Bluetooth streamt jetzt One-to-Many

»Auracast denkt Bluetooth neu, auch für Hörgeschädigte«

8. April 2024, 11:00 Uhr | Ute Häußler
Mit dem neuen Bluetooth-Streaming Auracast kann ein Sender mehrere tausend Empfänger bespielen - und ermöglicht so auch für Normalhörende völlig neue Audio-Erlebnisse.
© Bluetooth SIG

Bluetooth-Broadcasting über Auracast kann die Induktionsspule für Hörgeschädigte ersetzen – in Stereo. Doch auch Normalhörende sollen mit Audio-Streaming an mehrere Empfänger und verbesserter Übertragung profitieren – etwa am Flughafen, im Fitnessstudio oder auf Konzerten.

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Die neue Bluetooth-Funktion »Broadcast Audio« soll mehr Inklusion für Hörgeschädigte bringen und die Audioübertragung im öffentlichen Raum neu denken. Nach einer ersten Vorstellung 2022 erfolgte auf der CES 2024 der offizielle Marktstart der Technologie durch die Bluetooth SIG.

Elektronik medical sprach mit Dr. Stefan Zimmer, Generalsekretär der European Hearing Instrument Manufacturers Association (EHIMA), über die neue Anbindung für Hörgeräte und welche Vorteile die Technologie über klassische Kopfhörer oder Broadcast-Streaming auch für Normal­hörende bereithält.

Herr Dr. Zimmer, Auracast ist der neue Stern am Bluetooth-Himmel. Wie kam es zur Weiterentwicklung des Konnektivitätsstandards?

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Dr. Stefan Zimmer steht der European Hearing Instrument Manufacturers Association EHIMA vor.
© EHIMA

Dr. Stefan Zimmer: Vor fast genau zehn Jahren haben unsere Mitglieder zum ersten
Mal überlegt, ob es sich lohnen würde, einen neuen Bluetooth-Standard für Hörgeräte zu entwickeln. Er sollte die Vorteile von Bluetooth erweitern und die Nachteile der bisherigen Anbindungen ausmerzen. Ingenieure der EHIMA haben mit der Blue­tooth SIG (Special Interest Group) damals die Technologie auf den Weg gebracht, die heute Bluetooth Low Energy Audio bzw. Auracast heißt. Nach der ersten Vorstellung auf der CES 2022 kann Auracast jetzt als Funktionalität in Hörgeräten und anderen Wearables zum Einsatz kommen.

Warum wurde der neue Standard nötig? Wie wurden Hörgeräte bisher drahtlos angebunden?

Da ist zum einen die Induktionsschleife. Die T-Spulen gibt es seit mehr als 70 Jahren, die Technik ist – abgesehen von elektronischen Interferenzen – sehr verlässlich. Zudem haben wir FM-Audioanlagen und die Infrarotübertragung, bei der lediglich die Sichtlinie zwischen Sender und Empfänger frei sein muss. Und es gibt das normale Bluetooth mit 2,4 Gigahertz.

Für die Inklusion von Menschen mit einer Hörschädigung sind T-Spulen bisher das verlässlichste Mittel im öffentlichen Raum. Sie gehen z. B. in eine Kirche, halten Ausschau nach dem Zeichen für die Telefonspule, stellen sich in die Nähe und schalten ihr Hörgerät auf Empfang. Sie empfangen jedes Wort, jede Musik, alles, was emittiert wird – in Mono. Unter Umständen knistert es, das sind die Interferenzen. Die T-Spulen sind zumindest in der westlichen Hemisphäre weit verbreitet, allerdings ist die Installation relativ komplex und kostet Geld. Der Veranstalter oder Gebäudebetreiber muss eine Spule in den Boden einlassen – die Inklusion von Menschen mit Hörbeeinträchtigung muss daher wirklich gewünscht sein.

Wie wird das Streaming für Hörgeschädigte mit Auracast einfacher?

Mit Bluetooth LE Audio führen wir das Streaming für Hörgeschädigte ins digitale Zeitalter. Vor rund zehn Jahren kamen die ersten digitalen, Ready-for-iPhone-Hörgeräte auf den Markt, die 2,4-GHz-Bluetooth-Anbindung funktioniert sehr gut. Allerdings ist die Konnektivität auf ein Gerät beschränkt – wenn ich einen Kopfhörer oder ein Hörgerät mit einem Handy verbinde, kann der Stream nicht über mehrere Empfänger geteilt werden.

Hier setzt Auracast an: Die Audio-Share-Funktion sorgt dafür, dass mehrere Geräte bespielt werden können. Zwei Hörgeschädigte können beispielsweise gemeinsam vor dem Fernseher sitzen und denselben Ton hören – der Fernseher streamt mit Auracast parallel an beide Hörgeräte.

Über die Bluetooth SIG
Die 1998 gegründete Bluetooth SIG ist der Non-Profit-Fachverband, der die Bluetooth-Technologie weltweit betreut. Zur Unterstützung seiner mehr als 40.000 Mitgliedsunternehmen erleichtert die Bluetooth SIG die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder bei der Erstellung neuer und verbesserter Spezifikationen, um die Technologie erweitern und die globale Interoperabilität über Produktqualifizierungen voranzutreiben.

 

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Ob Kopfhörer oder Hörgerät – über die neue Bluetooth-Funktion Auracast können Normalhörende und Hörgeschädigte gemeinsam und parallel Audioinhalte empfangen.
© Bluetooth SIG

Funktioniert dieser Parallel-Stream auch für mehrere tausend Empfänger?

Das ist der große Vorteil des neuen Standards, mit Bluetooth LE Audio ergeben sich jede Menge neuer Möglichkeiten. Es wird beispielsweise möglich sein, eine Messehalle, eine Kongresshalle oder einen Konzertsaal mit einem Streamer auszustatten und allen Anwesenden Audioinhalte direkt ins Ohr zu liefern. Wir haben das letzten Oktober auf dem EUHA-Kongress für Hör­akustiker ausprobiert, es funktioniert prima.

Das gleiche gilt für Bahnhöfe und Flug­häfen. Statt am Gate bleiben zu müssen, können Fluggäste sich künftig in den Stream ihres Gates einloggen und derweil shoppen gehen. Über Auracast erhalten sie dennoch alle aktuellen Meldungen zu ihrem Abflug.

Ergo ist Bluetooth LE Audio nicht nur für Hörgeräte, sondern für alle BT-Empfänger gedacht?

Richtig, über Auracast kann jeder Kopfhörer bzw. jedes mit dem Standard ausgestattete Empfangsgerät bespielt werden. Wir haben Bluetooth Low Energie Audio zwar mit der Bluetooth SIG entwickelt, aber die Technologie ist nicht proprietär. Jeder, der den Standard nutzen will, kann ihn in seinen Geräten einsetzen. Unternehmen müssen ihn lediglich, wie beim normalen Bluetooth auch, zertifizieren lassen.

Wie kann Auracast das öffentliche Audio-Streaming und die Inklusion von Hörgeschädigten verändern?

Anders als bei den Induktionsschleifen ist die Installation sehr einfach und auch temporär möglich. Für ein Open-Air-Konzert beispielsweise können Sie mit einigen Streamern das ganze Feld ausleuchten, alle Besucher können die Audio-Ströme in digitaler Qualität und in Stereo hören. Und nach Ende der Veranstaltung werden die Streamer einfach wieder abgebaut. Die Geräte sind nicht viel größer als ein WLAN-Router und sehr einfach zu installieren, das ist das Revolutionäre an Auracast.

Wie steht es um die Audioqualität und Datenübertragung gegenüber dem klassischen Bluetooth?

Bei der Entwicklung des neuen Standards wurde nicht nur die Funktionalität erweitert, sondern auch die Art der Datenaufbereitung verbessert – die Qualität ist damit deutlich besser und es ist auch weniger Energie nötig. Das heißt, die Akkus der Empfangsgeräte halten länger. Zudem konnte für die Komprimierung der Daten die Anzahl der Bits im Codec verringert werden, die Datenübertragung zwischen den Geräten wird damit schneller. Wir haben also eine bessere Audioqualität, bei weniger Stromverbrauch und schnellerer Datenübertragung.

Bluetooth Low Energy Audio

Bluetooth LE Audio ist die neue Generation von Bluetooth Audio und basiert auf Bluetooth LE Version 5.2. Der neue Standard zeichnet sich durch eine verbesserte Qualität, die Unter­stützung von Hörgeräten und die Auracast-Broadcast-Funktion aus. Mit dem neuen blockbasierten Transform-Codec LC3 (Low Complexity Communnication Codec) wird die Übertragung der Audiosignale standardisiert. Das neue Verfahren verspricht weniger Energieverbrauch, eine Reichweite bis zu 100 Metern, verbessere Audioqualität und eine geringe Latenz. Mit der Möglichkeit, über Auracast einen Audiostream an mehrere Empfänger zu senden, sollen neue Anwendungen von Bluetooth profitieren – vor allem die One-to-Many-Kommunikation im öffentlichen Raum.

Bluetooth Low Energy (LE) Audio ist für den sehr energiesparenden Betrieb ausgelegt. Es ermöglicht das Streamen von Unicast- oder Broadcast-Audiodaten an Bluetooth-LE-Geräte über einen isochronen Transport. Die technischen Spezifikationen umfassen eine geringe Spitzenstromaufnahme von weniger als 15 mA, eine Leistungsaufnahme von 0,01 bis 0,50 W, den Betrieb über 40 Kanäle im 2,4-GHz-Frequenzband, eine Datenrate von 1 Mbit/s (mit der Option von 2 Mbit/s in Bluetooth 5) und eine maximale Sendeleistung von 10 mW (100 mW in Bluetooth 5). Weitere Merkmale sind hochwertiges Audio, flexible Paketplanung, Unterstützung für Stereomikrofone und verbessertes Energiemanagement. Genauere technische Spezifikationen finden sich in den offiziellen Spezifikationsdokumenten der Bluetooth Special Interest Group.

 

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Funktionsaufbau des neuen Standards Bluetooth Low Energy Audio mit der Broadcast-Funktion Auracast.
© Bluetooth SIG

Wird Auracast im öffentlichen Raum die Induktionsspule ersetzen?

Kurz- und mittelfristig wird es beide Technologien parallel geben. Wichtig ist die Inklusion so vieler Hörgeschädigter wie möglich, mit einer geeigneten und vor Ort verfügbaren Technologie. Aber natürlich werden sich Bauträger oder Veranstalter fragen, ob es noch Sinn macht, neue Induktionsschleifen zu implementieren, wenn es auf der anderen Seite eine leichter zugängliche, qualitativ bessere und günstigere Methode wie Auracast gibt. Dafür sprechen wir mit den Schwerhörigenverbänden und auch den Herstellern von T-Spulen: Wir brauchen alle im selben Boot. Bereits jetzt beobachten wir eine Veränderung; Spulenhersteller machen sich auf den Weg Richtung Streaming. Aber das ist keine Konkurrenz, sondern Evo­lution: Beide Technologien werden noch einige Jahre nebeneinander existieren.

Sie wollen mit dem neuen Streaming-Standard zudem mehr Hörgeschädigte erreichen. Wie ist das zu verstehen?

Es ist leider so, dass unabhängig vom Grad des Hörverlustes jeder zweite Betroffene es noch vermeidet, das eigene Gehör mit Technik zu stärken. Rund 20 Prozent der Schwerhörigen gehen noch nicht einmal zum HNO-Arzt, obwohl sie um ihre Hörminderung wissen. Und selbst von denen, die zum Arzt gehen und eine Verordnung für eine Hörhilfe erhalten, löst fast ein Drittel diese nicht ein. Am Ende nutzen nur 41 Prozent der Menschen, die um ihre Hörprobleme wissen, auch ein Hörgerät.  

Woran liegt das?

An der Technik schonmal nicht. Leider gibt es immer noch Vorbehalte gegen Hörgeräte. Das ist unberechtigt, mit der Digitalisierung haben sich auch die Hörhilfen stark weiterentwickelt; Hörgeräte können fast unsichtbar sein und die Hersteller arbeiten an schicken Designs. Trotzdem wollen viele Menschen nicht nach außen zeigen, dass sie eine physische Einschränkung haben. Das zieht sich durch alle Altersklassen.

Schwerhörigkeit im Alter ist z. B. eine ganz normale Begleiterscheinung des Älterwerdens. Viele Betroffene reden sich aber ein, noch zu jung dafür zu sein oder meinen, dass ein Lauterdrehen des Fernsehers reicht – und schieben den Gang zum Arzt auf die lange Bank, obwohl sie damit ein Stück Lebensqualität verlieren.

Es gibt auch ein paar Mythen zur Technik: Viele glauben, ein Hörgerät macht alles einfach lauter. Das stimmt aber nicht, sonst würden Patienten auch noch die letzten Hörzellen verlieren. Moderne Hörgeräte übertragen und verstärken gezielt Schallwellen, unterdrücken externe Geräusche und ermöglichen intelligente Anbindungen, z. B. um direkt Telefonate anzunehmen. Die digitale Konnektivität hebt das Hören auf ein vollkommen neues Level der Inklusion.

Wie kann Bluetooth Low Energy Audio der Inklusion helfen?

Die Mehrheit der Betroffenen weiß ein­fach nicht, welche Vorteile sie mit einer
modernen Hörgeräteversorgung hätten. Diese Lücke wollen wir schließen. Der neue Bluetooth-LE-Audio-Standard bietet dafür eine große Chance. In einer Studie aus dem Jahr 2022 bedauerten 59 Prozent der befragten Hörgeräteträger in Deutschland, sich rückblickend nicht früher für ein Hörgerät entschieden zu haben. Ergo, wenn alle Hörgeschädigten wüssten, wie einfach und angenehm hören mit modernen Hörgeräten sein kann – dann würden sie sich dafür entscheiden. (uh)

Über die EHIMA
Die European Hearing Instrument Manufacturers Association (EHIMA) wurde im Jahr 1985 gegründet und hat ihren Sitz in Brüssel. Der Verband hat sieben Mitglieder und deckt damit den Weltmarkt an Hörgeräten zu über 90 Prozent ab. Alle großen multinationalen Hörgerätehersteller sind Mitglied, darunter auch zwei Hersteller von Hörimplantaten sowie der weltgrößte Retailer. Als Teil des World Hearing Forum unterstützt EHIMA die Aufklärungs- und Präventionsarbeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Aktuelle Themen des Verbandes sind die neue Batterieverordnung, der Green Deal der Europäischen Union und das drohende PFAS-Verbot.

 


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