Diskussionsrunde "Supply Chain"

»Brauchen Elektronik-Act statt EU Chips Act!«

12. Juni 2023, 12:00 Uhr | Karin Zühlke
Spannende Diskussion in interdisziplinärer Runde
© Componeers GmbH

Anlässlich des Markt&Technik-Spitzentreffens am 25. Mai trafen sich CEOs und Manager von Distributoren, Herstellern und Elektronik-Produzenten zum Roundtable »Supply Chain«. Sie diskutierten die aktuellen Herausforderungen Europas im Kontext der globalen Lieferketten.

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Und die Teilnehmer waren sich einig: Ein gutes Risikomanagement ist entscheidend, damit Europa in Zukunft im globalen Wettbewerb mithalten kann. Wie vielschichtig das Risikomanagement sein muss, fasst Karsten Bier zusammen, CEO von Recom: »Das betrifft Innovation, Investition und den EU Chips Act.«

Und damit wird schnell klar: Europäischen Firmen stehen noch einige Kraftakte bevor. Wie etwa ist es um die Innovationsfähigkeit bestellt? »Die Innovation der Unternehmen hat die letzten acht Quartale gelitten«, sagt Hermann Reiter, Global Strategic Business Development & Supplier Management von Digi-Key; das Unternehmen zieht als Lieferant für den Entwicklungsbedarf entsprechende Schlüsse. Seit Q4 letzten Jahres sähe man aber eine gewisse Erholung, so Reiter. »Davor waren die Firmen eher mit Firefighting in der Lieferkette beschäftigt und nicht mehr mit Neuentwicklungen.«

Dass dem Vernehmen nach insbesondere auch Deutschlands Innovationsfreude gelitten hat, ergänzt Dr. Christiane Endrich, Managing Director von Endrich. Sie zitiert dabei eine taggleich veröffentlichte Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Demnach kann nur noch jedes fünfte deutsche Unternehmen heute als besonders innovativ bezeichnet werden. 2019 galt dies noch für jeden vierten Betrieb. Dagegen ist allein in den zurückliegenden drei Jahren der Anteil der Unternehmen, die nicht aktiv nach Neuerungen suchen, von 27 auf 38 Prozent gewachsen. Die Studie bezieht sich allerdings auf die Gesamtwirtschaft und nicht dediziert auf den Elektronikmarkt.

Für den möchte Stefanie Kölbl, Director of Business Unit TQ-Embedded, das auch nicht so stehen lassen: »Deutschland ist sehr wohl innovativ, gerade auch im Entwicklungsbereich! Wenn ich mir ansehe, was allein wir mit 250 Entwicklern alles realisieren!« Was aber laut Kölbl durchaus festzustellen sei, ist die Tatsache, dass durch die Lieferketten-Probleme der letzten drei Jahre deutlich mehr darauf geschaut werde, wo Ware und Rohmaterial herkommen, nicht zuletzt auch wegen des CO2-Footprints.

Auch Ralf Bühler, CEO von Conrad, bricht eine Lanze für die hiesige Industrie: »In Europa werden in hoher Variabilität die unterschiedlichsten Applikationen produziert, und wir kommunizieren in einem unglaublich komplexen System und versuchen Probleme an allen Ecken zu lösen – genau das ist Europa!« Nach Ansicht von Karsten Bier besteht die Herausforderung auch weniger in der Innovationsfreude der hiesigen Firmen, sondern darin, »wie wir das Momentum durchziehen. Wir sehen sehr viel Innovation, aber die Frage ist doch vielmehr: Ziehen wir das dann durch oder wandert die Fertigung ab?«

Ähnlich sieht das auch Dietmar Jäger, Leiter des globalen Distributionsgeschäfts von TDK, und ergänzt: »Noch immer ist Europa ein Innovationstreiber. Die Distribution ist hier besonders interessant, weil sie kleinere Kunden mit Neuentwicklungen unterstützt, die sich dann mitunter zu großvolumigen Anwendungen entwickeln. So war das damals bei der Photovoltaik und so ist es heute bei den Herstellern der Ladesäulen. Dafür muss aber auch mehr Produktion der Kunden in Europa bleiben und darf nicht wieder im großen Stil nach China abwandern.«

Verantwortlich für die Abwanderung ganzer Märkte sind nicht nur Fertigungs- und Standortkosten, sondern die Lieferketten und die Rahmenbedingungen insgesamt. Dazu zählen auch mannigfaltige (EU-) Gesetze und Vorschriften, deren Sinnhaftigkeit sich den Unternehmen nicht immer erschließt und die zumindest zum Teil auch die Innovationsmöglichkeiten europäischer Firmen beeinflussen; Stichwort »EU Chips Act«. Er soll dafür sorgen, dass Europas Abhängigkeit von der globalen Halbleiter-Lieferkette verringert wird. Kann er also nachhaltig dabei helfen, die Probleme der Lieferkette für Industriekunden in Deutschland und Europa ein Stück weit aus dem Weg zu räumen?

Die Runde ist skeptisch: »Der Chips Act ist für mich zu kurz gedacht, da all die tollen Halbleiter ohne die passiven Bauelemente für die Stromversorgung, den Schutz und die Filterung nicht funktionieren werden. Diese kommen aber überwiegend aus Asien. D. h. auch hier müssen wir wieder mehr Produktion aus Europa heraus unterstützen«, so Jäger.

Einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Bundesverbands Materialwirtschaft zufolge (Markt&Technik berichtete) überdenken viele Firmen derzeit ihre Lieferketten mit China und setzen auf Diversifizierung, wie auch Oliver Opitz, Vice President der Division Wireless Connectivity & Sensors und Head of Hightech Innovation Center Munich von Würth Elektronik eiSos, schildert: »Wir versuchen, das Wachstum außerhalb von Asien aufzubauen, in USA und Europa.« Die Produktion, wie sie ist, wird laut Opitz in Asien beibehalten, aber keine neue Fertigung mehr in China aufgebaut. In den Genuss von EU-Subventionen für neue Fabriken in Europa kommen allerdings Firmen, die keine Halbleiter herstellen, nicht. Bezogen auf den EU Chips Act wünscht sich daher auch Opitz eine deutlich breitere Ausgestaltung – und nicht nur den Fokus auf Halbleiter: »Wir brauchen keinen Chips Act, wir brauchen einen Elektronik-Act.«

Problematisch finden die Diskussionsteilnehmer auch, dass der EU Chips Act nicht festlegt, was genau die Halbleiterhersteller eigentlich in den geförderten Werken produzieren sollen, und sehen noch viel Verbesserungsbedarf: »Da muss die Industrie mitreden können«, fordert Karsten Bier. »Die Diversifizierung der Produkte für die Industrie muss forciert werden. Denn es bringt nichts, hier ein Werk hinzubauen, wo dasselbe wie in Korea etc. gefertigt wird. Wenn wir Geld in die Hand nehmen, um die Supply-Chain hierherzubringen, dann muss das auf unsere Industrie zugeschnitten sein. Das müssen wir schaffen, sonst bleibt die Innovation auf der Strecke. Wir werden als europäische Firmen nur konkurrenzfähig bleiben, wenn wir die Supply-Chain im Griff haben!«

Die ausführliche Berichterstattung zum Roundtable lesen Sie im Quarterly »Distribution & Supply-Chain« in der E-Paper-Ausgabe der Markt&Technik 31/32. 


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