Bouchaud: »Die Front-End-Kapazitäten für Analog-ICs werden in diesem und im nächsten Jahr knapp bleiben. Folglich wird die Automobilproduktion noch mindestens zwei Jahre durch die Produktionskapazitäten auf der Halbleiterseite eingeschränkt bleiben.« Beim Back End ist es noch nicht ganz klar, wie es weitergeht. Einerseits weist Bouchaud darauf hin, dass die Covid-Fälle in Südostasien zurückgegangen sind, und damit gehören die Unterbrechungen aufgrund der Lockdowns der Vergangenheit an. Andererseits merkt er aber auch an: »Die Impfquote ist in manchen Ländern wie beispielsweise den Philippinen noch niedrig, sodass es mit Omikron zu erneuten Lockdowns kommen könnte.«
Hinzu kommt noch, dass die Automobilindustrie mit anderen Branchen um die begrenzten Front-End-Kapazitäten konkurriert; das gilt besonders für die Mobiltelefonindustrie. Um also zu verstehen, wie es um die Automobilproduktion in den Jahren 2022 und 2023 steht, müssen aus Bouchauds Sicht folgende Punkte beachtet werden:
IHS Markit hat ein Kapazitätsmodell entwickelt, das diese Parameter quantifiziert, um abzuschätzen, wie viele Autos in den nächsten zwei Jahren produziert werden können. Und dieses Modell hat anscheinend bei einigen OEMs und Tier-Ones ein Umdenken zur Folge. Denn auf die IHS-Markit-Empfehlung an die Automotive-Industrie Mitte letzten Jahres, ihr Supply Chain Management zu ändern, folgt jetzt die Aussage von Bouchaud: »Die Automobilindustrie hat bereits damit angefangen, ihr Supply Chain Management zu ändern.« So hätten sich diverse OEMs an den bewährten Praktiken von Toyota mit seinem 3- bis 6-monatigen Chip-Bestandspolster orientiert und ihre Tier-Ones dazu ermutigt, einen größeren Lagerbestand aufzubauen.
Außerdem wurde das Zeitfenster für Festbestellungen auf 12 oder sogar 18 Monate ausgedehnt, um den Chipherstellern mehr Transparenz und auch eine Garantie für den Aufbau von Kapazitäten zu geben. Bouchaud: »In den vergangenen Jahrzehnten war ein Zeitfenster von drei Monaten für Festbestellungen bei Automobil-ICs die Regel, und das, obwohl die Produktion eines Chips typischerweise länger als drei Monate dauert.« Und Bouchaud hat noch eine Entwicklung festgestellt: Früher hatten die OEMs keinerlei Einblick in ihre Halbleiterlieferkette. Steuergeräte waren Black Boxes, und die OEMs hatten keine Ahnung, welche Chips sich darin befanden. »Doch die OEMs haben eine sehr steile Lernkurve in ihrer Lieferkette durchlaufen und versuchen zu verstehen, von welchen Chips sie abhängig sind und sogar bei welchen Foundries ihrer Tier-Two-Zulieferer die Chips hergestellt werden. Einige OEMs prüfen sogar, wie sie mit Foundries zusammenarbeiten können, um Kapazitäten lange im Voraus direkt bei den Foundries zu buchen«, erklärt Bouchaud.
Wie groß ist die Gefahr von Überkapazitäten?
Aus der Sicht von Bouchaud müssen die Halbleiterhersteller derzeit auf keinen Fall drohende Überkapazitäten fürchten. Denn nachdem die Automobilproduktion das letzte Jahr mit rund 75 Mio. Fahrzeugen abschloss, »wird die Produktion so lange steigen, bis die Nachfrage im Markt aufgeholt ist, und damit sind die verfügbaren Kapazitäten in den Jahren 2022 bis 2024 ausgeschöpft«, davon ist Bouchaud überzeugt.
Aber: Er schätzt, dass 2025 die Fahrzeugproduktion rund 100 Mio. Fahrzeuge erreichen und bei diesem Wert dann stagnieren wird. Außerdem, sobald die Produktionsprobleme behoben seien, würden die OEMs damit aufhören, die oberen und rentableren Fahrzeugsegmente zu priorisieren, wodurch der durchschnittliche Halbleiter-Content für alle Fahrzeuge wieder etwas langsamer ansteigen dürfte. Darüber hinaus bestehe ein weiterer Risikofaktor hinsichtlich Überkapazitäten dann, wenn sich die Nachfrage in anderen Branchen verlangsamt. Bouchaud betont aber abschließend: »Die Halbleiternachfrage im Automobilbereich wird auch in Zukunft weiter von der Elektrifizierung getrieben, aber wir werden zu einem vernünftigen Wachstumstempo zurückkehren.«