4K auf jedem Auge

Die Apple Vision Pro im Krankenhaus

10. Dezember 2025, 8:35 Uhr | Ute Häußler
Fachärzte können mit der Apple Vision Pro remote arbeiten und von jedem Ort auf der Welt ins OP-Geschehen geschaltet werden.
© Siemens Healthineers

Immersive Technologien wandeln sich vom Tech-Gadget zum seriösen Arztwerkzeug: Dr. Alexander Brost erklärt, wie Siemens Healthineers »klinische Innovationen« in die Entwicklung bringt und wie XR-Brillen die Workflows in Radiologie und Chirurgie verbessern – in 3D und Remote.

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Herr Dr. Brost, Sie leiten den Bereich Klinische Innovation bei Siemens Healthineers – wie und woran arbeiten Sie mit Ihrem Team?

Wir sind bei Healthineers in der Sparte »Digital & Automation« aufgehängt und fungieren dort als »Software Factory«. Das heißt: Wir arbeiten auf den Software-Plattformen der CT- und MRT-Scanner, an fortgeschrittenen Visualisierungen und Processing-Programmen. Das sind quasi Photoshop-Programme fürs PACS-System, wo der Radiologe messen, segmentieren und planen kann – heutzutage logischerweise mit viel KI. Wir versuchen, die Probleme der Radiologen zu verstehen und entsprechende Systeme dafür zu entwickeln.

Das heißt, Sie und Ihr Team fungieren als interne Tech-Scouts?

Ja, aber nicht nur wir. Wir sind 73.000 Kollegen und jeder kann eine gute Idee einbringen. Unser Job ist es mit Radiologen oder Chirurgen genau diese Ideen zu besprechen und zu schauen, ob die Ärzte damit etwas anfangen können. Wir nehmen etwa auf Kongressen die Mediziner kurz beiseite und fragen »Was hältst du davon?«. Ist das ein Problem eines einzelnen oder betrifft es viele? Wir wollen verstehen, wo die Ursache liegt und natürlich auch die potenzielle Marktgröße herausfinden.

Falls wir ein Problem als relevant einstufen, beginnen wir an Lösungen zu arbeiten. Diese iterieren wir auch direkt mit Kollaborationsärzten. Die sehen die initialen Prototypen und geben uns eine qualitative Rückmeldung. Was nicht funktioniert, wird verändert, bis wir ein Stadium erreichen, an dem die Ärzte sagen »Damit würde ich arbeiten«. Produktmanagement und Entwicklung sind sehr früh in diesen Prozess eingebunden, später auch Marketing und Vertrieb.

Wie lange dauert das und wie viele dieser Prototypen kommen auf den Markt? 

Wenn es richtig schnell geht, dauert der Prozess nur ein Jahr. Mit den regulatorischen Aspekten können es aber auch vier werden, eine klinische Studie allein nimmt ja schon gut ein Jahr in Anspruch. Es kommt immer auf den Einzelfall an, aber ich würde zwei Jahre auch noch als richtig schnell ­einstufen.

Nachdem wir von Beginn an stark aussortieren und evaluieren, kommen rund 80, 90 Prozent der so entwickelten Produkte tatsächlich auf den Markt. Wir kommen fast immer aus der klinischen Praxis: »mit kleinem Budget mal rumbasteln« ist eher eine Seltenheit. Dennoch war »Cinematic Rendering« solch eine Idee: Am Anfang wollte jemand CT-Daten fotorealistisch rendern, so richtig cool, mit Schatten. Und während die meisten das noch als Marketing-Gag abgetan haben, kam das erste Feedback von den Ärzten. Die »coolen Bilder« halfen ihnen, ihre Befunde mit Patienten zu besprechen, weil sie verständlicher als 2D-Schichtbilder sind. Und Chirurgen können in 3D ein genaueres Verständnis für die OP-Vorbereitung bekommen.

Womit wir bei der Apple Vision Pro sind. Wo kann die im Krankenhaus genutzt werden?

Die Brille ist mit ihren 4K pro Auge ein mobiles virtuelles Display. Abgesehen von der Mammografie deckt die Auflösung die meisten Radiologie-Workflows ab. Bisher haben Radiologen in der Regel zwei riesige Monitore mit mindestens 8K für ihre Fälle und einen kleineren für E-Mails, Worklist et cetera. Beim Follow-Up einer Resektion in der Strahlentherapie und der Frage »Wie wächst der Tumor?« kann es schnell eng auf den Monitoren werden. Mit der Apple Vision Pro kann der Kollege seinen »Screen Real Estate« signifikant vergrößern. Mit einem Kopfschwenk sieht er alle Bilder im Zeitverlauf, hat viel mehr Darstellungsmöglichkeiten und kann damit bestenfalls schneller befunden. 
Ein zweiter Use Case betrifft das CT- und MRT-Handling in der Intervention, beispielsweise Nadelpunktionen für Biopsien. Beim Blick auf den Monitor mit dem Röntgenbild geht der Blick weg vom Patienten und ist immer leicht verdreht. Die Kollegen bekommen Nackenschmerzen. Mit der VR-Brille hat der Arzt die Nadel vor sich und den Monitor dahinter, beides liegt im direkten Blickfeld und lässt sich entspannt betrachten. Also zumindest die Drehung fällt weg, momentan ist die Apple Vision Pro leider noch etwas schwer.

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Bild 1. Dr. Alexander Brost leitet den Bereich Clinical Innovation & Solutions bei Siemens Healthineers, er und sein Team entwickeln technische Antworten auf Probleme von Radiologen.
Bild 1. Dr. Alexander Brost leitet den Bereich Clinical Innovation & Solutions bei Siemens Healthineers, er und sein Team entwickeln technische Antworten auf Probleme von Radiologen.
© Siemens Healthineers

Der Hauptvorteil ist aber die Dreidimensionalität?

Hauptsächlich geht es um Stereoskopie, also das bessere räumliche Verstehen in 3D. Der Arzt kann einen kompletten Scan in 3D sehen, um ihn herumlaufen, ihn drehen. Für Chirurgen ist das großartig, die erkennen bei einer Kniefraktur auf einen Blick »Ah, Autounfall, Handschuhfach gegen Beifahrer« und wissen aus der Erfahrung sofort, welche Schrauben und Platten sie brauchen. Sehr beeindruckend und natürlich viel schneller als an einem herkömmlichen Rechner. Auch in der Herzchirurgie liegt viel Potenzial. Diese OPs sind sehr komplex. Die zusätzlichen Funktionen der Brille, ein richtiges »Reinsteigen ins Bild« und sehr präzise Visualisierungen können sowohl in der kardialen Modellierung wie auch im 3D-Druck immens helfen.

Und das Ganze geht dann auch Remote?

Korrekt. Insbesondere für seltene Spezialisten, die bisher extra eingeflogen werden, kann die 3D-Visualisierung über VR-Brillen ihr Potenzial gut ausspielen. In Zukunft könnten diese seltenen Fachärzte OPs von jedem Ort der Welt unterstützen. Jeder Arzt hat eine Brille auf, es werden die Hände und alle Bilddaten übertragen, Dinge können konkret gezeigt werden, jeder kann direkt interagieren. 

Doch neben diesen Highlight-Fällen kann jeder Radiologe mit der Apple Vision Pro remote arbeiten. Mit der Brille und einem Kaffee auf der Dachterrasse stehen, bei strittigen Fragen einen Kollegen zuschalten – schlussendlich kann die VR-Brille den Radiologen aus seinem dunklen Kämmerchen und weg von den Grauwertbildern holen. Mit einer Apple Vision Pro hat der Arzt die Beleuchtung komplett unter Kontrolle, kann sich auch zuhause mal hinsetzen und muss nicht auf dem Feldbett in der Klinik nächtigen. 

Wann haben Sie begonnen, die Apple Vision Pro zu evaluieren?

Die ersten Gehversuche Richtung Cinematic Rendering, also der fotorealistischen Darstellung von Volumendaten, liefen 2015. Ab 2017 begannen wir damit auf AR/VR-Brillen zu gehen, damals noch mit der Microsoft HoloLens2. Deren CPUs waren zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht auf so rechenintensive Operationen ausgelegt. Als wir die ersten Gerüchte um Apple hörten, waren wir sehr gespannt: Wird das eher so eine Mini-Steve-Jobs-Brille, was kann die, welcher Chip wird verbaut sein? 

Unsere Mutmaßung war, dass zumindest ein M2-Chip verbaut sein wird. Wir haben uns eine Mac-Workstation besorgt, portiert und geschaut, wie es läuft. Gott sei dank kam die Brille dann tatsächlich mit einem M2-Chip. Aber selbst wenn es anders gekommen wäre, zumindest waren wir schon in den Frameworks, konnten die jeweiligen Bibliotheken verwenden und kannten uns prinzipiell schon aus. Das sind immer die kritischsten Punkte.

Bild 2. Mit 3D-Visualisierungen aus  CT- und MRT-Bildern (Cinematic Rendering)  können Ärzte um einen Scan herumlaufen,  ihn drehen, hineinzoomen und zur  OP-Vorbereitung komplett in die  Anatomie »eintauchen«.
Bild 2. Mit 3D-Visualisierungen aus CT- und MRT-Bildern (Cinematic Rendering) können Ärzte um einen Scan herumlaufen, ihn drehen, hineinzoomen und zur OP-Vorbereitung komplett in die Anatomie »eintauchen«.
© Siemens Healthineers

Das war im Februar 2024, wie ging es weiter?

Nach vielen Zollquerelen mussten wir zunächst schauen, wie wir unseren Quellcode auf die Brille bekommen. Die Developer Strips dafür mussten auch aus den USA organisiert werden. Und schlussendlich haben wir mit unserer firmeneigenen IT noch gedealt, wie wir so ein neues und damit potenziell unsicheres Gerät bei uns ins Wlan bekommen. Lustig, aber wahr.

Jetzt befinden wir im Prototypen-Status. Das heißt, wir testen mit Ärzten und schauen nach den Business Cases. Für den Preis von aktuell rund 4.000 Euro müssen die Mediziner einen echten Mehrwert in Form von »schneller, besser, effizienter« bekommen, damit die Investition sich für ein Krankenhaus rechnet. Dieser Prozess dauert, alles muss retrospektiv betrachtet werden. Wir müssen viel mit den Radiologen und Chirurgen reden: »Was bringt dir das?« Und vorab natürlich das Onboarding mit der Klinik -IT, die Managed Services. Gott sei dank stehen Ärzte auf Apple, das macht es leichter.

Welche Anwendungen kristallisieren sich aktuell heraus?

Die Uni-Klinik Leipzig forscht intensiv zu Einsatz im OP, die Brille als Monitor-Ersatz mit deutlich mehr Informationen und einem besseren Blickwinkel. Das Remote- und Support-Thema ist interessant, auch weil die Brille derzeit noch nicht steril und spritzwassergeschützt ist. Es geistern aktuell viele Use Cases durch die Gegend: Noch ist offen, wo der Durchbruch liegt, für den die Kliniken bereit sind, Geld zu investieren.
Für einen Einsatz als Medizingerät muss sich die Brille noch weiterentwickeln. Das Gewicht ist für Ärzte ein echtes Problem, sie muss leichter werden und damit komfortabler zu tragen. Die Laufzeit muss sich verlängern. Während einer Herz-OP darf die Brille nicht ausfallen. Kann ich den Akkupack einfach wechseln? Das Thema Batterien ist für den klinischen Alltag essenziell: Es wird viel an Prozessoren geforscht, Batterien dagegen sind ein echtes Bottleneck.

Bild 4. Dummy, Diagnose am Gipfel: In Notfällen funktioniert die Apple Vision Pro auch am Berg, Mobilfunk vorausgesetzt.
Bild 4. Dummy, Diagnose am Gipfel: In Notfällen funktioniert die Apple Vision Pro auch am Berg, Mobilfunk vorausgesetzt.
© Siemens Healthineers

Abgesehen von der Apple Vision Pro, wo sehen Sie immersive Technologien im Krankenhaus?

Dank KI passen heute viel mehr Scans in einen Tag, eine Schulter geht für 19 Minuten ins MRT statt früher für eine dreiviertel Stunde. Für den Patienten ist das gut, er bekommt schneller einen Termin – aber das muss auch jemand lesen. Die Arbeitslast steigt, es fehlen Radiologen und MTAs. KI hilft effizienter zu sein, immersive Technologien ebenfalls. Sobald die Brillen leichter werden, kann man auch den Einsatz im Krankenwagen andenken, in der klinischen Ausbildung. Natürlich braucht es dazu die passende Infrastruktur, aber mit allem, was an Technologie gerade auf uns zurollt – KI-Assistenten, Copiloten etc. – werden wir nicht umhinkommen, die komplette IT-Landschaft auf diese Tools auszurichten, um den kompletten Workflow am Ende digital zu optimieren.

Was raten Sie KMU, um mit immersiven Technologien starten?

Es gibt viele Bibliotheken, mit denen ein Entwickler Richtung Visualisierung, KI oder LLMs einfach mal rumprobieren kann – z.B. um ein Gefühl für Fragen wie »Wie viele Daten brauche ich eigentlich, so eine KI zu trainieren?« zu bekommen. Ich würde empfehlen, in die nächste Uniklinik zu gehen, Radiologen und Ärzte zu befragen. Das ist erstmal ein Haus, aber es ist echtes Feedback. Auf Kongressen wie dem XR-Hub in Nürnberg gibt es einen guten Überblick: Extended Reality, Augmented Reality – welche Technik macht Sinn? 

Am Ende kommt es auf die Wirtschaftlichkeit und den Anwendungsfall an: Wir haben in Deutschland 36 Unikliniken, für Speziallösungen in der Lehre ist die Anzahl potenzieller Kunden also gering. Wer eine Applikation baut, die in allen Kliniken zum Einsatz kommen kann, hat schon 1.800 potenzielle Kunden. Doch eine Zulassung als Medizingerät ist teuer, mehr Aufwand mit QM-Systemen und Behörden. Für eine Visualisierung in der studentischen Ausbildung bräuchte es das nicht. Gerade KMU müssen sich daher genau überlegen, welchen Weg sie einschlagen, worauf sie sich spezialisieren. 

Vielen Dank für das Gespräch!


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