Neue Einsatzgebiete für Galliumnitrid

Raus aus der Consumer-Nische

6. Februar 2023, 16:00 Uhr | Ralf Higgelke
Ralf Higgelke, Gene Sheridan, Navitas, Florin Udrea, Cambridge GaN Devices, Gerald Deboy, Infineon, Denis Marcon, Innoscience
Auf der electronica diskutierte Markt&Technik-Redakteur Ralf Higgelke (ganz links) mit (v.l.n.r) Gene Sheridan, CEO von Navitas, Prof. Florin Udrea, CTO von Cambridge GaN Devices, Dr. Gerald Deboy, Distinguished Engineer Power Discretes bei Infineon, und Dr. Denis Marcon, General Manager von Innoscience Europe, darüber, warum sich Leistungshalbleiter aus Galliumnitrid (GaN) auch für industrielle und automobile Anwendungen eignen.
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Millionenfach arbeiten Galliumnitrid-Transistoren (GaN) inzwischen in Ladegeräten für unsere mobilen Devices. Doch eignen sich diese Leistungshalbleiter auch für Anwendungen jenseits von Konsumgütern, also in der Industrie- und Automobil-Elektronik?

Auf der electronica 2022 diskutierte dies Markt&Technik-Redakteur Ralf Higgelke mit prominenten Gesprächspartnern aus der Leistungselektronik. Dabei schälten sich zwei Argumente heraus, die für Galliumnitrid sprechen: die Zuverlässigkeit und die Möglichkeit, Mess- und Schutzschaltungen auf dem Chip zu integrieren.

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Dr. Denis Marcon, Innoscience Europe: »Felderfahrung ist das letzte Puzzlestück, um Industrie- und Automobilkunden davon zu überzeugen, auf GaN umzusteigen.«
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Für Dr. Denis Marcon, General Manager von Innoscience Europe, wie auch für alle anderen Diskussionsteilnehmer ist die Frage, ob GaN zuverlässig ist, geklärt: GaN ist zuverlässig. »Viele haben einfach Angst, weil es nicht genug Erfahrungswerte aus dem Feld gibt«, resümiert er das psychologische Problem der Anwender. »Und egal was für Tests man im Labor durchführt, diese Daten müssen immer durch Felderfahrung bestätigt werden. Das ist das letzte Puzzlestück, um Industrie- und Automobilkunden davon zu überzeugen, auf GaN umzusteigen«, so Marcon, der 2011 zum Thema Zuverlässigkeit bei GaN promovierte. Deshalb entwickelt sich Galliumnitrid auch vom Konsumgüterbereich hin zu Anwendungen mit hohen Zuverlässigkeitsanforderungen wie Industrie und Automobil.

Dass Galliumnitrid sogar das zuverlässigste Halbleitermaterial werden könnte, erklärt Professor Florin Udrea, CTO und Mitgründer von Cambridge GaN Devices, folgendermaßen: »GaN ist sehr effizient, weshalb die Sperrschichttemperaturen niedriger sein können als bei Silizium. Demzufolge sind GaN-Bausteine auch viel zuverlässiger, weil laut Arrhenius die Zuverlässigkeit mit steigender Temperatur exponentiell abnimmt.«

Prof. Florin Udrea (Cambridge GaN Devices), Gene Sheridan (Navitas), Dr. Denis Marcon (Innoscience Europe) und Dr. Gerald Deboy (Infineon) im Gespräch mit Ralf Higgelke auf der VIP-Bühne powered by Markt&Technik, Elektronik und DESIGN&ELEKTRONIK auf der electronica 2022.

Integration steigert Zuverlässigkeit

Ein weiterer Grund für die hohe Zuverlässigkeit von Galliumnitrid ergibt sich inhärent aus der lateralen Bauteilstruktur. »Wir können Schutzfunktionen monolithisch auf dem Chip integrieren, was bei vertikalen Leistungsbauelementen einfach unmöglich ist, also weder bei Silizium noch bei Siliziumkarbid«, betont Gene Sheridan, CEO und Mitgründer von Navitas Semiconductor. Schutz vor Überspannung, Überstrom, Übertemperatur, Kurzschluss sowie Schutz des Gate und ESD-Schutz für alle Pins seien laut Sheridan fundamentale Merkmale, die die Zuverlässigkeit von Galliumnitrid erhöhen.

Und noch einen Aspekt schält Sheridan heraus: »Zuverlässigkeit ist immer umgekehrt proportional zur Anzahl der Verbindungsstellen. Wenn es gelingt, manuelle Arbeitsschritte zu reduzieren, die Anzahl der Komponenten zu verringern und die Anzahl der Verbindungsstellen auf Systemebene zu verringern, wird die Zuverlässigkeit über den reinen Transistor hinaus erheblich verbessert.«

Das betrifft seiner Meinung nach Kühlkörper, die bei GaN oft überflüssig werden, sowie passive Komponenten, die kleiner werden und sich dadurch automatisch per Pick and Place oberflächenmontiert platzieren oder sogar in den GaN-IC integrieren lassen. Aber nicht alles muss notwendigerweise monolithisch integriert werden, so die einhellige Meinung der Experten – vor allem bei Halbbrücken. Dies ist sehr wünschenswert, denn 70 bis 80 Prozent aller leistungselektronischen Systeme beruhen auf Halbbrücken-Konzepten.

»Bei Infineon packen wir immer einen Siliziumchip ins gleiche Gehäuse, weil sich komplexere Funktionen leichter in einer CMOS-Technologie in Silizium fertigen lassen«, stellt Dr. Gerald Deboy, Distinguished Engineer Power Discretes, klar. »In Galliumnitrid integrieren wir nur das, was unbedingt dort erforderlich ist.« Darunter fallen laut Deboy neben den bereits genannten Mess- und Schutzfunktionen auch die Pull-down-Transistoren.

Eine solche hybride Integration ist laut Professor Udrea sehr effektiv, denn zwei laterale Bauteilstrukturen – also Galliumnitrid einerseits und CMOS in Silizium andererseits – ließen sich leicht »verheiraten«, weil man sich keine Gedanken um die Kontaktierung der Rückseite des Substrats machen müsse. Dennoch gibt Udrea die monolithische Integration von Halbbrücken als mittelfristiges Ziel aus.

Als neues Halbleitermaterial zeigt Galliumnitrid allerdings auch neuartige Ausfallmechanismen. »Es gibt zum Beispiel dielektrische Durchschlagsmechanismen bei HTRB, die bei Silizium nicht existieren. Auch der dynamische Einschaltwiderstand ist ein Thema, das es nur bei Galliumnitrid gibt«, gibt Dr. Deboy zu bedenken. »Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, End-of-Life-Tests durchzuführen, Komponenten also wirklich sterben zu lassen. Dann schauen wir uns die Grundgesamtheit an und erstellen daraus Weibull-Kurven.« 

"Heute hört man nichts mehr vom Current Collapse"

Außerdem ist es für Infineon wichtig, alle Prozesse hausintern zu halten. »Wir wollen wirklich alle Fertigungsprozesse entlang der gesamten Lieferkette im Griff haben«, so Deboy weiter. »Nur die Siliziumsubstrate kaufen wir ein. Das ist nicht weiter komplex. Aber bei allem anderen – der Herstellung des Super-Lattice, des Galliumnitrid-Stacks und der Transistorzelle – verlassen wir uns auf unsere eigenen Verfahren und auf unsere eigenen Fertigungsstätten.«

Prof. Florin Udrea ist beim Thema Fehlermechanismen nicht so zurückhaltend wie Deboy und nennt ein Beispiel: »Noch vor zehn Jahren diskutierten viele über vertikale Leckströme zwischen dem Drain und dem Substrat in MOSFETs und IGBTs. Heute redet niemand mehr darüber, denn mittlerweile wissen wir, dass dieser Leckstrom nur bei extrem hohen Spannungen auftritt.«

Dies überträgt er auf den sogenannten Current Collapse bei Galliumnitrid-HEMTs: »Vor ein paar Jahren sprach man noch über den Current Collapse. Heute hört man nichts mehr davon. Zwar erhöht sich der Durchlasswiderstand beim Einschalten kurzzeitig – dynamic Ron genannt –, aber diesen haben wir mittlerweile gut im Griff. Selbst bei den anspruchsvollsten Tests, mit denen man diesen dynamischen Ron hervorheben will, steigt der Wert lediglich um 20 bis 30 Prozent. Und in realen Anwendungen dürfte der Wert deutlich unter zehn Prozent liegen.«

GaN schafft sogar 10 kV!

Udrea Florin
Prof. Florin Udrea, Cambridge GaN Devices: »Ich kann nicht erkennen, dass bei GaN der Übergang zu 1,2 kV und zu Hochleistungsanwendungen problematisch sein könnte.«
© Cambridge GaN Devices

Viele meinen, Galliumnitrid sei für Sperrspannungen über 650 oder 900 V weniger geeignet als Siliziumkarbid. Dem widerspricht Prof. Udrea vehement: »Bereits heute gibt es Entwicklungen bei 1,2 kV. Und wir selbst haben im Labor ein mehrkanaliges laterales GaN-Bauelement gefertigt, das sogar 10 kV aushält! Ich behaupte nicht, dass dies ein Markt für laterale Bauelemente sein wird, aber ich kann nicht erkennen, dass der Übergang zu 1,2 kV und zu Hochleistungsanwendungen problematisch sein könnte.«

Denis Marcon stimmt dem zu und weist darauf hin, dass Siliziumkarbid schon länger am Markt und damit ausgereifter ist. »Ich frage mich, was wäre, wenn GaN zur gleichen Zeit gestartet wäre und heute die gleiche Technologiereife wie SiC hätte. Vielleicht sähe die Situation bei 1200 Volt heute völlig anders aus«, so der Innoscience-Manager.

Deboy Gerald
Dr. Gerald Deboy, Infineon Technologies: »100- und 200-Volt-GaN eignet sich für die sekundärseitige Synchrongleichrichtung. Dadurch lässt sich die Schaltfrequenz auf der Primärseite auf Hunderte von Kilohertz anheben, was wiederum nur mit High-Voltage-GaN machbar ist.«
© Infineon Technologies

Aber auch bei niedrigeren Sperrspannungen dürfte Galliumnitrid einen großen Markt finden. Dr. Gerald Deboy erklärt dies folgendermaßen: »100- und 200-Volt-GaN eignet sich als sekundärseitiges Synchrongleichrichter-Bauelement ohne Sperrverzögerung. Dadurch lässt sich die Schaltfrequenz auf der Primärseite auf Hunderte von Kilohertz anheben, was wiederum nur mit High-Voltage-GaN machbar ist.« Dem stimmt Prof. Udrea zu, gibt aber zu bedenken, dass die Vorteile von GaN gegenüber Silizium mit sinkender Sperrspannung immer kleiner werden. »Je niedriger die Spannung ist, desto höher müssen die Frequenzen sein, damit GaN seine Vorteile voll ausspielen kann«, so der CTO von Cambridge GaN Devices.

Sheridan Gene
Gene Sheridan, Navitas Semiconductor: »Mit GaN können wir alten Wafer-Fabs neues Leben einhauchen – und zwar für Jahrzehnte –, und das in der Hälfte der Zeit, die für den Bau einer neuen Fab benötigt wird.«
© Navitas

Einen letzten Vorteil, den Leistungshalbleiter aus Galliumnitrid gegenüber solchen aus Siliziumkarbid und zurzeit auch aus Silizium bietet, ist die Verfügbarkeit und die Lieferkette. Silizium-MOSFETs und -IGBTs haben immer noch extrem lange Lieferzeiten, und bei Siliziumkarbid sind die Rohwafer der limitierende Faktor. Hassane El-Khoury, CEO von onsemi, bemerkte unlängst, dass die gesamte Produktion von SiC-Halbleitern für das Jahr 2023 bereits verkauft sei.

Bei Galliumnitrid sieht die Lage ganz anders aus, denn »allein in den USA gibt es mehr als drei Dutzend 150- und 200-mm-Wafer-Fabs, die wahrscheinlich eingemottet werden«, stellt Gene Sheridan klar. »Mit GaN können wir diesen Fabs neues Leben einhauchen – und zwar für Jahrzehnte –, und das in der Hälfte der Zeit, die für den Bau einer neuen Fab benötigt wird«, so der Navitas-CEO. Diese Fabs seien vollständig abgeschrieben, sodass die Kostenstruktur gegen Null tendiert. »Wir bekommen eine Menge Kapazität und können damit die Lieferzeiten für lange Zeit sehr kurz halten.« 


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