Warum der ZVEI die Open Direct Current Alliance (ODCA) gegründet hat, worin die Vorteile von Gleichstromnetzen in der Industrie bestehen und was die Ziele der ODCA sind, erklärt der Sprecher des Vorstandes im Interview mit Markt&Technik.
Markt&Technik: Die Open Direct Current Alliance, kurz: ODCA, hat sich zum Ziel gesetzt, Gleichstromnetze auf der Niederspannungsebene in die Industrie und in Büros zu bringen. Sind dazu noch technische Hürden zu nehmen?
Dr. Hartwig Stammberger, Sprecher des Vorstandes der ODCA: Nein, die Technik funktioniert, alle erforderlichen Komponenten arbeiten einwandfrei. Wir hatten uns die größte Mühe gegeben, um etwas zu finden, das nicht funktioniert – vergebens. So haben wir in unseren Modellanlagen über 80 Kurzschlüsse erzeugt, die allerdings alle sicher und schnell erkannt und gelöscht werden konnten.
In Gleichstromnetzen war die Löschung von Kurzschlüssen immer ein kritischer Punkt, weil es ja dort naturgemäß keinen Nulldurchgang gibt wie bei Wechselstrom. Sind auch die dafür erforderlichen Schalter reif für die Anwendung in der Praxis?
Es gibt bereits mehrere Hersteller, die diese Schalter auf Basis von Leistungshalbleitern entwickelt haben. Die Fortschritte in der Halbleitertechnik haben es über die vergangenen zehn Jahre erst ermöglicht, die Vorteile der Gleichstromnetze nutzbar zu machen. Denn die bisher eingesetzten elektromechanischen Schalter reagieren zu träge für die in industriellen Gleichstromnetzen sehr schnell ansteigenden Kurzschlussströme. Die Schalter auf Basis der Leistungselektronik reagieren innerhalb weniger als 100 µs, damit sind wir auf der sicheren Seite.
Jetzt kommt es also darauf an, die Technik in die realen Anwendungen zu bringen …
… weshalb der ZVEI die ODCA gegründet hat. Wir sehen unsere Aufgabe vor allem darin, die Standardisierung und Regulierung voranzutreiben und Unterlagen für Planer und Errichter bereitzustellen, hier besteht noch Handlungsbedarf. Die Planer und Endanwender müssen einfach damit umgehen können, und sie müssen wissen, nach welchen Vorschriften die Gleichstromnetze sicher aufgebaut werden können. Im Übrigen ist das auch für die Versicherungen ein wesentlicher Punkt.
Ist die ODCA im Wesentlichen eine deutsche Organisation?
Ganz und gar nicht, die ODCA will das Thema auf europäischer Ebene und auch weltweit vorantreiben, um den Aufbau eines Gleichstromökosystems zu ermöglichen. Es handelt sich also um keine deutsche Veranstaltung, die ODCA ist international angelegt, was schon ein Blick auf die Gründungsmitglieder zeigt, zu denen Unternehmen wie Schneider Electric, Siemens, Danfoss und Eaton gehören, auch ABB wird demnächst dabei sein. Deshalb ist es kein Zufall, dass der ZVEI die ODCA gegründet hat. Denn der ZVEI hat international schon viele Erfahrungen sammeln können, etwa bei der Etablierung von 5G in der ZVEI-Arbeitsgemeinschaft 5G Alliance for Connected Industries and Automation, kurz: 5GACIA. Zu den weiteren Aufgaben der ODCA gehört es, viele weitere Use Cases für die Gleichstromnetze in der Industrie zu demonstrieren.
Welche Use Cases gibt es denn schon?
Die ODCA ist aus dem Projekt »DC-INDUSTRIE2« hervorgegangen, das 2019 gestartet wurde und 2023 ausläuft. In diesen Rahmen gab es zehn Modellanlagen, beispielsweise bei den Firmen Kuka (Roboter), Homag (Maschinen für die Holzbearbeitung) und den Automobilherstellern BMW und Mercedes-Benz sowie am Fraunhofer-Institut für Produktion und Automatisierung IPA und an der TU Ostwestfalen-Lippe in Lemgo. All die Anwendungsfälle haben gezeigt, dass die Technik funktioniert und dass sie Vorteile bringt.
Wie sehen diese Gleichstromnetze konkret aus?
Das Niederspannungsverteilnetz auf Gleichstrombasis arbeitet bei einer Spannung zwischen 620 und 750 V. Diese Spannung ergibt sich aus der Umwandlung des 400-V-Drehstroms in den Gleichstrom. Dabei ist zu beachten, dass die Anforderungen an die Isolierung im Gleichstromnetz nicht höher liegen als die für das 400-V-Drehstromnetz. Dafür werden aber nur zwei statt drei Leiter gebraucht.
Welche weiteren Vorteile ergeben sich?
Es wird ja sowieso schon viel mit Gleichstrom gearbeitet, die PV-Anlagen und die Batterien liefern Gleichstrom und die Batterien müssen auch mit Gleichstrom geladen werden, was besonders die Ladeinfrastruktur für E-Fahrzeuge betrifft. Da lässt sich schon mal einiges an AC/DC-Wandlern sparen, wenn von vorneherein mit Gleichstrom gearbeitet wird. Außerdem reduziert sich der Kupfereinsatz in Kabeln und Leitungen. Gegenüber dem Drehstromnetz wird um 50 Prozent weniger Kupfer benötigt.
Insgesamt führt das zu niedrigeren Investitionskosten; das summiert sich bei hunderten Kilometern Kabel, die in großen Produktionshallen verbaut sind. Es fallen aber nicht nur die Investitionskosten, sondern auch die laufenden Betriebskosten. Denn es gibt keine Blindleistung, die die Drehstromnetze belastet, ohne dass Wirkleistung an den Motoren ankommt. Wenn kurzzeitig sehr hohe Energiemengen erforderlich sind, kommt sie in Gleichstromnetzen aus den Batterien und muss nicht vom Versorger bereitgestellt werden. Das trägt auch zu sinkenden Betriebskosten bei, weil der Preis für den Strom auch von der maximalen Einspeiseleistung abhängt.
Was ist mit den Drehstrommotoren in den Fertigungen?
Die bleiben selbstverständlich. Im Drehstromnetz werden sie über die Frequenzumrichter gesteuert, die mit einem Gleichstromzwischenkreis arbeiten. Im Gleichstromnetz kann der Gleichstrom also direkt herangeführt werden, die Wandelstufen entfallen und die Rückspeisung von Bremsenergie wird einfacher. Es kommt darauf an, die Energie effektiv zu den Drehstrommotoren zu bringen. Dadurch lassen sich nicht nur bis zu 10 Prozent der Energie einsparen, darüber hinaus wird die Anschlussleistung geglättet sowie die Verfügbarkeit der Maschinen erhöht.
Gibt es außerhalb der DC-INDUSTRIE-Projekte weitere Beispiele dafür, dass Unternehmen bereits auf Gleichstromnetze in der Produktion setzen, weil sie von den Vorteilen überzeugt sind?
Schaltbau hat bereits ein solches Netz in ihrer »NExT Factory« in Velden/Niederbayern aufgebaut. Das Fraunhofer IPA rechnet damit, dass sich in der Gleichstromfabrik von Schaltbau die Verluste im elektrischen Energiesystem um 60 Prozent reduzieren. Aber es gibt eben noch Schwierigkeiten: Schaltbau gehört zu den Gründungsmitgliedern der ODCA, und Dr. Jürgen Brandes, CEO von Schaltbau, hat auf unserer Gründungsveranstaltung darüber gesprochen, welche Hürden für den Aufbau des Gleichstromnetzes zu nehmen waren.
Sein Fazit lautete: Die Planung funktioniert und die Regulierungen können eingehalten werden, wenn vieles selbst gemacht wird. Um die Gleichstromnetze jetzt in die Industrie zu bringen, wäre der Aufwand zu hoch. Genau hieran arbeitet die ODCA. Jetzt kommt es darauf an, hier in Europa schnell in die Umsetzung zu kommen, sonst kümmern sich andere darum.
Gleichstromallianz für die Energiewende
Der ZVEI hat Anfang November mit 33 Unternehmen aus Industrie, Hochschule und Forschung die Open Direct Current Alliance (ODCA) gegründet. Ziel ist der weltweite Aufbau eines Gleichstromökosystems. Zum Vorsitzenden wurde Dr. Hartwig Stammberger, Eaton Industries, zum stellvertretenden Vorsitzenden Dr. Jan Stefan Michels, Weidmüller, gewählt.
Zu den ODCA-Gründungsmitgliedern zählen Audi, Bender, BLOCK, Danfoss, Eaton Industries, ESR Pollmeier, E-T-A, ETO Magnetic, Fraunhofer IISB, Fraunhofer IPA, FAU Erlangen-Nürnberg, Harting, Innelekt, Jean Müller, KEB, Keba, Kuka, Lapp, Lenze, Maschinenfabrik Reinhausen, Murrelektronik, Paul Vahle, Phoenix Contact, Rittal, Schaltbau, Schneider Electric, Siemens, Socomec, TH Ostwestfalen-Lippe, TU Braunschweig, TU Ilmenau, Weidmüller, Wöhner.