Abgesehen von den bestehenden Lagerbeständen, die jetzt abgebaut werden müssen, ist der Automotive-Markt aus der Sicht der Halbleiterindustrie intakt. Blechschmidt weist darauf hin, dass bereits beim letzten Halbleiter-Forum der Markt&Technik, im Jahr 2022, alle Teilnehmer betont haben: Die Megatrends im Automotive-Segment bleiben bestehen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Blechschmidt weiter: »Die Automotive-Kunden sind da, die Applikationen sind da, im Moment ist es eher der Endkunde, der Probleme bereitet. Die Kundennachfrage schwächelt, was aber auch auf politische Einflüsse zurückzuführen ist.«
Und das bestätigen ja auch die bereits erwähnten ZVEI-Zahlen. War der Automotive-Markt vor einigen Jahren noch ein kleiner, für viele Halbleiterunternehmen, unterinteressanter Nischenbereich, gehört er heute zu den wichtigsten Absatzmärkten. Steinberger weist zwar darauf hin, dass der steigende prozentuale Anteil des Halbleiterumsatzes auf dem Automotive-Markt derzeit vor allem darauf zurückzuführen ist, dass der Speichermarkt zusammengebrochen ist, aber »die Wachstumsraten im Consumer-Markt sind bei Weitem nicht die, die im Automotive-Markt zu verzeichnen sind«, kontert Adlkofer.
Und auch die anderen Forumsteilnehmer sind durchaus positiv gestimmt. Wobei Rothhaupt anmerkt, dass er erstaunt sei, wie positiv die Fahrzeughersteller mit ihren Planzahlen für das nächste Jahr sind. Rothhaupt: »Das halte ich für ein bisschen zu optimistisch. Wenn es so kommt, ist das natürlich schön. Inova plant im Moment mit einem Wachstum von 35 bis 40 Prozent, und wir sind dieses Jahr schon über 50 Prozent gewachsen.« Klar, Inova ist ein Nischenplayer, aber anscheinend einer, der immer wieder auf die richtigen Themen setzt. Rothhaupt: »Wir hatten bereits die letzten drei Jahre, auch während der ganzen Krise, jedes Jahr ein Wachstum von 50 Prozent.« Ein Umsatztreiber, den er in diesem Zusammenhang erwähnt, ist der zunehmende Einsatz von Displays im Fahrzeug. Früher saß ein CID (Central Information-Display) im Fahrzeug mit einem Sender und einem Empfänger.
Heute sind es vier bis fünf Displays. »Und wir arbeiten mit Kunden an Projekten, in denen sogar noch mehr Displays zum Einsatz kommen. Das bestätigt das, worin wir uns alle einig sind: Der Anteil an Elektronik und an Halbleitern im Fahrzeug steigt. Und auch wenn es nur 100 Millionen Fahrzeuge sind, aber jedes Fahrzeug steht für 700 oder 800 Euro bzw. Dollar an Halbleiter-Content, das ist eine ganze Menge. Da gibt es nicht viele Anwendungen, die einen ähnlich hohen Halbleiteranteil haben. Vielleicht noch der PC, aber die ganzen Konsumgüter, da steckt viel weniger Wert an Halbleitern drin, da nützt es auch nichts, dass die Stückzahlen viel größer sind«, so Rothhaupt.
Für Jens Drews, Director Communications/Government Relations bei Globalfoundries, ist der Automotive-Markt in diesem Jahr schon ein Lichtblick, und er ist überzeugt, dass sich daran auch im nächsten Jahr nichts ändern wird. Seine Aussage untermauert er mit einer sehr vereinfachten Rechnung, die Globalfoundries selbst durchgeführt hat: Derzeit verbrauchen zwei bis drei Autos in der Summe einen Wafer über alle Technologien und alle Produkte gerechnet. »Demnächst sind wir in der Position, dass ein einziges Auto zwei Wafer benötigt, um überhaupt betrieben werden zu können«, so Drews weiter. Es gibt aber noch weitere Argumente, die dafürsprechen, dass der Automotive-Markt ein wachsender Absatzmarkt ist: gesetzliche Vorschriften. In diesem Zusammenhang weist Robert Weichert, Arbeitskreisleiter bei Silicon Saxony, darauf hin, dass ab Mitte 2024 die Blackbox fürs Auto zur Pflicht wird. Weichert: »Und das fängt Mitte nächsten Jahres erst an, aber diese gesetzlichen Bestimmungen werden sicherlich einen zusätzlichen Schub bringen.«
Blechschmidt ist ähnlich wie Rothhaupt der Meinung, dass die Prognosen der OEMs für nächstes Jahr auffallend positiv sind. Das Problem dabei ist auch, dass die Tier-Ones über enorme Lagerbestände verfügen, die sie reduzieren müssen, und sich gleichzeitig auch die Abrufe der OEMs derzeit reduzieren.
Also machen die Tier-Ones ihre eigenen Abschätzungen, um herauszufinden, ob die Zahlen, die die OEMs an sie weitergeben, überhaupt korrekt sind, denn auch sie sehen die Gefahr, dass die Prognosen der OEMs zu optimistisch sind. Wie weit diese Lagerbereinigung gehen wird, muss sich noch zeigen. Hinzu kommt aber noch ein anderer Unsicherheitsfaktor: China. Adlkofer: »China war für uns immer ein Markt, von dem wir gesagt haben, was dort reingeht, bleibt in China. Das ändert sich gerade, man muss sich nur anschauen, wie stark die chinesischen OEMs weltweit aktiv werden. Das sieht man auch bei den Abrufen, China ist extrem optimistisch. China will in diesem Jahr noch sechs Millionen Fahrzeuge im Export erreichen. Letztes Jahr waren es 2,53 Millionen Fahrzeuge, das heißt, China verdoppelt seinen Export. Wir sehen also ein Wachstum in China, aber nicht um den lokalen Markt zu bedienen, sondern weil China zu einer Exportnation wird.«
Und das wird sich auch auf die Halbleiterindustrie auswirken. Denn alles, was in chinesische Autos eingebaut wird und als Exportfahrzeug irgendwo auf der Welt zu kaufen ist, wird anderen OEMs einen Teil ihres Geschäftes wegnehmen. Ergo müssten die Halbleiterhersteller sehr genau verstehen, welcher OEM erfolgreicher ist und welcher weniger. Denn je nachdem wird der OEM mehr oder weniger Halbleiter abrufen.
Im November hatte der FBDi veröffentlicht, dass sich der seit einigen Quartalen anhaltende Rückgang in der Auftragslage, der auch erwartet wurde, jetzt auch in den Umsätzen bemerkbar macht. Das dritte Quartal endete mit 1,34 Mrd. Euro Umsatz auf einem hohen Niveau, allerdings entspricht dies auch einem Minus zum Vorquartal von 1 Prozent, und auch der Auftragseingang läuft schlechter. So gingen die Aufträge um über 50 Prozent im Vergleich zum Rekordjahr 2022 zurück, die Book-to-Bill-Rate lag bei 0,51. Steinberger weiter: »In der Distribution konnte ein Umsatzzuwachs von jeweils 32 Prozent in den Jahren 2021 und 2022 erzielt werden, und selbst in diesem Jahr dürfte der Umsatz noch leicht zulegen.« Dementsprechend ist er fest überzeugt, dass 2024 für die Distribution ein schwieriges Jahr wird, mit unterschiedlichen Umsatzrückgängen bei Produkten wie passiven, elektromechanischen Komponenten oder Halbleitern. Steinberger: »Es gibt vielleicht noch ein paar Überraschungen im nächsten Jahr, aber die Distribution steht für ungefähr ein Drittel des europäischen Marktes. Unsere Läger sind voll, und wir wissen nicht, und das ist das viel größere Problem, wie die Auftragslage der Kunden zu ihren Endkunden hin ausschaut.«
Laut Steinberger wurde China auf dem CEO-Summit während der Semicon Europe nur ein einziges Mal in zwei Stunden erwähnt, und das auch nur aus Versehen. Steinberger: »Von der Forschung über die Produktion bis hin zum Ökosystem versucht man, China herauszuhalten.« Ein kluger Ansatz? Bislang sieht es eher so aus, als ob alle Versuche, China aus den modernsten Halbleitertechnologien zu verbannen, nicht funktionieren. So war erst im September bei Reuters zu lesen, dass eine Tear-Down-Analyse von TechInsight zeigt, dass SMIC eine Version von »Kirin 9000« (von HiSilicon, eine Tochter von Huawei, entwickelt) gefertigt hat, und zwar auf Basis eines 7-nm-Prozesses.
Und auch Adlkofer ist überzeugt, dass China im Halbleiterbereich aufholen wird, mit oder ohne Sanktionen aus den USA. Adlkofer: »95 Prozent der Halbleiter, die heute im chinesischen Auto verbaut werden, werden nicht in China produziert, sondern vor allem von europäischen Playern. Diese Abhängigkeit wird ein chinesischer Staat nicht akzeptieren.« Und Entwicklungen von Horizon Robotik zeigen, dass diese Ansicht durchaus korrekt ist. Horizon Robotics hatte beispielsweise auf der diesjährigen IAA Mobility 2023 ausgestellt.
Im Zusammenhang damit hieß es vonseiten Dr. Yu Kai, Gründer und CEO von Horizon Robotics: »Wir freuen uns darauf, zu zeigen, wie die energieeffizienten Computing-Lösungen von Horizon und die benutzerfreundlichen Software-Entwicklungstools die optimale Computing-Grundlage für die Ära intelligenter Mobilität schaffen. Gemeinsam mit unseren Partnern setzen wir uns dafür ein, Verbrauchern ein sichereres und besseres Fahrerlebnis zu bieten.« Adlkofer ist überzeugt, dass das nur der Anfang ist, und erklärt weiter: »Das Gleiche wird auch bei MOSFETs passieren.« Das bestätigt Rothhaupt und erklärt, dass bereits viele Anstrengungen in diesem Bereich laufen.
Steinberger weist noch auf ein anderes Problem hin: Wenn der globale Markt in Zukunft als eine »Welt ohne China« betrachtet wird, dann wird auch der Absatzmarkt für die Halbleiterhersteller deutlich kleiner. Und das, obwohl in der Halbleiterindustrie Economy of Scale zwingend notwendig ist. »Ist das nicht mehr gegeben, weil China nicht mehr beliefert wird, ist das für jeden möglichweise ein wirtschaftliches Desaster«, so Steinberger weiter.
Wobei China auszuklammern auch andere Industrien in Bedrängnis bringen würde. Bösenberg verweist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf VW und erklärt: »Die Marge, die VW in China erzielt, subventioniert hier in Deutschland die etwas schlechteren Standortbedingungen und die Arbeitsplätze.«