Angesichts verschiedenster Herausforderungen auf globaler und nationaler Ebene rechnet Dr. Tomas Zednicek, Gründer und President des European Passive Components Institute (EPCI), erst im Herbst wieder mit einem Wachstum des Marktes. Das Preisniveau bleibt bis dahin deutlich über Vor-Covid-Niveau.
Markt&Technik: Dr. Zednicek, wie ist Ihrer Meinung nach die aktuelle Situation auf dem europäischen Markt für passive Bauelemente? Blockieren überfüllte Lager bei Distributoren und Kunden derzeit das Folgegeschäft?
Dr. Tomas Zednicek: Aus meiner Sicht stellt sich die aktuelle Situation auf dem europäischen Markt gemischt dar. Auf der einen Seite gibt es ein deutliches Überangebot an Bauelementen, wobei Distributoren und Kunden berichten, dass ihre Lager überfüllt sind. Zurückzuführen ist das auf mehrere Faktoren, darunter die langsamere Erholung nach der Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die anschließende Krise mit hohen Energiekosten und die weltweite Halbleiterknappheit. Diese Faktoren sind schon seit einiger Zeit auf dem Markt präsent – nach einem starken Jahr 2021 gab es eine Korrektur im Jahr 2022 und ein sehr vorsichtiges Jahr 2023. Die Hersteller in Europa sind immer noch mit dem Gegenwind der hohen Energiekosten konfrontiert. Importeure müssen sich auf höhere Transportkosten und Unterbrechungen der Logistik- und Lieferkette unter den derzeitigen geopolitischen Bedingungen wie etwa dem aktuellen Konflikt im Roten Meer einstellen.
Es gibt jedoch einige Anzeichen dafür, dass sich die Situation zu verbessern beginnt. In den letzten Monaten gab es Berichte darüber, dass einige Distributoren damit begonnen haben, ihre überschüssigen Lagerbestände abzubauen, und die Preise für einige Komponenten haben begonnen, sich zu stabilisieren. In den USA ergab die ECIA-Umfrage für nordamerikanische elektronische Bauelemente für den 24. Januar starke Erwartungen in allen drei Berichtssegmenten – Herstellung, Vertrieb, Vertreter –, was eine gute Zuversicht und positive Stimmung für das Jahr 2024 vermittelt. Darüber hinaus könnten bestimmte Produkte in den wachstumsstärksten Segmenten wie etwa Leistungselektronik noch mit längeren Vorlaufzeiten und Herausforderungen in der Lieferkette konfrontiert sein.
Mein Fazit: Die Branche ist nach wie vor sehr vorsichtig, da die aktuellen geopolitischen Überlegungen einen stärkeren Einfluss auf die Marktaussichten zu haben scheinen, als wir vorhersagen können. Andererseits ist die wachsende Nachfrage nach Elektronik aufgrund der Elektrifizierung des Verkehrs, der Energieerzeugung , -rückerzeugung und -speicherung oder des Bedarfs an KI-Rechenleistung vorhanden und wird die Anforderungen in diesem Jahrzehnt unaufhaltsam vorantreiben. Daher bin ich nicht der Ansicht, dass die aktuelle Marktsituation das Wachstum des Folgegeschäfts wesentlich einschränken wird.
Im Prinzip ist dieses Abschmelzen der Lager eine völlig normale Situation nach Allokationszeiträumen. Wie lange wird das Ihrer Meinung nach dauern?
Wir wissen nicht, wie lange die derzeitigen Unterbrechungen der Lieferkette dauern werden und inwieweit sie sich auf den sich derzeit langsam erholenden Markt auswirken werden. Dennoch können wir hoffen, dass sich die Lage in Europa in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 zu normalisieren beginnt. Möglicherweise werden wir bald Verbesserungen auf dem US-Markt sehen, denen später auch Europa folgen wird. Sowohl der Vertrieb als auch die Kunden könnten im zweiten Quartal 2024 Anzeichen für eine steigende Nachfrage sehen, und die Hersteller können auf einen guten Herbst 2024 hoffen.
Gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern in Europa? Wie wichtig ist der Transformationsprozess, den die europäische Automobilindustrie derzeit durchläuft, für die aktuelle Situation? Wie schätzen Sie den Bereich Industrieelektronik ein?
Die Energiekrise hat vor allem die traditionell stark energieabhängigen Industrieländer wie Deutschland oder die Tschechische Republik getroffen, wo die Erholung schmerzhafter ist und mehr Zeit benötigt. Was die Bestände betrifft, so ist Deutschland ein wichtiges Zentrum für die Herstellung elektronischer Geräte mit einer großen Zahl von Händlern und Kunden, die eine große Vielfalt passiver Bauelemente nachfragen. Daher verfügt Deutschland auch über den größten Bestand an passiven Bauelementen in Europa, gefolgt von Frankreich und Italien, die zusammen etwa den gleichen Bestand wie Deutschland aufweisen.
Die Elektrifizierung des Verkehrswesens ist einer der Megatrends für elektronische Bauteile und stellt für Europa eine zentrale Herausforderung dar, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können – von der Infrastruktur über die Mikromobilität, Elektrofahrzeuge, automatisierte unbemannte Fahrzeuge bis hin zu Lastkraftwagen und Elektroflugzeugen. Die europäische Automobilindustrie befindet sich an einem Scheideweg und steht vor Herausforderungen auf mehreren Ebenen. Angesichts der derzeitigen Entkopplung der Lieferketten, der globalen Präsenz in Zeiten der Deglobalisierung, der termingerechten Lieferung bei Unterbrechungen der Lieferkette und der niedrigeren Eintrittsbarrieren für Neueinsteiger ist es schwierig zu lernen, wie man mit mehreren Partnern gleichzeitig tanzt und dabei wettbewerbsfähig bleibt.
Dies gilt natürlich auch für die Hersteller elektronischer Komponenten bis hinunter zur Ebene der Lieferkette. Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, mehr Gewicht auf die lokale und regionale Wirtschaft mit nachhaltigen Lieferketten zu legen, und ich würde mir wünschen, dass die europäische Automobilindustrie die Rolle eines Architekten oder Orchestrierers dieses Wandels übernehmen würde. In der derzeitigen Marktsituation ist es wichtig, Beziehungen zu pflegen und aufzubauen, Pläne auszutauschen und künftige Bedürfnisse als Grundlage für eine längerfristige Zusammenarbeit zu diskutieren.
Parallel dazu ist die Automatisierung der Industrie der andere Megatrend des Elektronikwachstums in diesem Jahrzehnt. Dadurch kann es auch zur Nachfrage nach neuen, fortschrittlichen High-Tech-Komponenten kommen, und die derzeitigen Lieferkettenbeschränkungen können überwunden werden. Energieeinsparungen, der Ersatz manueller Tätigkeiten, Qualität und Flexibilität in der Fertigung treiben die schnelle Einführung von Automatisierung und Robotik in der Industrie voran, um die aktuellen Markthürden zu überwinden und in Europa wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies ist mit dem Einsatz von Komponenten mit höherem Mehrwert verbunden, etwa Sensoren, Aktoren, Steuerungen, eingebettete Systeme oder Leistungselektronik.
Hersteller passiver Bauelemente haben bereits damit begonnen, die Produktion zu reduzieren. Rechnen Sie mit einem massiven Bullwhip-Effekt und, wenn ja, wann?
Natürlich besteht in einer solchen Marktsituation das Risiko eines Bullwhip-Effekts, aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass er in großem Umfang auftritt. Ich denke, wir befinden uns nicht in einer konventionellen Marktsituation, wie wir sie aus Marketingbüchern oder aus der Erfahrung kennen. Aktuell sind die Lieferketten sehr vorsichtig, die Entscheidungsträger überlegen sich jede Strategie zweimal und versuchen, die Risiken zu nutzen. Daher würde ich dieses Mal eher auf eine langsamere, schrittweise Erholung setzen, es sei denn, es kommt zu einer größeren Unterbrechung der Lieferkette.
Folgefrage: In der Zwischenzeit halten manche eine noch massivere Allokation ab 2024/25 für möglich, weil unter anderem Eigentümer kleinerer Hersteller, die in der Coronavirus-Phase hervorragende Gewinne gemacht haben, sich mit Ausstiegsgedanken tragen könnten. Halten Sie das für zu fantasievoll?
An diesen Befürchtungen mag etwas dran sein, die Frage ist jedoch, inwieweit sich dies auf die allgemeine Marktlage auswirken wird. Kleine Hersteller produzieren oft spezialisierte oder Nischenkomponenten, die von größeren Herstellern nicht leicht ersetzt werden können. Infolgedessen könnte ihr Ausscheiden eine Lücke im Markt hinterlassen, die erst nach einiger Zeit gefüllt werden kann. Dies kann vor allem in einigen Bereichen der Industrieelektronik schmerzhaft sein. Dennoch könnten typische Nischenmärkte wie Verteidigung, Luft- und Raumfahrt oder Medizintechnik im kommenden Jahrzehnt ein gesundes, kontinuierliches Wachstum aufweisen. Somit könnten sich günstige Bedingungen ergeben, um die Produktion passiver Bauelemente durch KMU in diesen Segmenten als lebensfähiges, gesundes Geschäft zu erhalten. Der Automobilsektor gehört ebenfalls nicht zu den Hauptrisikobereichen, da die Automobilhersteller, insbesondere in Europa, auf eine Vielzahl von Komponenten angewiesen sind und nicht von kleinen Nischenlieferanten abhängig sein wollen.
Wie ist Ihrer Meinung nach die aktuelle Preissituation? Gibt es ein Zurück zu den Preisen vor der Coronavirus-Pandemie? Wie hoch liegen heute die Preise noch über dem Niveau vor der Pandemie?
Die Preise für passive Bauelemente in Europa sind seit ihrem Höchststand während der Coronavirus-Pandemie gesunken, liegen aber immer noch 20 bis 30 Prozent über dem Niveau vor der Pandemie. Es gibt mehrere Faktoren, die dazu beitragen:
Es könnte sein, dass die Preise für passive Bauteile in den kommenden Monaten weiter sinken, aber es wird schwierig sein, die Zeiten vor der Pandemie zu erreichen. Es wird erwartet, dass die Nachfrage nach passiven Bauelementen mit der Erholung der Wirtschaft wieder ansteigt und dass die Hersteller bei steigender Nachfrage die Preise wieder anheben können, ohne befürchten zu müssen, Kunden zu verlieren.
Zu den jüngsten, vielfältigen Herausforderungen gehören die Auswirkungen des Gaza-Krieges auf die Containerschifffahrt im Roten Meer und im Suezkanal. Hinzu kommt das jüngste Erdbeben in Japan. Sehen Sie Auswirkungen auf die Versorgungslage?
Dies sind gute Beispiele für erhebliche Unterbrechungen der Versorgungskette, deren unmittelbare Auswirkungen auf die Branche schwer vorherzusagen und zu messen sind. Der Suezkanal und das Rote Meer sind eine lebenswichtige Schifffahrtsroute und ein Flaschenhals für viele Industriezweige einschließlich der Elektronikindustrie, und jede Unterbrechung ihres Betriebs kann sich auf die gesamte Lieferkette auswirken.
Mögliche Auswirkungen auf Europa können sowohl kurz- als auch längerfristig sichtbar werden. Tesla und Volvo haben bereits einige Produktionsunterbrechungen in der EU im Zusammenhang mit den verspäteten Teilen aus Asien angekündigt, die sich in der Folge auf die gesamte Lieferkette auswirken können. Es ist schwer vorherzusagen, wann die Spannungen in der Region nachlassen werden, und die zusätzliche Zeit, die Schiffe auf See für die Umrundung Afrikas benötigen, bedeutet, dass Händler und Kunden längerfristig mehr Lagerbestände halten mussten, was die Preise nach oben drückt.
Blicken wir über 2024 hinaus: Was wäre zur Normalisierung der Situation in der europäischen Bauelemente-Industrie notwendig? Braucht es auch politische Impulse?
Wie bereits erwähnt sind die Megatrends Elektrifizierung des Verkehrs und Automatisierung eine Chance für das Wachstum passiver Bauelemente in Europa. Neben einer breiten Palette von Standardkomponenten werden hochmoderne Komponenten benötigt, um wettbewerbsfähige Systeme mit hoher Effizienz, Leistungsdichte, Nachhaltigkeit und Leistung zu entwickeln.
Passive Bauelemente wurden lange Zeit als »einfache«, »langweilige«, »uninteressante« Komponenten übersehen. Obwohl die Stimmung an den Universitäten und bei den Hardware-Entwicklern immer noch so ist, sehe ich in den letzten Jahren eine positive Entwicklung bei den F&E-Aktivitäten sowohl an den Hochschulen als auch bei den Komponentenherstellern. Ich hoffe, dass dies zu einer neuen Generation integrierter passiver Komponenten auf der Grundlage von Wafer-Technologien, neuartigen Dielektrika auf der Grundlage neuartiger Nanomaterialien oder fortschrittlichen Chemikalien auf der Grundlage der Nanochemie führen wird. Nach der Pareto-Logik werden diese neuen Technologien 20 Prozent des Marktes besetzen und 80 Prozent des künftigen Wertes ausmachen, während 80 Prozent der herkömmlichen passiven Bauelemente weiterhin verkauft werden. Die Verlagerung des überalterten passiven Geschäfts auf den höheren Mehrwert wäre die beste Antwort auf die derzeitige Marktsituation.
Und ein Kommentar zur politischen Arena? Europa ist derzeit heiß auf den European Chips Act. Nachdem die EU hier beträchtliche Produktionskapazitäten verloren hat und in die Abhängigkeit von außereuropäischen Quellen geraten ist, stellt das wirklich einen großen Anreiz dar. Was aber, wenn wir später feststellen, dass wir trotz der Wiederherstellung der Halbleiterproduktion in Europa nicht in der Lage sein werden, kritische elektronische Baugruppen in der EU herzustellen, weil die passiven Bauteile nicht aus der EU stammen? Nur als Anregung: Die japanische Version des EU-Halbleitergesetzes fügt MLCCs als strategisches Industrieprodukt hinzu, um die heimische Industrie Japans im Jahr 2023 zu unterstützen.