Welche Rolle spielen Software und Digitalisierung im Kampf gegen Krebs? Prof. Dr. Stephanie E.Combs, TUM-Dekanin und eine der führenden deutschen Radioonkologen, spricht über hilfreiche Softwaretools, den Einsatz von KI und die elektronische Patientenakte in der Krebstherapie.
Wir trafen Prof. Combs auf dem »Brainlab Novalis Circle« in München. Die internationale Netzwerk-Konferenz dient der Weiterentwicklung der Radiochirurgie und verbindet Radioonkologen weltweit. Der Wissenstransfer und die Zusammenarbeit in der Strahlenchirurgie soll den medizinischen Fortschritt in der Krebstherapie beschleunigen.
Für uns Strahlentherapeuten ist Software bereits wichtig und wird zunehmend wichtiger. Die Tools werden meiner Ansicht nach jedoch nie den Arzt ersetzen. In die Behandlung eines Patienten spielen ganz viele Faktoren hinein: Wie tickt der Mensch, der mir gegenübersitzt? Was will er, was fühlt er, wovor hat er Angst, wie mutig ist er? Dazu kommen weitere klinische Informationen: Wie hat er ein Medikament oder eine Therapie vertragen? Wie ist sein allgemeiner Zustand? Menschen können mit 45 gebrechlich und mit 80 recht rüstig sein. Ein Arzt muss neben den Tools also ganz viele Kriterien im Blick haben, die mit einer Software so nicht greifbar sind.
Ich sehe Software als Hilfsmittel, welches uns Ärzten das Leben erleichtert. Und den klinischen Alltag auch standardisiert, sie kann uns Informationen schneller zur Verfügung stellen, als dies früher der Fall war.
Am Anfang steht die radiologische Diagnose, also das Erkennen eines Tumors via CT (Computertomografie) oder MRT (Magnetresonanztomographie). Wird eine Operation durchgeführt, folgt dann die Biopsie; der Tumor wird entnommen und der Pathologe diagnostiziert die Art des Tumors, ob er gut- oder bösartig ist. Bei der radioonkologischen Therapie richten wir die Strahlentherapie ganz gezielt auf den Bereich aus, der bestrahlt werden soll – den sogenannten Tumorbereich oder das Operationsgebiet. Diesen Bereich müssen wir exakt charakterisieren und präzise identifizieren. Da spielt wahnsinnig viel Erfahrung rein, aber auch viel Zeit – das ist sehr aufwendig. Wir müssen jeden einzelnen Schnitt auf dem CT, auf dem MRT und auf dem PET (Positronenemissionstomografie) anschauen. Es muss mehr oder weniger händisch eingezeichnet und definiert werden, was bestrahlt werden soll und was nicht.
In diesem Fall kann uns die Bestrahlungsplanungssoftware eine erste Visualisierung unterbreiten, die grob den Tumor von gesundem Gewebe unterscheidet, Flüssigkeiten sowie Knochen anzeigt: Auf Basis ihrer Erfahrung kann die Software vorschlagen, wie eine mögliche Behandlung aussehen könnte. Oder die Software schlägt vor, wie das Risikoorgan aussieht. In der Strahlentherapie haben wir neben dem Tumorbereich auch gesundes Gewebe wie Augen, Sehnerven oder das Gehirn, welche wir nicht behandeln wollen – die nennen wir Risikoorgane. Wenn wir diese Organe bestrahlen oder zu viel Strahlung aussetzen würden, entstünden Nebenwirkungen, also Risiken, die wir vermeiden wollen. Für die Aussparung des gesunden Gewebes kann ich eine Software zur Kennzeichnung nutzen, dann ist das recht einfach und standardisiert definiert. Natürlich muss ich mir als Arzt noch anschauen, was die Maschine da ausgespuckt hat und es auf Basis meiner Erfahrung auf den individuellen Tumor anpassen – aber die Software erleichtert diesen Prozess sehr und hilft, schneller zum Ziel zu kommen. Das ist ein partnerschaftliches Verhältnis: Software wird meiner Ansicht nach nie einen Menschen ersetzen, erleichtert uns aber einige Handgriffe.
Genau, durch die teilweise Automatisierung spart der Arzt Zeit. Er ist mit dem Tool eventuell auch präziser. Zusätzlich gibt die Software eine gewisse Standardisierung vor. Zum Beispiel heißt das rechte Auge immer »rechtes Auge«. Und nicht einmal »Auge rechts« oder »AuRe« oder »Right Eye«, je nachdem welcher Arzt das zufällig gerade eingezeichnet hat. Mit der Software wird automatisch »rechtes Auge« gelabelt und kann dementsprechend später eindeutiger ausgewertet werden. Diese Standardisierung und Vereinfachung der Prozesse sind enorm wichtig.
In vielen Bereichen verbessert sich die Patientensicherheit, wie in dem gerade genannten Beispiel mit der eindeutigen Benennung. Und damit nachgelagert auch der Behandlungserfolg. Software kann z. B. bereits Patienten wiedererkennen, mit Barcodes oder mit Körperscans.
Wenn ein radioonkologischer Patient in sechs Wochen fast 30 Mal zur Behandlung kommt, muss sichergestellt werden, dass der richtige Patient am richtigen Tag mit dem richtigen Bestrahlungsplan auf dem richtigen Behandlungstisch liegt – das sind essenzielle Sicherheitsmechanismen.
Diese Daten gibt es noch nicht. Aber ich glaube schon, dass es am Ende so sein wird. Stand heute zeigen die Daten, dass Software im Bereich Sicherheit und Standardisierung einen guten Beitrag leistet.
Natürlich kann ein Arzt ein simples Bestrahlungsfeld, wie es vor 100 Jahren von Vincenz Czerny entwickelt wurde, auch heute noch nutzen. Das ist aber nicht mehr zeitgemäß. In der Strahlentherapie haben wir immer ein CT, meistens ein MRT, und damit haben wir auch immer ein dreidimensionales System. Dafür brauchen wir eine Software, die das Tumorvolumen, aber auch die Bestrahlung simuliert.
Unser Ziel ist es, KI zu nutzen, um aus den vorliegenden Informationen über den Krebspatienten, seinen Tumorbildern und allem Wissen, was uns zur Verfügung steht, schneller und bessere Schlüsse für eine optimale Therapie und Nachsorge zu ziehen. Außerdem kann die KI Prognosen liefern, ob der Patient möglicherweise ein höheres Risiko für einen Tumor, einen Herzinfarkt oder ähnliches hat. Was in absehbarer Zeit allerdings noch nicht möglich sein wird, sind Vorhersagen, welcher Patient eventuell einen Tumor bekommt oder nicht.
Wo wir etwas näher dran sind, ist, einen vorhandenen Tumor zu charakterisieren. KI ist bereits sehr gut darin, CT- oder MRT-Bilder zu analysieren und eine Diagnose zu stellen sowie eine molekulare Charakteristik zu bestimmen. Das kann heute noch nicht den Pathologen ersetzen. Aber es wäre sehr schön, wenn wir auch nicht-invasiv bis auf die molekulare Ebene kommen. Also ohne Eingriff zu wissen, was ist das für ein Tumor, brauche ich mehr oder weniger Strahlendosis? Wächst der Tumor eher nach rechts oder links? Dann muss der Arzt vielleicht in dieser Ausrichtung ein bisschen großzügiger sein mit der Bestrahlung. Diese Informationen würden helfen, das Bestrahlungsziel zu definieren. Das ist noch nicht gelöst, aber da arbeiten wir dran.
Und nach der Resektion stellt sich die Frage: Ist da noch Tumorgewebe? Die Antwort ist von außen oft nicht einfach, es könnte sich bei Auffälligkeiten um eine Gewebeveränderung nach der Strahlentherapie handeln. Stand heute wird eine erneute OP durchgeführt, um das Gewebe zu analysieren. Wenn wir das Gewebe per KI besser charakterisieren könnten, würde das dem Patienten eventuell eine Menge Eingriffe ersparen. Ich glaube allerdings, bis wir an diesem Punkt ankommen, haben wir noch ordentlich zu tun. Es wird viel über künstliche Intelligenz gesprochen, es wird überall verkauft. Aber die KI wirklich klinisch am Patienten zu nutzen, davon sind wir noch weit entfernt.
Es gibt kleinere, punktuelle Einsatzszenarien für die Digital-Twin-Modelle am Patienten. Aber wirklich die Therapie zu personalisieren, das können wir noch nicht. Und das ist der kritische Punkt, wo auch wahnsinnig viel falsch gemacht kann. Der Weg dahin muss – bildlich gesprochen – vorher wirklich gut getrampelt, also hart ausgetrampelt werden, bevor wir ihn klinisch und mit echten Patienten sicher beschreiten können.
Es werden jedes Jahr kleine Anwendungen, Techniken und Tools dazukommen. Es wird jedes Jahr mehr werden. Aber den Arzt wird weder eine KI noch ein digitales Modell ersetzen. KI wird ein Kollege, der mitarbeitet. Und dieser Kollege wird immer wichtiger, er wird immer mehr können und dürfen – aber er wird auch in zehn Jahren kein Allheilmittel sein.
Das Thema Datenschutz ist ein sehr schwieriges. Hinter jedem Datensatz steht ein Mensch mit einem Recht auf Privatsphäre. Falls eine Diagnose oder medizinische Information den Behandlungsraum verlässt, spürt dieser Mensch vielleicht eine Konsequenz. Sei es der Arbeitgeber oder die Bank, vielleicht bekommt er dann keinen Kredit mehr. Das sind sehr wichtige Aspekte.
Demgegenüber steht die Tatsache, dass Mediziner natürlich Daten brauchen, um zu lernen. Nicht nur für KI, sondern auch für andere Entwicklungen und Validierungen. Wir benötigen einfach Datensätze, an denen wir lernen und trainieren, anhand derer wir Statistiken bauen können. Und je größer ein Datensatz, desto solider ist die Statistik. Insofern muss man beides gegeneinander abwägen und so ausbalancieren, dass sowohl Datenzugang als auch Datenschutz bedient werden. Dazu gehört aus meiner Sicht auch ein gewisser Pragmatismus, das eine zu nutzen und das andere zu schützen.
Wenn ein Patient seine Daten der Medizin zur Verfügung stellt, spürt er selbst vielleicht noch keinen direkten Nutzen, aber er hat auch keinen Schaden davon. Doch nur auf diesem Weg können sich medizinische Techniken und Therapien weiterentwickeln. So ist das mit Massendaten, die Erkenntnisse daraus nutzen erst späteren Patienten. Jede heute im Einsatz befindliche Behandlung – ob mit oder ohne KI – wurde mit vorangegangenen Patientendaten, mit den Erfahrungen bisheriger Patienten entwickelt und erprobt.
Was mir immer wieder auffällt: Auf Instagram oder Facebook teilen sehr viele Menschen sehr persönliche Informationen, auf der anderen Seite wird der Datenschutz so hochgehängt – das widerspricht sich. Daher das Augenmaß auf beide Aspekte und Pragmatismus: Wenn man die Daten nutzt, muss man es so machen, dass sie nicht missbraucht werden können – das gilt insbesondere für die Krebstherapie.
Auf jeden Fall, die elektronische Patientenakte hat viele Vorteile. Erstens habe ich alle Informationen beisammen, die ich brauche. Der Arzt kann diese von überall einsehen, muss die Papiere nicht von einem Zimmer ins andere – oder auch in eine andere Klinik – tragen, sondern kann sich an seinem Arbeitsplatz gesichert einloggen und hat alle Unterlagen des Patienten auf einen Blick.
Ärzte können mit der ePA außerdem kontinuierlich Daten zusammentragen, diese freigeben und leicht mit anderen Behandlern teilen, sodass keine Information verloren geht. Gegenüber der Vielzahl an jetzigen Inselakten bringt die elektronische Patientenakte ein hohes Maß an Sicherheit für die Patienten. Sicherheit gegen Informationsverlust, gegen doppelte Untersuchungen und auch für eine optimalere Behandlung.
Es kommt immer auf die Diagnose, den Tumor und das betroffene Organ an. Es gibt nicht ein digitales Produkt, eine Software oder eine Maschine als Allheilmittel. Die Digitalisierung mit ihrer Technik und Software liefert jedoch zahlreiche Impulse. Die Kliniken haben verschiedene Therapien zur Verfügung und können dank der zahlreichen Daten für den einzelnen Patienten individueller und punktgenauer wählen, welche Behandlungen sie wie einsetzen.
Für Spezialtechniken in der Krebstherapie macht es Sinn, diese an ausgewählten Standorten durchzuführen, das ist auch heute schon so. Eine Klinik braucht eine gewisse Expertise, und die Expertise entsteht unter anderem dadurch, dass eine gewisse Anzahl an Patienten mit einer bestimmten Erkrankung behandelt werden. Heutige Daten zeigen klar einen besseren Outcome, wenn z. B. Patienten mit einem Tumor im Kopf-Hals-Bereich in einem darauf spezialisierten Klinikzentrum behandelt werden.
Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass wir Menschen behandeln. Gerade Krebspatienten brauchen auch eine heimatnahe Versorgung. Das muss man gegeneinander abwägen. Welche Therapie muss spezialisiert erfolgen, wo kann der Patient auch mal eine weite Strecke fahren, was muss ich in der Breite anbieten? In der Onkologie ist das onkologische Zentrum ein echtes Qualitätsmerkmal, welches für die Behandlung von Krebs zertifiziert ist und diese jeden Tag durchführt – daran wird auch die Digitalisierung oder eine Krankenhausreform nichts ändern. (uh)
Vielen Dank für das Gespräch!