Medizintechnik im Portrait // Navify

Wenn der Arzt einen Algorithmus verordnet

1. August 2023, 10:25 Uhr | Ute Häußler
Zukünftig sollen Ärzte KI-Algorithmen wie heute Biomarker im Labor anfordern können.
© JPDC / Adobe Stock

Navify, die Digital-Health-Plattform des Pharmakonzerns Roche, will mit Künstlicher Intelligenz eine neue Art Medizintechnik und Diagnostik etablieren - und mit Healthcare-IT für Labore, Pathologien und Kliniken Workflows optimieren sowie bisher ungenutzte Daten vernetzen.

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Mit Millionen diagnostischer Tests pro Tag sind Labore eine wichtige Quelle für Gesundheitsdaten. Viele Labordaten werden bisher jedoch nicht weiterführend ausgewertet. Über KI-Algorithmen bietet sich die Chance, diese ganzheitlich zu analysieren und Ärzte sowie klinische Prozesse mit Mehrwissen zu unterstützen. Hier setzt Navify an: Der noch junge Geschäftsbereich bündelt das Digitalportfolio der Diagnostiksparte von Roche und widmet sich neuen, digitalen Medizinprodukten. Die zumeist KI-unterstützten Softwarelösungen sollen die Abläufe in Labor und Klinik effizienter gestalten sowie die Diagnostik und Patientenversorgung verbessern. Ärzte sollen über bestehende IVD-Systeme (In-Vitro-Diagnostika) und die neuen Algorithmenbibliotheken zukünftig KI-Prognosen wie heute Biomarker bestellen können.

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Der CE-IVD-gekennzeichnete GAAD-Algorithmus unterstützt durch einen semiquantitativen Risiko-Score bei der Diagnose eines HCC (Hepatozelluläres Karzinom, Leberkrebs).
© Navify

Digital-Health-Produkte von Navify

Navify bietet eine Vielzahl von Digital-Health-Produkten für verschiedene medizinische Zielgruppen wie die Labordiagnostik, den Point-of-Care oder in der Pathologie. Zu den digitalen Softwarelösungen, die über eine Art »App-Store« bezogen werden können, gehören u.a. der »Mutation Profiler«, welcher durch genomische Varianteninterpretation und Reporterstellung Entscheidungen zur Krebstherapie unterstützt. Die »Algorithm Suite« ist ein KI-Bibliothek, deren Algorithmen über bestehende Daten für die Früherkennung und Prognose spezifischer Indikationen zum Einsatz kommen. »GlucoTab« unterstützt Ärzte und Pflegekräfte, indem es die richtigen Insulindosen berechnet und die Arbeitsabläufe in der Insulintherapie verbessert. Und mit dem »Tumor Board« können Ärzte die Therapie von Krebspatienten einfacher vorbereiten und koordinieren. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Navify-Anwendungen für die Optimierung von Klinikabläufen, die Laborautomation und das PoC-Management.

Technische Anbindung in Labor und Klinik

Roche Diagnostics stellt eine Vielzahl von integrierten Laborsystemen her, dazu gehören u. a. Geräte für die klinische Chemie und Immunoassays als auch molekulare Diagnosesysteme. Viele Labore und Kliniken besitzen also eine bestehende Diagnosegeräte- und Systemlandschaft, auf welche die Digital-Health-Produkte aufgespielt und auf Wunsch um neue Produkte erweitert werden kann – ohne zusätzlichen IT-Aufwand. Die Navify-Plattform verfügt über vielfältige Standardschnittstellen zu Krankenhaus- und Laborinformationssystemen.
Die Labore können die neuen KI-Services in ihren Laborkatalog aufnehmen, die Kliniken diese über ihr Order-Entry-System wie heute Laborparameter abrufen. Im Laborsystem zieht sich der Navify-Service die Daten, die er zum Kalkulieren braucht und liefert auf demselben Weg zurück das Ergebnis an Labor und Arzt aus.
Innerhalb der Algorithmusbibliotheken arbeitet Roche an eigenen Deep-Learning-Lösungen – kuratiert, prüft und bindet aber auch externe Anbieter und Kooperationsprodukte ein. So sucht Roche beispielsweise auf Veranstaltungen wie der Bits & Pretzels Health gezielt nach Start-ups mit guten, CE-zertifizierten Algorithmen für die Navify-Plattform und hilft den Unternehmen über die vorhandene Klinik- und Laboranbindung sowie technisch-standardisierten Infrastrukturen in die Breite zu kommen. Alle medizinischen KI-Produkte sind dementsprechend geprüft und zertifiziert – die Labore und Kliniken bekommen als Anwender regelmäßige Updates.

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Patrick Kammer, Network Lead Provider Insights, ist eine Art Digital Health-Evangelist bei Roche Information Solutions.
© Roche

Nutzen für Patienten und Ärzte

Die Navify »Algorithm Suite« liefert als Softwarebibliothek beispielsweise CE-zertifizierte klinische Algorithmen und soll medizinischen Mehrwert per Datenvernetzung schaffen. Ein Arzt kann über die bestehende Systemlandschaft eine KI-Prognose wie einen Bluttest anfordern – die Algorithmen unterstützen so evidenzbasiert medizinische Entscheidungen zu therapeutischen oder operativen Folgemaßnahmen. Der GAAD-Algorithmus (Geschlecht, Alter, AFP, DCP) beispielsweise liefert für Patienten mit einer schon fortgeschrittenen Lebererkrankung eine semiquantitative Leberkrebsprognose. Ein hepatozelluläres Karzinom wird mit klassischen Mitteln oft sehr spät entdeckt, für den Gastroenterologen ist der GAAD-Score damit ein weiterer Datenpunkt, um Leberkrebs sehr früh zu erkennen und damit die Heilungschancen und die Überlebensrate von Patienten zu erhöhen. Für die Ärzte kommt hinzu, dass sie mit der Nutzung von Algorithmen selbst weniger Zeit für die Interpretation von Laborergebnissen aufwenden müssen.

Ein weiterer Algorithmus, der laut Patrick Kammer, Network Lead Provider Insights bei Roche Information Solutions, bald unter dem Namen »Colon Flag« auf den Markt kommen soll, dient der Früherkennung von Darmkrebs. »Aufgrund der unangenehmen und invasiven Untersuchungen wie Koloskopie oder Stuhltest scheuen viele Menschen die Vorsorge. Unser mit einem Start-up aus Israel entwickelter Navify-Service soll anhand von Laborergebnissen und demografischen Daten zeigen, ob ein erhöhtes Risiko vorliegt und so Folgeuntersuchungen anregen«, so Kammer.

Abrechnung der Digital Health-Services

Eine grundlegende Problematik digitaler Gesundheitsprodukte ist oftmals noch die Finanzierung und Abrechnung in der medizinischen Wertschöpfungskette. Auch im Falle von Navify ist es derzeit noch so, dass die Krankenkassen bisher keine Algorithmen per se vergüten, es gibt keine Abrechnungsziffer für die Anforderung von KI-Diensten. Im Beispiel der Navify-Algorithm-Suite zahlen Labore eine jährliche Nutzungsgebühr, pro Nutzung eines Algorithmus wird ein Zusatzbetrag fällig. Im Falle von HCC (Hepatozelluläres Karzinom) kann die KI-Prognose sogar über das DRG-System (Diagnosebezogene Fallgruppen, Klassifikationssystem für die pauschalierte Abrechnung) im Krankenhaus abgerechnet werden, andere Algorithmen dagegen müssen die Kliniken über entstehende Folgeeinsparungen querfinanzieren. Einzelne Navify-Services sind zudem über das Krankenhauszukunftsgesetz förderwürdig. Jana Seifert, Communications Lead bei Roche Diagnostics, fordert daher: »Langfristig müssen sich die Vergütungssysteme am digitalen medizinischen Fortschritt orientieren und KI-Services inkludieren.«


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