Medizingeräte und Wearables entwickeln

Die Medizintechnik wächst – aber kann die Lieferkette mithalten?

3. November 2025, 12:52 Uhr | Von Justin Sears, Altium
Leiterplatten kommen in fast jedem modernen Medizingerät zum Einsatz und müssen bei Entwicklung, Beschaffung und Regulatorik mitgedacht werden.
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Die Medizintechnik wächst weltweit, doch Medizingeräte wie Mini-Wearables, biokompatible Implantate und bildgebende Systeme stellen Entwickler vor neue Hürden: fragile Lieferketten, FDA- und MDR-Compliance sowie isolierte Teams verzögern das Inverkehrbringen. Wie proaktives Risikomanagement gelingt.

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Wachstum trifft auf Komplexität: Nur wenige Bereiche der Elektronik wachsen so rasant und stehen zugleich vor so vielen Entwicklungs- und Compliance-Hürden wie die Medizintechnik. Von bildgebenden Diagnosesystemen über Handmonitore bis hin zu implantierbaren Sensoren verbinden heutige Medizinprodukte Hochleistungselektronik mit intelligenter Software und revolutionieren die Patientenversorgung.

Im Jahr 2024 wurde der globale Markt für Medizinprodukte auf über 570 Milliarden US-Dollar geschätzt. Nach Angaben von Fortune Business Insights wird er bis 2032 voraussichtlich auf 850 Milliarden US-Dollar anwachsen – bei einer jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 5,9 Prozent. Damit liegt die Medizintechnik vor anderen wichtigen Elektroniksparten wie der Luft- und Raumfahrt mit einer CAGR von 4 Prozenz sowie der Automobilelektronik mit einer CAGR von 5,4 Prozent und gilt für die nächste Dekade als zentraler Wachstumstreiber für Elektronikprodukte.

Mit der steigenden Nachfrage nehmen jedoch auch Entwicklungs- und regulatorische Hürden zu. Moderne Medizinprodukte müssen nicht nur smart und vernetzt sein, sondern auch in sicherheitskritischen Bereichen absolut zuverlässig arbeiten – und das im Einklang mit strengsten Zulassungs- und Sicherheitsstandards.

Altium PCB design Medizintechnik Medical Devices Wearables
Altium bietet Software-Lösungen für das Design elektronischer Systeme an. Das 1985 gegründete Unternehmen mit Hauptsitz in San Diego, Kalifornien, entwickelt Plattformen für die Entwicklung von Leiterplatten (PCBs), die es Ingenieuren ermöglichen, komplexe elektronische Produkte zu entwerfen – von Consumer-Elektronik über Automotive bis hin zu Medizintechnik. Mit Altium Designer und cloudbasierten Kollaborations-Tools unterstützt Altium Entwicklungsteams dabei, innovative Hardware zu konzipieren und dabei regulatorische Anforderungen sowie Lieferketten-Transparenz sicherzustellen.
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Designs für den menschlichen Körper

Die Innovationswelle in der Medizintechnik beschränkt sich nicht auf einen einzigen Formfaktor. Starre Leiterplatten (PCBs) kommen in großen Diagnosesystemen zum Einsatz, während extrem miniaturisierte flexible Boards in Implantaten und Smart Patches erforderlich sind. Diese und weitere Anforderungen zwingen Entwickler dazu, sich mit einer Vielzahl mechanischer, thermischer und umgebungsbedingter Einschränkungen auseinanderzusetzen.

Zum Beispiel bei Wearables: Die Zeiten, in denen alle Leiterplatten große grüne Rechtecke waren, sind längst vorbei. In Geräten wie kontinuierlichen Glukosemesssystemen oder intelligenten Hörgeräten messen PCBs nur wenige Millimeter und erfordern individuelle Formen, biokompatible Materialien und minimale Leistungsaufnahme. Doch die Herausforderungen gehen weit über die Miniaturisierung hinaus: Entwickler müssen zudem sicherstellen, dass sich die Systeme an Körperform und Bewegung anpassen, hautverträglich sind und eine absolut zuverlässige drahtlose Kommunikation gewährleisten.

Diese Komplexität stellt enorme Anforderungen nicht nur an Design-Tools, sondern auch an Systeme für die Bauteilauswahl, die Versorgungssicherheit und die funktionsübergreifende Validierung – insbesondere, wenn es um die Gesundheit von Patienten geht.

Beschaffung als wachsendes Risiko

Mit zunehmender Designkomplexität sehen sich Medizintechnikhersteller einer instabilen Lieferkette gegenüber. Dies gilt insbesondere für Komponenten, die spezialisiert, für Nischenmärkte bestimmt oder nur in geringen Stückzahlen verfügbar sind.

Elektronik für die Medizintechnik ist in hohem Maße auf Komponenten wie Mikrocontroller, Speicher und präzise passive Bauelemente angewiesen. Diese Bauteile werden jedoch auch in Consumer- und Industriemärkten stark nachgefragt. Dadurch entsteht ein Wettbewerb um ein begrenztes Angebot, wie die Pandemie schmerzlich verdeutlicht hat.

Noch bedenklicher ist die Abhängigkeit von Bauteilen mit langen Produktlebenszyklen oder sehr spezieller Ausprägung, wie etwa:

  • biokompatible Materialien für Implantate
  • miniaturisierte Funkchips für Wearables
  • strahlungsgehärtete Komponenten für bildgebende Systeme

Viele dieser Komponenten lassen sich nicht ohne Weiteres ersetzen. Engpässe in der Beschaffung können deshalb Entwicklungszeitpläne gefährden oder teure Neuentwicklungen erzwingen. Für kleinere Medizintechnikunternehmen verschärft sich dieses Risiko zusätzlich durch ihre begrenzte Einkaufsmacht und die fehlende Transparenz, was die Verfügbarkeit in vorgelagerten Lieferketten betrifft.

Entwicklungsteams können die Beschaffung daher nicht länger als nachgelagerten Schritt betrachten. Sie ist zu einer strategischen Restriktion des Entwicklungsprozesses geworden, die von Beginn an berücksichtigt werden muss.

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Der Autor: Justin Sears verantwortet das Produktmarketing von B2B-SaaS-Plattformen bei Altium. In seiner Funktion als „Head of Product Marketing for SaaS” führt er das Team, das Cloud-Lösungen für die Elektronikentwicklung im Markt positioniert. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von San Francisco, Kalifornien.
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Compliance und Rückverfolgbarkeit sind Pflicht

Zwar ist jede Branche mit regulatorischen Anforderungen konfrontiert, doch Medizinprodukte bewegen sich in einem besonders sicherheitskritischen Umfeld. Schon ein einzelnes Versäumnis bei der Designvalidierung, dem Änderungsmanagement oder der Lieferantenrückverfolgbarkeit kann schwerwiegende Folgen haben. Dies reicht von kostspieligen Produktrückrufen bis hin zu Risiken für die Patientensicherheit.

Regulatorische Vorgaben verlangen von Herstellern, eine durchgängige Rückverfolgbarkeit über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg sicherzustellen. Zu den Standards, die zu berücksichtigen sind, zählen:

  • FDA 21 CFR Part 820 (Quality System Regulation)
  • ISO 13485 (Quality Management System)
  • EU MDR (Medical Device Regulation)
  • IEC 60601 (Electrical Safety for Medical Equipment)

Diese Vorschriften regeln alles – von der Herkunft der Komponenten bis hin zur Versionsverwaltung der Firmware. Sie finden sowohl bei Designentscheidungen als auch bei Ereignissen in der Lieferkette Anwendung.

Mit anderen Worten: Compliance bedeutet nicht nur Dokumentation, sondern auch Datenintegrität. Das heißt, die im Verlauf des Entwicklungs- und Beschaffungsprozesses erfassten Informationen müssen über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg korrekt, konsistent und nachvollziehbar bleiben. Wenn eine Zulassungsbehörde die Design-Historie prüft oder ein Lieferantenaudit Unstimmigkeiten in der Beschaffung aufdeckt, müssen Unternehmen lückenlose und vertrauenswürdige Aufzeichnungen vorlegen können. Dabei muss ersichtlich sein, welche Entscheidungen von wem und zu welchem Zeitpunkt getroffen wurden.

Um dieses Maß an Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten, ist eine versionskontrollierte Zusammenarbeit in Systemen erforderlich. Diese kann nicht nur statische Dokumente speichern, sondern auch teamübergreifend Änderungen aktiv steuern. Das bedeutet: Entwicklung, Beschaffung und Zulassungsstellen arbeiten mit einer einheitlichen digitalen Plattform, auf der jedes Update nachverfolgt, autorisiert und mit den Compliance-Anforderungen abgeglichen wird. Ohne eine solche Struktur ist es nahezu unmöglich, die von den Zulassungsbehörden geforderte Transparenz und Kontrolle aufrechtzuerhalten.

Isolierte Teams, verzögerte Produkte

Zu den größten und beständigsten Engpässen in der Entwicklung von Medizinprodukten zählt der Mangel an Zusammenarbeit zwischen den Teams aus den Bereichen Entwicklung, Beschaffung und Compliance.

Diese Fachbereiche arbeiten häufig isoliert voneinander, was schwerwiegende Folgen hat: Dazu gehören beispielsweise Stücklistenprobleme (BOM) in späten Entwicklungsphasen, die auf nicht verfügbare oder nicht Compliance-konforme Bauteile zurückzuführen sind. Darüber hinaus besteht eine fragmentierte Kommunikation zwischen PLM-, ERP- und Designplattformen. Zudem werden Chancen verpasst, Risiken im Projektverlauf frühzeitig entgegenzuwirken.

Diese Herausforderungen in der Zusammenarbeit sind nicht spezifisch für die Medizintechnik, können dort jedoch deutlich komplexer ausfallen. Im Gegensatz zur Consumer- oder Automobilelektronik umfasst die Medizintechnik häufig die Zusammenarbeit von Elektronikingenieuren, klinischen Experten, Zulassungsteams sowie Auftragsfertigern und OEMs. Jede dieser Parteien hat eine andere Sicht auf Risiken und arbeitet mit eigenen Tools, was die Zusammenarbeit zusätzlich erschwert.

Einige große Medizintechnikunternehmen investieren bereits in die Integration von Entwicklung und Lieferkette sowie in Kollaborationstools. Insbesondere viele Start-ups und mittelständische Firmen setzen hingegen weiterhin noch auf manuelle Prozesse und voneinander getrennte Systeme. In einem Sektor, in dem es um Menschenleben geht, ist mangelnde Zusammenarbeit nicht nur ineffizient, sondern auch gefährlich.

Über Altium
Altium bietet Software-Lösungen für das Design elektronischer Systeme an. Das 1985 gegründete Unternehmen mit Hauptsitz in San Diego, Kalifornien, entwickelt Plattformen für die Entwicklung von Leiterplatten (PCBs), die es Ingenieuren ermöglichen, komplexe elektronische Produkte zu entwerfen – von Consumer-Elektronik über Automotive bis hin zu Medizintechnik. Mit Altium Designer und cloudbasierten Kollaborations-Tools unterstützt Altium Entwicklungsteams dabei, innovative Hardware zu konzipieren und dabei regulatorische Anforderungen sowie Lieferketten-Transparenz sicherzustellen.

Von reaktiv zu proaktiv: Risikoplanung 

Früher bedeutete Risikomanagement in der Medizinelektronik oft, Probleme zu bewältigen, wenn sie auftraten – sei es eine verspätete Komponentenlieferung oder ein kurzfristiges Compliance-Problem. Doch diese reaktive Denkweise ist heute nicht mehr tragfähig.

Zukunftsorientierte Unternehmen verankern heute die Risikoplanung direkt im Entwicklungsprozess. Teams investieren in Echtzeit-Transparenz entlang der Lieferkette, frühzeitige Komponentenvalidierung, integrierte Strategien zur Obsoleszenzvermeidung und in Multi-Source-Qualifikationsansätze.

Der Wandel hin zu proaktiver Risikoplanung ist sowohl kulturell als auch prozessbedingt. Er erfordert, dass Entwicklungsingenieure beginnen, wie Supply-Chain-Manager zu denken, und dass Beschaffungs- und Compliance-Teams frühzeitig in Designentscheidungen eingebunden werden. Darüber hinaus sind Systeme erforderlich, die eine funktionsübergreifende Entscheidungsfindung, Datentransparenz und ein nachvollziehbares Änderungsmanagement über den gesamten Prozess hinweg unterstützen – von der Konzeptphase bis zur Produktion.

In einer Branche, in der Designentscheidungen in der Elektronik unmittelbare Auswirkungen auf Menschenleben haben können, müssen Hersteller von Medizintechnik belastbare, Compliance-konforme und kollaborative Entwicklungsplattformen einsetzen, um sicher Innovationen zu entwickeln. Der Erfolg des Endprodukts hängt dabei maßgeblich davon ab, wie gut Teams zusammenarbeiten und Daten gemeinsam managen können. Unternehmen können den Schritt vom bloßen Reagieren zum proaktiven Handeln schaffen. Indem sie Silos überwinden, integrierte Plattformen nutzen und Risiken frühzeitig antizipieren, werden sie die Zukunft des boomenden Markts für Medizinprodukte prägen. (uh)


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