Niederspannungs-DC-Netze stehen unmittelbar vor ihrem Rollout in der Industrie. Markt&Technik sprach mit Prof. Holger Borcherding von der Open Direct Current Alliance darüber, welche Aufgaben die Anwendungsforschung in dieser Phase hat.
Markt&Technik: Die Technik ist da, grundsätzlich lassen sich Gleichstromnetze für die Produktion und für Gebäude aufbauen, wie die DC-Industrie-Projekte und einige Firmen mit eigenen Projekten bereits gezeigt haben. Sie sind Professor an der TH Ostwestfalen-Lippe und bei der Open Direct Current Alliance, kurz: ODCA, für die Forschung zuständig. Was gibt es denn noch zu erforschen?
Prof. Holger Borcherding, Vorstandsmitglied der ODCA: Bei uns geht es ausschließlich um die Anwendungsforschung, die Grundlagen sind gelegt. Was sich über die letzten zehn Jahre allerdings geändert hat: Die Bauelemente der Leistungselektronik sind so leistungsfähig und kostengünstig geworden, dass es zum ersten Mal seit 110 Jahren günstiger ist, auf der Niederspannungsebene mit Gleichstromnetzen zu arbeiten anstatt mit Wechselstromnetzen. Das eröffnet ganz neue Einsparmöglichkeiten bezüglich der Energieaufnahme und der Ressourcen.
Wo tun sich besonders interessante Anwendungsmöglichkeiten auf?
Überall rund um die Energiewende, ob Fotovoltaik, Batterien, E-Autos, Rechenzentren, alles funktioniert mit Gleichstrom. Dank der Komponenten der Leistungselektronik müssen wir nun nicht mehr ständig zwischen AC und DC wechseln und können viel effektiver werden. Insbesondere auch für die dezentrale Energieversorgung sind die Gleichstromnetze einfach besser. Sie passen sehr gut zu den Anforderungen, die sich durch die Energiewende ergeben.
Wo sehen Sie den Hauptmarkt für die Gleichstromnetze?
Der größte Sektor ist die Produktion in der Industrie. Hier werden jetzt Gleichstromnetze einziehen, die die 400-V-Drehstromnetze ersetzen können. An diesen Drehstromnetzen wird die meiste elektrische Leistung verbraucht, daher lohnt es sich dort besonders, die mit den Gleichstromnetzen verbundenen Spareffekte zu nutzen.
Wie sieht das DC-Netz genau aus und wo wird es Anwendung finden?
Wir bieten eine Systemspannung von 650 bis 700 V und erlauben einen Arbeitsbereich, der zwischen 400 und 800 V liegt. Dadurch wird vieles einfacher als mit einer fest vorgegebenen Spannungsebene. Interessant für die Gleichstromnetze sind auch Gebäude bis hin zu Supermärkten und Veranstaltungszentren wie Stadien, Rechenzentren, Flughäfen und die Intralogistik im Allgemeinen. Überall geht es um dezentrale Erzeugung und darum, PV-Anlagen, Batterien, Wärmepumpen usw. einzubinden. Ein weiteres interessantes Thema ist das Laden von E-Fahrzeugen.
Hierfür wurde als Beispiel gerade das Projekt »DC Industry for Charge«, kurz: DCI4Charge, gestartet, in dem wir die guten Erfahrungen mit industriellen DC-Netze für das Laden bereitstellen wollen. Außerdem müssen wir aber auch immer wieder DC- mit AC-Netzen koppeln und dafür die entsprechenden Komponenten entwickeln. Denn die Energieverteilung in örtlichen und regionalen Netzen wird weitgehend Drehstrom bleiben.
Es gibt auch Bestrebungen, Gleichstrom in die Mittelspannungsebene zu bringen; in Aachen hat Prof. DeDonker beispielsweise ein DC-Mittelspannungsnetz aufgebaut. Beschäftigen Sie sich auch damit?
Nein, wir konzentrieren uns auf die Niederspannung. In der Mittelspannung sind die DC-Komponenten noch vergleichsweise aufwendig. Der Einzug der DC-Technik wird auf dieser Ebene deshalb länger dauern, zumal die Anwender in diesem Markt viel konservativer sind.
Zumindest auf der Niederspannungsebene gehört die Zukunft also den DC-Netzen?
Auf jeden Fall. Netzerweiterungen in AC durchzuführen ist einfach nicht mehr sinnvoll. Zwar gibt es noch Skeptiker, aber das wird sich bald legen. Wir sind in der Phase, in der der Rollout beginnt. Einfach weil die DC-Netze so viele Vorteile bieten. Das haben die Projekte im Rahmen von DC-Industrie I und II, an denen ich maßgeblich beteiligt war, bereits gezeigt.
Wenn eigentlich technisch alles geklärt ist, wo gibt es dann noch konkreten Forschungsbedarf?
Es gibt immer noch offene Fragen, die wir im Rahmen der Anwendungsforschung klären müssen. Das betrifft vor allem die Schutz- und Schalttechnik, die sich von den entsprechenden Techniken in den Wechselstromnetzen deutlich unterscheidet. Weil die internen Kapazitäten im DC-Netz sofort Strom liefern, schlagen dort Fehler und Kurzschlüsse sehr viel schneller durch als in den induktiven Wechselstromnetzen. Deshalb müssen die Schutzvorrichtungen anders ausgelegt werden. Hier kann noch viel Neues entwickelt werden, beispielsweise um weiter Kosten zu sparen.
Außerdem tut sich im Bereich der Bauelemente der Leistungselektronik sehr viel, insbesondere im Umfeld der Wide-Bandgap-Halbleiter wird ständig weiterentwickelt und verbessert. Hier sind deshalb weitere Forschungsprojekte sehr sinnvoll. Ein weiteres Thema ist das Verhalten von Schmelzsicherungen im Millisekundenbereich, das noch nicht durchgehend erforscht ist. Denn das Schmelzintegral in DC-Netzen sieht ganz anders aus als in AC-Netzen. Derzeit ist das noch nicht in den Normen zu finden, aber die ODCA hat sich vorgenommen, dies sehr bald zu ändern.
Ein weiteres Beispiel sind sogenannte Solid-State-Schutzschalter, die keine Lufttrennstrecke mehr haben. Sie werden vor allem in der E-Mobilität vorangetrieben. Ein E-Auto ist ja nichts anderes als ein fahrendes DC-Netz mit 800 bis 900 V. Zudem kümmern wir uns wie angesprochen auch um das Hochstromladen. Interessant ist auch das Thema Energiemanagement: In welchen Teilen des Netzes soll es durchgeführt werden? Wo sind die Geschäftsmodelle? Da ist auch noch einiges zu tun für die Anwendungsforschung.
Es geht also primär darum, bestehende Komponenten wie DC/DC-Wandler zu verbessern?
Ja, in einigen Bereichen fehlen noch optimierte Komponenten. Wir brauchen neue, auf unterschiedliche Leistungsbereiche hin optimierte DC/DC-Wandler für unterschiedliche Leistungs- und Spannungsbereiche. Nicht nur bei den ODCA-Partnern, weltweit wird an DC/DC-Wandlern massiv gearbeitet. Die DC-Industrie-Projekte haben exemplarisch gezeigt, dass diese Wandler sehr gut funktionieren. Wir in der Forschung können jetzt beschleunigend wirken, weil wir an Wandlern für offene und nicht proprietäre Systeme arbeiten.
Dazu ein Beispiel: Sehr häufig geht es darum, AC- und DC-Netze zu koppeln, dafür sind sogenannte Active Infeed-Converter, kurz: AICs, erforderlich, bei denen der elektrische Energiefluss in beide Richtungen geht. Vor 20 Jahren war das ganz neu und ich habe mit an ihrer Erforschung und Entwicklung gearbeitet. Hier können immer noch neue Topologien entwickelt werden, die auf bestimmte Einsatzfälle optimiert sind.
Dennoch ist das Wissen um die Vorteile der DC-Netze derzeit noch begrenzt, besonders bei denen, die sie installieren sollten. Sie sind eben die AC-Technik gewohnt. Was tun Sie, um diesem Mangel abzuhelfen?
Das stimmt, der Bereich der Elektroplanung ist für uns eine riesige Herausforderung. Wie können wir es den Elektroplanern einfach machen, DC-Netze zu installieren? Im Moment wollen alle am liebsten AC machen, weil sie AC-Netze seit Langem kennen und weil sie die Projekte deshalb sehr schnell umsetzen können. Damit Elektroplaner sich mit den DC-Netzen vertraut machen können, haben wir ein Transferzentrum in Lemgo eingerichtet, zwei weitere betreiben das Fraunhofer IISB in Erlangen und das Fraunhofer IPA in Stuttgart. Dort finden Schulungen und Austausch statt, und neue Geräte können ebenfalls am DC-Netz getestet werden.