Von der Halbleiterbranche lernen

Biokonvergente Tools und KI werden die Biologie entschlüsseln

4. Juli 2025, 11:38 Uhr | Kommentar von Luc Van den hove, CEO Imec
Luc van der hove, CEO imec
© imec / Componeers

Gelingt es, ein KI-Modell für die Sprache der Biologie zu entwickeln, könnten wir Krankheiten besser verstehen und Therapien neu denken. Doch dieser Weg erfordert neue Tools, Kooperationen und eine disruptive Innovationskultur. Biotech und Pharma können dabei viel von der Halbleiterbranche lernen.

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Können wir ein Large Language Modell für die Humanbiologie entwickeln?

Die Fortschritte von Large Language Modellen wurden durch die Kombination enormer Rechenleistung mit riesigen Datenbanken voller sprachlicher Informationen ermöglicht. Wenn wir ein ähnliches KI-Modell für die Biologie, die Sprache unseres Körpers, trainieren könnten, wären wir in der Lage, unser Verständnis von Krankheiten zu verbessern und bessere Therapeutika zu entwickeln.

Dies erfordert jedoch komplexe, reichhaltige und bislang unzugängliche Datensätze. Um tief genug in die Komplexität der Biologie einzutauchen, muss unser Biotech-Instrumentarium ein Update erhalten. Eine multidisziplinäre Zusammenarbeit in einem präkompetitiven Raum ist der beste und schnellste Weg, um diese Tools zu entwickeln.


Das Training von chatGPT war eine Frage des Aufwands. Es erforderte eine enorme Menge an menschlichem Wissen, das digitalisiert, gekennzeichnet und als Datensätze bereitgestellt werden musste. Bei biologischen Daten ist unser Zugang jedoch durch viele unbekannte Variablen wie biochemische Reaktionskreisläufe, subzelluläre Organisation, zelluläre Dynamik, Zell-zu-Zell-Interaktionen usw. eingeschränkt. Solange wir nicht direkt auf diese Variablen zugreifen können, bleibt die Humanbiologie eine Blackbox. Um KI-Modelle zu trainieren, die für die Biologie nützlich sind, müssen wir die Humanbiologie digitalisieren, und zwar im großen Stil.

Biologie als Blackbox

Dies ist jedoch eine ungleich größere Herausforderung als die Entwicklung des nächsten Large Language Modells. Gemessen an der Anzahl der Bits ist die Blackbox des Lebens unglaublich groß, und wir haben nur die Spitze des Eisbergs entschlüsselt, indem wir moderne Nanotechnologien wie Sequenzierungs- und Gen-Editing-Methoden wie CRISPR/cas9 einsetzen. Wenn wir also die Biologie mit einer stark zunehmenden Bandbreite lesen und schreiben wollen, müssen wir unser Instrumentarium aufrüsten. Zum Beispiel brauchen wir dazu neue molekulare Mikroskope, um ein tiefes Verständnis dafür zu erlangen, was in den Zellen vor sich geht. Wir brauchen auch mikrophysiologische Systeme auf einem Chip, die die Umgebung (von Teilen) lebender Organe nachahmen und es uns ermöglichen, personalisierte Medikamente und Behandlungen vorab zu testen. Diese Instrumente werden erst jetzt durch die großen Fortschritte zwischen Deep Tech und Biologie möglich.

Die Technologien sind gerade dabei eine neue Ära in unserem Gesundheitswesen einläuten. Hochwertige Daten, die in KI-Modelle eingespeist werden, ermöglichen genauere Vorhersagen darüber, welche Medikamente bei einer bestimmten Person am wirkungsvollsten sein werden. Diese Entwicklungen passen zu dem Trend, eine bessere Prävention, Vorhersage und Personalisierung im Gesundheitssystem zu erreichen. Es wird keine universellen Diagnosen und Medikamente mehr geben, da wir mehr über individuelle Patientenkontexte und (genetische) Dispositionen erfahren werden.

Obwohl dieser Ansatz für Patienten enorme Vorteile bietet, ist er derzeit nicht skalierbar. Um diesen Effizienzsprung zu erreichen, bedarf es eines höheren Durchsatzes beim Screening, bei gleichzeitiger Auswertung von Millionen von Kandidaten in kürzester Zeit durch eine beispiellose Anzahl von parallel laufenden Tests mittels skalierbarer Technologie.

Interdisziplinarität und die Frage der Finanzierung

Dabei stellt sich jedoch eine dringende Frage: Wer wird die Entwicklung dieser hochkomplexen und teuren Tools finanzieren? Es handelt schließlich um ein hochgradig interdisziplinäres Projekt: Die Entwicklung erfordert sowohl fundierte Kenntnisse in Biowissenschaften als auch in den Bereichen Deep Tech und Software/KI. Zudem stehen den hohen Investitionskosten ungewisse Erträge gegenüber, da wir es hier mit Daten zu tun haben, auf die wir noch keinen Zugriff haben, was bedeutet, dass ihr genauer Wert schwer vorherzusagen ist. Außerdem sind die Endnutzer, die Pharma- und Biotechnologieunternehmen, die an den umfangreichen Datensätzen interessiert sind, die diese Tools generieren werden, auf den Verkauf dieser Tools nicht spezialisiert. Folglich sind sie nicht bereit, die Kosten oder Risiken allein zu tragen. Standardisierung ist dringend erforderlich, um eine gleichbleibend hohe Datenqualität zu erreichen.

Daraus resultiert eine deutliche Diskrepanz zu den Möglichkeiten, die mit neuen Technologien denkbar wären, und den verfügbaren Tools in der Branche. Der Sprung für ein Unternehmen allein ist zu groß, und so bleiben Innovationen, die das Leben der Menschen entscheidend verbessern könnten, auf der Strecke.

Biotech im Smartphone-Prinzip: Von der Halbleiter-Industrie lernen

Der Bedarf an massiven Investitionen, komplexen Design- und Fertigungsprozessen, Standardisierungsherausforderungen und einer Innovationsdynamik im gesamten Ökosystem zur Risikominderung ist für mich als Vertreter einer Technologiebranche ein vertrautes Szenario. Genau diese anspruchsvollen Rahmenbedingungen haben die Halbleiterindustrie dazu gebracht, zusammenzuarbeiten, gemeinsam einen Fahrplan zu erarbeiten, um das Mooresche Gesetz in einer Vielzahl von Disziplinen zu verwirklichen, auf präkompetitiver Ebene im gesamten Ökosystem zusammenzuarbeiten, sich sogar mit langjährigen Wettbewerbern zusammenzutun und gemeinsames geistiges Eigentum zu schaffen. Das hat sich als Erfolgsrezept erwiesen. Der Beweis? Das Smartphone in Ihrer Tasche ist etwa eine Million Mal leistungsfähiger als der NASA-Computer, mit dem der erste Mensch auf den Mond gebracht wurde, und dabei klein, erschwinglich und energieeffizient. Die spektakulären Fortschritte, die wir heute im Bereich der KI erleben, sind auf diesen kooperativen Ansatz zurückzuführen. Wenn die Herausforderungen für die Gesundheitsbranche ähnlich sind, warum sollten es die Lösungen dann nicht auch sein?

Die Life-Science-Branche benötigt ein ähnliches Modell der partnerschaftlichen und interdisziplinären Zusammenarbeit, bei dem die verschiedensten Akteure des Ökosystems zusammenkommen, um gemeinsam die Life-Science-Tools zu entwickeln, die Risiken zu teilen und technologisches und biologisches Wissen weit über die traditionellen Organisationsgrenzen hinaus zu kombinieren.

Forschungs- und Entwicklungszentren und Hochschuleinrichtungen können validiertes biologisches, analytisches und technologisches Wissen einbringen, Pharma- und Biotechnologieunternehmen ihre Anwendungskenntnisse, und Systemintegratoren oder Unternehmen können eine wirtschaftliche, skalierbare Lösung kommerzialisieren und sicherstellen, dass sie von den Zielkunden angenommen wird.

imec will Führungsrolle im Biotech-Universum übernehmen

Es ist kein Zufall, dass imec, das im FuE-Bereich das Herz der Tech-Branche bildet und Erfahrung mit dieser Art von Kooperationsmodellen hat, ein solches Kooperationsmodell für die Biowissenschaften zusammenstellen möchte, das globale Pharma- und Biotech-Unternehmen zusammenbringt. Die gemeinsame Nutzung von geistigem Eigentum ist in der Life-Science-Branche weitaus weniger verbreitet und wird oft mit Einnahmeverlusten in Verbindung gebracht. Angesichts der großen Komplexität der anstehenden Herausforderungen wird die Zusammenarbeit jedoch zweifellos zum Erfolg führen und den Beteiligten entsprechende Einnahmen bescheren. Jüngste Gespräche mit wichtigen Akteuren der Branche deuten auf eine wachsende Bereitschaft hin, dieser Art der Kooperation eine Chance zu geben.

Mit der generativen KI, die die Karten neu mischt, bekommen wir einen Vorgeschmack darauf, was uns im Gesundheitswesen erwartet: ein personalisierter, datengestützter Ansatz, der sowohl erschwinglich als auch effizient ist. Entscheidend wird die Datenqualität sein, mit der die KI-Modelle gefüttert werden. Wird es der KI gelingen, den Code der Humanbiologie zu knacken und neue Moleküle zur Behandlung von Krankheiten zu entwickeln, so wie ChatGPT neue Teile der menschlichen Sprache generiert?

Gut möglich, aber dafür braucht es eine neue, disruptive Arbeitskultur, beginnend mit einem Perspektivwechsel über das gesamte Ökosystem der Biowissenschaften. (uh)

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