründete die Firma Xfinito Biodesigns und begann ein Medizingerät zu entwickeln,
das Menschen mit Neuropathie die Kontrolle über ihren Körper zurückgibt. Er kündigte seine Stelle und nahm ein Masterstudium auf, um Zugang zu Laboren zu erhalten. Im Graduiertenstudium stand Nair dann alles zur Verfügung, was er für die Entwicklung des therapeutischen Gerätes benötigte. Für seine Dissertation experimentierte er mit Neuromodulation. Dabei werden Reize wie Wärme, Vibration oder elektrische Reizströme zur Verbesserung der Funktion des Nervensystems eingesetzt.
Der Prototyp für das Neomodulationsgerät stimulierte die Nerven durch elektrische Impulse, die durch die Haut dringen und so die Nervenfunktion verbessern. Die Elektronik implementierte Nair in eine Art Schuh. Der Ingenieur testet das Gerät zunächst an sich selbst auf Ungefährlichkeit. Seine Mutter hatte die Hoffnung längst aufgegeben und tatsächlich zeigte sie in den ersten vier Wochen keinerlei Reaktion auf die elektrischen Reize der Neuromodulation. Mutter und Sohn waren entmutigt.
Doch plötzlich begannen die Beinnerven der Frau auf die Stimulation zu reagieren. Heute, acht Jahre später, kann Nairs Mutter gehen und Alltagstätigkeiten selbstständig erledigen. Sie hat dadurch ihren Lebensmut zurückgewonnen und ist als Mitgründerin in die Firma ihres Sohnes eingestiegen. Mit der Technologie will die Inderin anderen Erkrankten Hoffnung geben. Die Patientenbrille hilft auch in der Produktentwicklung, sagt Nair. »Meine Mutter hilft uns, die Barrierefreiheit im Blick zu halten, zudem eine eigene Sicht auf ihre Einschränkungen.«
Xfinito Biodesigns hat aus dem ersten Prototyp einen intelligenten, eleganten Sportschuh gemacht, in dessen Inneren Elektroden und Sensoren angebracht sind. Damit bewarb sich das Start-up 2020 bei der »MedTechnovation Challenge« der DERBI Foundation in Partnerschaft mit MathWorks. Aus über 100 Bewerbern wählten die Preisrichter des Wettbewerbs für innovative Medizingeräte unter anderem Xfinito Biodesigns für ein Förderpaket aus Fördergeldern, Inkubationshilfen von DERBI sowie technischen Support durch das MathWorks Accelerator-Programm aus.
Xfinito wurde von den Preisrichtern nicht nur wegen seiner technischen Originalität und des medizinischen Potenzials ausgewählt, sondern auch wegen seiner inspirierenden Entstehungsgeschichte. Infolgedessen wurde Xfinito Biodesigns von Mentoren und Experten von DERBI und dem technischen Mentorenprogramm von MathWorks unterstützt. Dadurch gelang es Nair, die heute Zeuron.ai genannte Plattform weit über seine ursprüngliche Intention hinaus voranzutreiben.
Mithilfe des Entwicklertools Matlab konnte Nair eine fortschrittlichere Software zur Steuerung bauen. Jetzt zeichnet Zeuron.ai auch Informationen des Wearables wie Druck, Temperatur, Ansprechen auf Reize sowie Bewegung auf. Diese Verarbeitung geschieht per Hybrid Computing, was laut Nair sowohl die Kosten als auch die Rechenzeit senkt. Als Reaktion auf diese Daten gibt das System eine personalisierte Therapie in Form von elektrischen oder magnetischen Reizen, Vibrationen oder Wärme- und Lichtimpulsen aus.
Anhand der von den Schuhen aufgezeichneten Daten entwickeln Nair und sein Team mit Simulink digitale Zwillinge und schafften so ein virtuelles Modell oder vielmehr einen digitalen Avatar jedes einzelnen Nutzenden. Dies hilft, die physiologischen Merkmale jeder Person zu verstehen, welche die Plattform nutzt, und erlaubt darüber hinaus, Prognosen über Resultate anzustellen, die Behandlung noch besser anzupassen und möglicherweise durch die Krankheit entstehende Komplikationen zu verhindern.
Außerdem kann diese Analysefunktion die digitalen Ichs durch qualitative und quantitative Messung aller Daten sowie Gesundheitszustände im Zeitverlauf visualisieren. Zudem arbeitet das Unternehmen an einer Onlineplattform als Selbsthilfegruppe für Menschen mit Einschränkungen. Das Unterstützungsangebot soll begleitend zu dem finalen Neuromodulationsgerät angeboten werden.
Zeuron.ai ist heute eine intelligente Technologieplattform, die sich auf Neurotechnik für die Medizin, aber auch Wellness, Sport, Gaming und Unternehmensanwendungen konzentriert. Als medizintechnische Applikationen werden Behandlungen für chronisch an neurodegenerativen Erkrankungen leidende Menschen angeboten. Dazu gehören präventive Maßnahmen, die Überwachung des Krankheitsfortschritts, gezielte Behandlungen und Entscheidungshilfen für Ärzte und Kliniker. Das Ziel ist die Überwachung und Vorbeugung von Komplikationen bei Erkrankungen wie der diabetischen Neuropathie sowie anderen neurodegenerativen Erkrankungen, die durch Muskel- und Nervenstimulation gelindert werden können.
Das System kann neben Schuhen auch in andere Wearables integriert und so beispielsweise auf die Bedürfnisse von Menschen mit Parkinson oder Morbus Huntington zugeschnitten werden. »Der Schuh ist ein intelligentes Sensorsystem, welches den Druck auf den Fuß, seine Temperatur, das Gangmuster einer Person sowie die neuromuskuläre Reaktion auf Vibrations-, Wärme- oder elektrische Reize erfasst,« erläutert Nair. »Wir überwachen neuromotorische Aktivität und die Reflexe.«
Zeuron.ai ermöglicht Menschen mit Neuropathien oder anderen neurologischen Erkrankungen eine echte Verbesserung ihrer Symptome sowie grundsätzlich einen optimierten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Dank der ständigen Datenerfassung durch die Schuhe und der Möglichkeit, diese Daten mit dem Arzt zu teilen, müssen sich Patienten nicht mehr von der Arbeit freistellen lassen oder Fahrgelegenheiten finden, um häufige Arztbesuche wahrnehmen zu können.
Als Bonus sieht der Zeuron-Schuh als Medizingerät sogar gut aus. Grund ist die Mitwirkung des Schuhdesigners Mohammed Ehsan, der bereits Schuhe für bekannte Schauspieler und Cricket-Stars entworfen hat. Ehsan ist selbst an Parkinson erkrankt und hat ein persönliches Interesse daran, Technologie und Design für den Neuromodulationsschuh bestmöglich zu kombinieren.
Die vom Wearable gesammelten Daten sollen zukünftig nicht nur einzelnen Patienten, sondern gesammelt auch der klinischen Forschung zugutekommen. Gleichzeitig arbeiten die klinischen Wissenschaftler bei Zeuran.ai an einer direkten Verbindung zwischen Arzt und Patient. Sobald das Medizingerät eine Anomalie entdeckt, soll zukünftig ein Arzt informiert werden – eine telemedizinische Abklärung in Echtzeit könnte den Behandlungserfolg weiter steigern.
Xfinito Biodesigns hat eine Vielzahl von Patenten für die verschiedenen Komponenten der Xeuron.ai-Plattform eingereicht und entwickelt gerade eine App für Ärzte. Das Feedback von Patienten und Medizinern ist so positiv, dass der KI-Schuh bald international angeboten werden soll. Zusätzlich zu den medizinischen Vorteilen der Technologie sieht Nair auch eine gesellschaftliche Chance.
Neben der Bereitstellung von gutem Schuhwerk für Kinder und ältere Erwachsene in Gemeinden, die weltweit unterhalb der Armutsgrenze leben, ist Nair besonders wichtig, einen Teil des Erlöses für die Ausbildung und Qualifizierung behinderter Menschen zu verwenden. Dank der Inkubationsunterstützung von DERBI und dem technischen Mentorenprogramm von Mathworks konnte er seine innovative Idee Wirklichkeit werden lassen und hofft, mit Zauron.ai auch einen kleinen Teil der Probleme des indischen Gesundheitssystems anzugehen. (uh)