Vom Engpass zum Erfolgsfaktor

Wie OM die Zukunft von Aerospace & Defense sichert

28. Oktober 2025, 8:30 Uhr | Von Stefanie Kölbl
Stefanie Kölbl (M.Sc., M.Eng., LL.M.) ist bei TQ als Geschäftsbereichsleiterin TQ-Embedded sowie als Leiterin des Obsoleszenzmanagements und Artikelstamms tätig. Außerdem ist sie Vorstandsmitglied der Component Obsolescence Group Deutschland e.V.
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Die Lebenszyklen elektronischer Komponenten werden immer kürzer, während Systeme in Luft- und Raumfahrt und Verteidigung oft jahrzehntelang im Einsatz bleiben. Diese Diskrepanz birgt erhebliche Risiken für Verfügbarkeit und Versorgungssicherheit.

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Ein proaktives Obsolescence Management (OM) wird darum zum Schlüsselfaktor.

Denn über OM lassen sich Lieferketten stabilisieren, Risiken frühzeitig erkennen und die Einsatzbereitschaft komplexer Systeme langfristig sichern.

Obsoleszenz ist längst kein Phänomen der Konsumwelt mehr. Während sie dort oft als lästig gilt, kann sie in sicherheitskritischen Branchen wie Luft- und Raumfahrt oder Verteidigung gravierende Folgen haben. Hier geht es weniger um geplante Alterung, sondern um technologische Abkündigungen: Neue Halbleitergenerationen und kürzere Innovationszyklen verdrängen bewährte Komponenten vom Markt.

Weil sich Bauteilhersteller zunehmend an den Anforderungen großer Consumer- und IT-Kunden orientieren, verkürzen sich die Lebenszyklen vieler Komponenten drastisch – weit entfernt von den jahrzehntelangen Einsatzzeiträumen in Aerospace & Defense. Megatrends wie 5G/6G, Data Storage und IoT treiben diese Entwicklung weiter voran und verschärfen die Diskrepanz zwischen Komponenten- und Systemlebensdauer.

Hinzu kam mit der globalen Allokationskrise seit dem Jahr 2020 ein weiterer Beschleuniger: Lieferzeiten von über 100 Wochen, fehlende Kapazitäten und Produktionsverlagerungen führten dazu, dass ganze Produktfamilien vom Markt verschwanden. Für sicherheitsrelevante Systeme bedeutet das: Kurzfristige Obsoleszenz kann ebenso kritisch wirken wie technologische – mit direkten Auswirkungen auf Einsatzfähigkeit und Versorgungssicherheit.

Obsoleszenz bezeichnet den Wechsel oder die drohende Nichtverfügbarkeit von Komponenten durch den Originalhersteller. Im industriellen Umfeld, insbesondere in Luft- und Raumfahrt sowie Verteidigung, wird häufig auch der Begriff Diminishing Manufacturing Sources and Material Shortages (DMSMS) verwendet, der den Fokus auf die fehlende Verfügbarkeit von Technologien und Bauteilen legt. Obsoleszenz ist unvermeidbar – lediglich die Risiken ihrer Auswirkungen lassen sich reduzieren (DIN EN 62402:2007).

Formen von Obsoleszenz

Obsoleszenz kann in verschiedenen Formen auftreten:

  • Logistische Obsoleszenz beschreibt den Verlust der Beschaffungsfähigkeit – derzeit besonders relevant durch die globalen Allokationsphasen. Sie zeigt, dass Obsoleszenz nicht immer dauerhaft sein muss, auch kurzzeitige Lieferengpässe zählen dazu.
  • Funktionale Obsoleszenz liegt vor, wenn ein Produkt weiterhin verfügbar ist, aber den neuen Anforderungen nicht mehr gerecht wird und Anpassungen erforderlich macht.
  • Technologische Obsoleszenz entsteht durch die Einführung neuer Komponenten oder Technologien, wodurch Produktion und Support für Vorgängerprodukte eingestellt werden.
  • Bestands-Obsoleszenz tritt auf, wenn gelagerte Produkte zwar verfügbar sind, aber aufgrund von Redesigns oder Modifikationen nicht mehr benötigt werden.
  • Eine Sonderform stellt die Allokation dar: Sie führt zu temporären Engpässen, die jedoch mit der Zeit wieder abgebaut werden können.

Obsoleszenz betrifft nicht nur elektronische und mechanische Komponenten. Auch Software, Prozesse, Materialien, Standards und Fachkenntnisse können betroffen sein, was Produktion, Wartung und Einsatzbereitschaft komplexer Systeme erheblich einschränkt.

Die Auswirkungen von Obsoleszenz

Obsoleszenz wirkt sich direkt auf Produktsicherheit, Lebenszykluskosten, Umwelt und Unternehmensreputation aus. Besonders kritisch ist dies in Luft- und Raumfahrt sowie Verteidigung, wo Komponentenwechsel mit kostenintensiven Qualifizierungs- und Zertifizierungsmaßnahmen verbunden sind. Jede Abkündigung kann Entwicklungszeit und -kosten signifikant erhöhen und das sorgfältig austarierte Gleichgewicht zwischen Qualität, Kosten und Terminen belasten.

Die verkürzten Lebenszyklen von Elektronikkomponenten verschärfen diese Herausforderungen im Produktentstehungsprozess zusätzlich. Mit zunehmender Vernetzung und steigender Komplexität moderner Systeme können selbst einzelne Abkündigungen weitreichende Folgen für Gesamtsysteme und deren Einsatzfähigkeit haben.

Darüber hinaus hat die beschleunigte Obsoleszenz von Elektronikkomponenten auch Umweltfolgen: Die Menge an E-Waste wächst kontinuierlich, weil kürzere Produktlebenszyklen und sinkende Preise die Nutzungsdauer älterer Geräte verkürzen und damit den ökologischen Fußabdruck vergrößern. Ein strategisches OM kann hier nicht nur Versorgungssicherheit gewährleisten, sondern auch die Umweltbelastung reduzieren.

Die Risiken durch Obsoleszenz lassen sich gezielt durch ein strukturiertes OM reduzieren. Dabei unterscheidet man zwischen reaktivem und proaktivem OM: Reaktives OM greift erst, wenn eine Abkündigung bereits erfolgt ist, während proaktives OM frühzeitig Maßnahmen definiert, um die langfristige Systemerhaltung sicherzustellen und Produktions- sowie Wartungsrisiken zu minimieren.

Studien zeigen, dass proaktive Ansätze meist deutlich kosteneffizienter sind als rein reaktive Maßnahmen. Da in der Entwicklungsphase von Elektroniksystemen etwa 70–80 Prozent der Lebenszykluskosten festgelegt werden, ist es entscheidend, OM schon früh in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Auf diese Weise lassen sich Systemverfügbarkeit, Einsatzfähigkeit und Kostenoptimierung langfristig sichern – ein besonders kritischer Faktor in Aerospace- und Defense-Anwendungen, wo jeder Komponentenwechsel umfangreiche Qualifizierungs- und Zertifizierungsmaßnahmen nach sich zieht. Im Rahmen des OM kommen unterschiedliche Modelle und Maßnahmen zum Einsatz, die den gesamten Produktlebenszyklus abdecken. Dabei werden Lebenszyklus-Modelle betrachtet, die OM-Aktivitäten zu unterschiedlichen Zeitpunkten einordnen, sowie Design-Refresh-Modelle, die das Vorgehen bei einer geplanten Produktüberarbeitung darstellen.

Forecast-Methoden

Forecast-Methoden ermitteln die erwartete Lebensdauer von Komponenten anhand technischer Parameter, historischer Daten und der Strategie des Herstellers. Die Lebenszyklen werden häufig als Gauß-Kurve dargestellt. Diese Methoden können sowohl in der Entwicklungsphase als auch begleitend während der Serienfertigung eingesetzt werden. Für die Allokation bieten sie jedoch keine Unterstützung, da sie lediglich die Lebensdauer, nicht aber die Verfügbarkeit der Bauteile berücksichtigen.

Embedded Module erleichtern die Risikoanalyse, da einzelne Komponenten innerhalb des Moduls nicht separat bewertet werden müssen. Stattdessen kann das Modul als Einheit betrachtet werden, wodurch Abhängigkeiten reduziert und die Planung von Ersatzstrategien vereinfacht wird.

Risikobewertung

Eine detaillierte Risikobewertung analysiert alle Komponenten einer Stückliste hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Gesamtsystem. Dabei werden Lebensdauer, Servicezeit und mögliche Redesign-Zeitpunkte festgelegt. Für den Umgang mit Obsoleszenz werden Ressourcen wie Humankapital, Tools und Budget eingeplant. Sie werden in obsoleszenzrelevante und -irrelevante Gruppen unterteilt, und es wird eine Risikoanalyse erstellt.

Bei der Bewertung werden folgende Faktoren berücksichtigt:

  • Jahre bis zur erwarteten Abkündigung
  • Anzahl verfügbarer Lieferanten und Lagerbestände
  • Verfügbarkeit von Alternativkomponenten
  • Kritikalität für die Systemsicherheit
  • Lebensdauer des Gesamtsystems

Auf Basis der Eintrittswahrscheinlichkeit und Kritikalität wird eine Risikomatrix erstellt, die eine Priorisierung und Maßnahmenplanung erlaubt. Die Einstufung wird periodisch überprüft und aktualisiert. Besonders während der Allokation ist die kontinuierliche Analyse von Lager- und Lieferbeständen entscheidend, um gefährdete Komponenten frühzeitig zu identifizieren und rechtzeitig Nachbeschaffungen zu veranlassen.

Design-Strategien

Design-Strategien zielen auf eine Verlängerung der Lebensdauer von Elektronikkomponenten ab. Dazu gehören:

  • Materialeffizienz: Auswahl geeigneter Materialien für die produktspezifischen Anforderungen
  • Reparaturfähigkeit: ermöglicht punktuelle Reparaturen statt Austausch ganzer Systeme
  • Remanufacturing und Refurbishment: Aktualisierung bestehender Produkte durch neue Komponenten und Funktionen
  • Recyclingfähigkeit: Berücksichtigung regulatorischer Anforderungen an Umweltfreundlichkeit

Aufgrund der langen Lebenszyklen in Aerospace & Defense ist ein Design Refresh in der Regel erforderlich, um Funktionalität zu erhalten und Obsoleszenz entgegenzuwirken. Dabei werden abgekündigte oder abkündigungsgefährdete Komponenten ersetzt und Layout oder Funktionen bei Bedarf angepasst. Kurzfristig können Last Time Buys überbrückend eingesetzt werden, bis ein Redesign erfolgt.

Bereits in der Entwicklungsphase empfehlen sich die Auswahl gut verfügbarer Komponenten sowie eine Second-Source-Strategie, sodass alternative Bauteile als 1:1-Ersatz qualifiziert werden. Innovative Ansätze wie 3D-druckbare Bauteile können zusätzlich die interne Fertigungskapazität erhöhen.

Eine weitere wirksame Strategie ist der Einsatz von Embedded Modulen. Durch die Integration standardisierter, vorqualifizierter Module können kritische Funktionen gebündelt und im Falle einer Abkündigung gezielt ersetzt werden. Dies reduziert Redesign-Aufwand, verkürzt Qualifizierungszeiten und erhöht die Flexibilität bei der Bauteilbeschaffung.

Risikomatrix der Ausfallwahrscheinlichkeit

OM sollte in das unternehmensweite Risikomanagement integriert sein und im Rahmen einer Failure Modes, Effects and Criticality Analysis (FMECA) bewertet werden. Dabei werden die Eintrittswahrscheinlichkeit der Obsoleszenz sowie die Ausfallrisiken analysiert, um die Ersatzteilverfügbarkeit und den Systembetrieb zu sichern. Auch kurzfristige Allokationen lassen sich so in Risikomatrizen abbilden, wobei spezielle Faktoren gegenüber normaler Obsoleszenz zu berücksichtigen sind.

Prognosemodell

Prognosemodelle kombinieren die vorherigen Methoden und ermöglichen eine Abschätzung der voraussichtlichen Abkündigungszeitpunkte. So können Redesign-Zeitpunkte frühzeitig geplant, die richtigen Komponenten ausgewählt und Lebenszykluskosten optimiert werden. Die Modelle lassen sich während der Entwicklungsphase, Serienfertigung und Service-Zeiten einsetzen und sind damit ein zentrales Werkzeug zur Minderung von Obsoleszenzrisiken in Aerospace- und Defense-Anwendungen. In Kombination mit Prognosemodellen ermöglichen Embedded Module, Abkündigungen vorhersehbar abzufedern und Redesign-Zeitpunkte gezielt zu planen. Module lassen sich austauschen oder aktualisieren, ohne dass das Gesamtsystem neu zertifiziert werden muss. Dadurch lassen sich Lebenszykluskosten und Systemausfallrisiken deutlich senken.

Ein systematisch implementiertes OM bietet Aerospace- und Defense-Unternehmen die Möglichkeit, den komplexen Herausforderungen verkürzter Komponentenlebenszyklen, globaler Allokationen und steigender Systemkomplexität proaktiv zu begegnen und bestehende Engpässe in strategische Vorteile zu verwandeln. Durch den Einsatz von Forecast-Methoden, Risikobewertungen, Design-Strategien sowie kontinuierlicher Überwachung können kritische Komponenten frühzeitig identifiziert, Ersatzstrategien definiert und Redesign-Zeitpunkte optimal geplant werden.

Dadurch wird die Verfügbarkeit sicherheitskritischer Systeme über Jahrzehnte gewährleistet, ungeplante Produktionsunterbrechungen werden minimiert, und die langfristigen Lebenszykluskosten lassen sich signifikant reduzieren. Proaktive Maßnahmen wie die Integration von Second-Source-Strategien, Design-Refresh-Initiativen, Remanufacturing und Refurbishment ermöglichen es, die Funktionalität bestehender Systeme zu erhalten und zugleich die Versorgungssicherheit für Ersatzteile zu sichern.

Darüber hinaus stärkt OM die Betriebssicherheit und Zuverlässigkeit in einem regulierten Umfeld, in dem Zertifizierungen und Qualifizierungen essenziell sind. Auch Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekte profitieren: Durch gezielte Materialauswahl, Reparaturfähigkeit und Recyclingstrategien können die ökologischen Auswirkungen verkürzter Produktlebenszyklen reduziert werden.

Insgesamt trägt ein umfassendes OM dazu bei, den Wert bestehender Systeme langfristig zu erhalten, Risiken frühzeitig zu minimieren und die Wettbewerbsfähigkeit in sicherheitskritischen Märkten zu sichern. Damit wird OM vom kurzfristigen Engpass-Management zum strategischen Erfolgsfaktor, der die Zukunft von Aerospace & Defense sichert – und Unternehmen die Basis für Effizienz, Sicherheit und nachhaltigen Erfolg über den gesamten Lebenszyklus ihrer Systeme hinweg bietet.


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