Vom Prototyp bis zu personalisierten Medizinprodukten – der 3D-Druck hat die Medizintechnik verändert. Die schnelle und flexible Technologie wurde innerhalb einer Dekade zum unverzichtbaren Werkzeug der Fertigung. Die Anwendungen sind vielfältig – fünf Beispiele aus der klinischen Praxis.
Der 3D-Druck hat in den vergangenen zehn Jahren eine beeindruckende Entwicklung genommen: Inzwischen hat sich die Technologie als unverzichtbares Werkzeug in der Medizin etabliert. Die fortlaufende Weiterentwicklung innerhalb der Hardware und Materialauswahl hat sie zugänglicher, vor allem aber vielseitiger gemacht. Von Wirbelsäulenschablonen bis hin zu Prothesen und Kompressionsmasken – Mediziner und Techniker nutzen den 3D-Druck, um schnell, sicher und kostengünstig eine maßgeschneiderte Versorgung nah am Patienten zu realisieren.
3D-gedruckte, patientenspezifische Anatomiemodelle sind heute ein wichtiger Bestandteil der Operationsplanung. So können Ärzte dank des 3D-Drucks komplexe Eingriffe bereits vorab an lebensechten Modellen üben, maßgeschneiderte Behandlungswege definieren und darüber hinaus präziser arbeiten. In Folge können sich OP-Zeiten verkürzen, was wiederum mehr Zeit für Gespräche mit den Patienten und interne Abläufe lässt.
Use Case Wirbelsäule
Ein Beispiel dafür ist das auf Wirbelsäulenbehandlungen spezialisierte Newcastle Hospital in Großbritannien. Ein Patient litt unter einer Neuralrohrfehlbildung in Form einer übermäßigen Auswärtskrümmung des Rückgrats und damit einhergehenden starken Schmerzen. In Zusammenarbeit mit dem 3D-Drucker-Hersteller Formlabs waren die Bildgebungsexperten von Axial3D in der Lage, innerhalb von nur 48 Stunden ein maßgetreues, komplexes Modell der Wirbelsäule des Patienten anhand seiner CT- und MRT-Daten zu erstellen, zu drucken und an das Krankenhaus zu liefern. Mithilfe des 3D-Druckmodells konnten die Mediziner zeitnah und unter Berücksichtigung aller eventuellen individuellen Risiken die Möglichkeit einer verkürzenden Osteotomie beurteilen. Der komplexe Eingriff sollte die Rückenmarksspannung ohne eine direkte Nervenschädigung verringern. Der Patient und seine Familie konnten so vorab umfassender und anschaulicher über mögliche Chancen und Risiken aufgeklärt werden. Zudem konnten die Ärzte anhand des Modells bewerten, welche Stiele beim Einsetzen der Schrauben verwendet werden sollten und wie bei der OP am besten vorzugehen war.
Die Operation ließ sich auf diese Weise deutlich präziser und mit Blick auf patientenspezifische Besonderheiten planen. Außerdem war das Team durch eine komplette Operationssimulation in der Lage, die Operationszeit für den komplizierten chirurgischen Eingriff um mehr als 120 Minuten zu verringern. So konnten mit der OP verbundene Kosten in Höhe von rund 8.000 britischen Pfund gespart werden.
Use Case Tissue Engineering
Während im Fall der Wirbelsäulenbehandlung 3D-gedruckte Anatomiemodelle schon aktiv für die OP-Planung zum Einsatz kommen, müssen in anderen Fällen maßgeschneiderte Behandlungswege zunächst erforscht werden. Das zeigt das Beispiel von Dr. Sam Pashneh-Tala. Er forschte an der University of Sheffield dazu, wie künstliche Gefäße 3D-gedruckt und transplantiert werden können. Denn blockierte und beschädigte Gefäße werden bisher autolog transplantiert, das heißt ein gesundes Gefäß aus dem eigenen Körper ersetzt das beschädigte Gefäß. Doch das ist eine sehr umständliche und langwierige Operation.
Das Verfahren soll sich dank 3D-Druck grundlegend ändern. Dr. Pashneh-Tala nutzt dabei das Tissue Engineering. Er konstruierte ein Gerüst, an dem menschliche Zellen später in einer in-vitro Umgebung entlangwachsen. Durch den flexiblen und kostengünstigen Desktop-Stereolithografie-Druck konnte der forschende Arzt die verschiedenen geometrischen Formen für die Gerüste der Blutgefäße herstellen. Da es sich hier um menschliche Zellen handelt, müssen diese in einer Umgebung gezüchtet werden, die dem menschlichen Körper möglichst ähnlich ist. Dies geschah in einem Bioreaktor, der auch aus dem 3D-Drucker stammte.
Während die Herstellung sowohl des Reaktors als auch der Formen vorher Wochen dauerte, konnte der Wissenschaftler sie durch den Desktop-Stereolithografie-3D-Druck (SLA) in einem Bruchteil der Zeit und der Kosten selbst herstellen – das hat die medizinischen Forschungen von Dr. Pashneh-Tala schneller vorangetrieben. Und somit ist er seinem Ziel ein Stück weit nähergekommen, Gewebe und Gefäße individuell für jeden Patienten anzufertigen.
Nach einem schweren Unfall ist die Rückkehr in den Alltag für viele Betroffene nicht leicht. Mithilfe des 3D-Drucks werden daher Lösungen für medizinische Geräte und Produkte entwickelt, die Menschen nach einem schweren Unfall bei der Heilung unterstützen und die Rückkehr in den Alltag erleichtern sollen.
Use Case Wundversorgung
Die pädiatrische Rehabilitationseinrichtung Romans Ferrari in Miribel bei Lyon hat erfolgreich ein neues Fertigungsverfahren für die Nachsorge von Verbrennungen im Gesicht entwickelt, das schmerzfreier ist als bisherige Verfahren. Die traditionelle Fertigung von Kompressionsmasken mittels eines Gipsabdrucks war mit hohen Kosten, langen Lieferzeiten und Schmerzen für die Patienten verbunden. Das Zentrum Romans Ferrari wollte eine bessere Lösung finden, die sich kostengünstig, direkt vor Ort umsetzen lassen und dabei möglichst angenehm für Patienten sein sollte.
Mithilfe eines 3D-Scanners und des selektiven Lasersinterns (SLS) hat das französische Team Kompressionsmasken mit maßangefertigten Vorrichtungen und speziellen Reliefs entwickelt. Diese ermöglichen eine gezieltere Unterstützung auf Narbenebene und eine behutsamere Förderung der Narbenprogression hinsichtlich Adhäsion und Elastizität innerhalb der Narbe. Das Lyoner Zentrum hat bereits über 100 Patienten mit der neuen Methode behandelt – ganz ohne Gipsstreifen auf den schmerzenden Narben.
Use Case Prothetik
Auch der Prothetik eröffnet der 3D-Druck neue Wege im Heilungsprozess. So zeigt das Beispiel des kalifornischen Unternehmens Psyonic, wie mithilfe von 3D-Druckern hochwertige und gleichzeitig erschwingliche Prothesen entwickelt werden können. Die »Ability Hand« ist eine künstliche bionische Hand, deren filigrane Einzelteile mit einem hybriden Fertigungssystem hergestellt werden – eine Kombination von 3D-Druck, CNC-Maschinen und komplexen technischen sowie handwerklichen Verfahren. Für die Patienten verbessert die bionische Hand die Lebensqualität deutlich. Sie ist nicht nur leicht, belastbar und widerstandsfähig, sondern liefert über die künstlichen Finger auch sensorisches Feedback.
Im Falle der bionischen Hand konnte Psyonic insgesamt neun verschiedene Prototypen mithilfe des SLA-Druckverfahrens fertigen, überarbeiten und anpassen. Einzelne Carbonformen, die zur Konstruktion des künstlichen Unterarms gehören, fertigten und optimierten die 3D-Drucker kosten- sowie zeiteffizienter als bei einer rein maschinellen Fertigung, bis sowohl die Entwickler als auch die betroffenen Patienten mit dem Ergebnis zufrieden waren.
Auch in der medizinischen Ausbildung zettelt der 3D-Druck inzwischen eine Transformation an. So können komplexe Modelle in einem einfachen Workflow hergestellt werden, mit denen Ärzte in der Ausbildung verschiedene medizinische Eingriffe professionell und realitätsnah üben können.
Use Case Medizin-Ausbildung
Ein Beispiel dafür ist die praktische Ausbildung in der pädiatrischen Kardiologie. In der Vergangenheit waren Autopsien von Herzen oder Schweineherzen das einzige Ausbildungsinstrument. Diese müssen jedoch einerseits erst beschafft, gelagert und für das Training vorbereitet werden. Andererseits lassen sich spezifische Pathologien nur schwer reproduzieren. Daher hat Prof. Dr. Vladimiro Vida am Universitätskrankenhaus Padua, einem führenden Zentrum für Herzchirurgie in Italien, gemeinsam mit seinem Team erstmals einen transportablen und modularen Brustkorbsimulator mit einem Herzen im Inneren entwickelt. Dieser ersetzt die komplexen Autopsien von Herzen und erleichtert die Ausbildung in der pädiatrischen Kardiologie enorm. Je nach Ausbildungsbedarf können einzelne Teile des Simulators sehr einfach angepasst werden, um den Merkmalen einer bestimmten Herzerkrankung zu entsprechen.
Durch den Einsatz von 3D-Druckern konnte das Team von Prof. Vida die einzelnen Teile des Brustkorbsimulators inklusive der Herzen mit den Merkmalen verschiedener angeborener Herzerkrankungen individuell und kosteneffizient herstellen. Heute wird der 3D-gedruckte Brustkorbsimulator an der Universität Padua bei monatlichen praktischen Schulungen für angehende Ärzte verwendet. Nachdem Dr. Vladimiro Vida und sein Team ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen rund um den Simulator und den 3D-Druck geteilt haben, kommt dieser bereits in anderen Universitäten und Ausbildungszentren zum Einsatz.
Dank 3D-Druck können patientenspezifische Teile innerhalb eines Tages gedruckt werden. Biokompatible Materialien ermöglichen zudem eine schnelle und effektive Forschung und Entwicklung von kleinen Stückzahlen vor Ort. Die Herstellung von Medizinprodukten kann direkt im hauseigenen Labor statt bei externen Unternehmen erfolgen. Davon profitieren nicht nur Mediziner und Techniker, sondern vor allem die Patienten. Den Betroffenen kann schneller und individueller geholfen werden, als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Und die medizinische Forschung steht nicht still: Angesichts der rasanten Entwicklung in den vergangenen Jahren werden neue 3D-Drucker und innovative Materialien auch zukünftig für spannende Einsatzszenarien in der Humanmedizin sorgen, die das Potenzial haben, die medizinische Versorgung auf ein neues Niveau zu heben. (uh)