Preisniveau so hoch wie nie

Lieferketten und Produktionen neu aufstellen

3. Mai 2022, 6:30 Uhr | Tobias Schlichtmeier
Auf dem Roundtable der Markt&Technik bezogen die Expertinnen und Experten der Branche Stellung zu aktuellen Themen.
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Die Auftragsbücher sind voll, die Produktionen jedoch oft nicht ausgelastet. Grund sind ausbleibende Lieferungen – hiermit einher gehen starke Preisanstiege. Wie die Embedded-Spezialisten damit umgehen und ob sie Produktionen nach Europa verlagern, diskutierten Branchenexperten auf dem M&T-Forum.

Lieferketten sind zunehmend instabil, außerdem müssen sich Unternehmen auf immer längere Lieferzeiten einstellen. Das gilt sowohl für Halbleiter als auch für viele andere Elektronik-Bauteile. Wie Embedded-Unternehmen künftig eine zuverlässige Bauteileversorgung gewährleisten können, schildert Stefanie Kölbl, Geschäftsbereichsleiterin Embedded bei der TQ Group: »Es ist wichtig, Bauteile bereits jetzt bis Mitte 2024 anzufordern, denn die Lieferzeiten liegen derzeit bei 130 bis 150 Wochen. Bei Halbleitern gelten Lieferzeiten von mindestens 52 Wochen.« Wichtig sei, sowohl mit Herstellern als auch Kunden eng zusammenzuarbeiten. Das gelte vor allem dann, wenn man Kunden aus der Medizintechnik bediene. Wichtig seien zudem enge Kontakte zum Distributor, denn letztendlich seien nicht die Lieferanten allein verantwortlich.

Laut Peter Müller, Vice President Boards und Module bei Kontron, sei es wichtig, sowohl mit dem Kunden langfristig zu planen als auch mit den CPU-Herstellern enger zusammenzuarbeiten. Wichtig sei es zudem, Second Sources aufzubauen und diese bereits bei Projektbeginn zu qualifizieren, ergänzt Stefanie Kölbl. So erhalte man Ausweichmöglichkeiten, sollte ein bestimmtes Bauteil nicht mehr verfügbar sein. »Mit der Abhängigkeit von einer Quelle ist man ebenfalls preislich gebunden – das gilt es zu verhindern«, ergänzt Müller.

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Stefanie Kölbl, TQ-Group: »Ich denke, das Verhältnis zwischen Globalisierung und Lokalisierung verändert sich«.
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Volle Auftragsbücher, der Produktion fehlen Bauteile

»Es ist erforderlich, die Herstellkosten der Produkte so gering wie möglich zu halten«, erklärt Dirk Finstel, Associate Vice President Embedded IoT Europe bei Advantech. In der Vergangenheit haben viele Hersteller aus Kostengründen oftmals viele gleiche Bauteile eingesetzt, das wirke sich nun negativ aus. So binde das Qualifizieren von Second Sources sehr viele F&E-Ressourcen. »Wir können derzeit wesentlich weniger neue Produkte entwickeln und verlieren so viele Kunden und Projekte«, so Finstel weiter. »Wir haben alle Bedarfe bis 2024 platziert und einen Lagerwert von etwa 500 Mio. Euro aufgebaut. Selbst dann kann es passieren, dass Hersteller Bauteile einfach nicht liefern«, berichtet Finstel. So entstehe bei der Zusammenarbeit von Vertrieb und Kunde immer wieder eine hohe Frustration.

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Peter Müller, Kontron: »Wir werden in Zukunft ein höheres Preisniveau sehen«.
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»Wir alle haben volle Auftragsbücher, dennoch sind die Umsätze aufgrund der Bauteilknappheit zurückgegangen« meint Martin Steger, Geschäftsführer bei iesy. Jedoch seien die vollen Bücher mit Vorsicht zu genießen, denn viele Kunden bestellen derzeit über Bedarf, mein Steger. Er sieht aus dem Grund die Gefahr einer Blase, die innerhalb der nächsten drei Jahre platzen könne. Ähnlich schätzt das Dirk Finstel ein: »Einerseits verschieben sich viele Projekte ins nächste Jahr, andererseits stornieren viele Kunden ihre Aufträge komplett, weil der Endkunde abgesprungen ist.« Jedoch sei der prozentuale Anteil an Stornierungen aktuell gering, sagt er, schließt jedoch nicht aus, dass sich das in absehbarer Zeit ändere.

Hinzu komme, dass man seine Bestellungen beim Distributor nicht mehr stornieren könne, ergänzt Stefanie Kölbl. »Ich denke, die Blase verlagert sich noch weit nach hinten. Es gilt, unsere Kunden dazu zu verpflichten, die bestellte Ware abzunehmen.« Es sei Flexibilität auf der ganzen Linie gefordert, meint Albin Markwardt, Geschäftsführer von Compmall. »Unsere Läger sind sehr, sehr leer. Wir haben viel bestellt, jedoch bleiben die Lieferungen aus. Zum Glück haben wir ein modulares Produktportfolio, können viel mit Varianten arbeiten, was uns zugutekommt.«

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Dirk Finstel, Advantech: »Wir haben alle Bedarfe bis 2024 platziert und einen Lagerwert von etwa 500 Mio. Euro aufgebaut«.
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Preise auf hohem Niveau

Stefanie Kölbl schätzt außerdem die hohen Preisanstiege als gefährlich ein; hinzu kommen hohe Gebührenzuschläge. »Die Hersteller agieren knallhart: Entweder du bezahlst die hohen Summen oder bekommst keine Ware. Ich befürchte, dass sie das hohe Preisniveau zukünftig halten.« Peter Müller teilt die Meinung: »Wir werden in Zukunft ein höheres Preisniveau sehen«, stimmt er Stefanie Kölbl zu. Gerade bei neuen Projekten seien künftig zusammen mit dem Kunden enge Abstimmungen bezüglich Preisen und Lieferfähigkeit zu führen, meint Müller. Hingegen habe sich laut Dirk Finstel speziell der Halbleitermarkt immer sehr schnell angepasst. Er meint, die Hersteller könnten das hohe Preisniveau nicht lange halten, da der Halbleitermarkt sehr sensibel auf Abnahmemengen reagiere. »90 Prozent der Herstellkosten von Halbleitern sind fixe Kosten«. Mitte 2023 werde eine so große Produktionskapazität vorhanden sein, dass ein Preisverfall einsetze, denn der Output sei dann größer als die Auftragseingänge, so Finstel.

»Wir beschäftigen uns derzeit viel mit Redesigns, um weiter lieferfähig zu bleiben«, erklärt Christian Eder, Director Marketing bei Congatec. Es wird zudem viele Abkündigungen geben, weil Hersteller ältere Bauteile nicht mehr auflegen«, meint er. Auch von Herstellerseite gebe es Konsolidierungen, denn große Läger könne sich nicht jeder leisten. Die Gefahr sei groß, dass kleinere Unternehmen auf der Strecke blieben, meint Eder. Albin Markwardt sieht das anders: Er meint, die Bauteilkrise befeuere die Trends der Modularität und der Nachhaltigkeit. Kunden werden erfinderisch, zum Beispiel nehmen sie alte Embedded-Module und adaptieren darauf Convertible Displays. So entstehe einfach und ohne große Kosten ein neues Produkt, getreu dem Motto: »Not macht erfinderisch.«

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Martin Steger, iesy: »Die Anzahl der Innovationszyklen ist weiterhin hoch, vor allem im Bereich der Halbleiter«.
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Wie sieht es auf der anderen Seite mit den Preisen der Endprodukte aus? »Unsere Kunden prüfen genau, wie langfristig sie von uns beziehen können«, meint Peter Müller, »der Fokus verschiebt sich ausgehend vom Preis hin zur Lieferfähigkeit.« Hersteller qualifizieren künftig immer mehrere Lieferanten, der Preis bleibe jedoch immer eine Grundlage, meint Dirk Finstel. Jedoch, so hält Müller dagegen, seien Kunden eher bereit, hohe Preise zu bezahlen, wenn man lieferfähig sei. Die Frage sei, ob man höhere Preise eins zu eins an den Kunden weitergeben könne, mahnt Ina Schindler, Co-Geschäftsführerin bei Microsys Electronics, an. Bei ihr gebe es keinen Kunden, der bisher storniert habe. Jedoch gebe es immer wieder Diskussionen bei der Übernahme der hohen Zusatzgebühren, so Schindler weiter. Kunden seien oft nicht gewillt, diese zu tragen.

»Seit 4. 1. 2021 haben wir unsere gesamten Preise um vier Prozent erhöht«, erklärt Dirk Finstel. »Es dauerte jedoch bis September, bis wir das mit allen Kunden besprochen hatten. Es war ein schwieriger Prozess und wir hatten unzählige Meetings mit Vertriebsmitarbeitern.« Man möchte die Beziehungen zu Kunden halten und stabilisieren und nicht verlieren. Auf Dauer sei es aber kein schöner Zustand, immer diskutieren zu müssen. In letzter Zeit sei jedoch die Akzeptanz gestiegen, da die Kunden sehen, dass die Embedded-Spezialisten sich nicht damit bereichern. Auch Albin Markwardt merkt an, dass er weg komme von reinen Preisdiskussionen hin zu konstruktiven Diskussionen darüber, gemeinsam etwas erreichen zu wollen.

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Albin Markwardt, compmall: »Die Bauteilkrise befeuert die Trends der Modularität und der Nachhaltigkeit«.
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Abhängigkeit von Asien verringern

Um den hohen Preisen entgegenzuwirken, gibt es verschiedene Vorgehensweisen und Ideen. Eine davon ist, mehr Fertigungsdienstleistungen anzubieten sowie im Allgemeinen wieder vermehrt selbst zu produzieren. »Wir wollen unsere Electronics Manufacturing Services (EMS) bei Kontron weiter ausbauen – vor allem um preislich konkurrenzfähiger zu sein«, meint Peter Müller. Es sei zunehmend wichtig, breiter aufgestellt und weniger von Asien abhängig zu sein. »Adaptionen auf Systemebene sind für viele Kunden immer noch sehr interessant, vor allem weil hiermit ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis darstellbar ist«, ergänzt Martin Steger. »Ich sehe, dass aufgrund der Corona-Krise Europa als Produktionsstandort wieder bedeutender wird«, meint Dirk Finstel. Ein Grund seien die hohen Frachtkosten für Transporte aus Asien, sie kompensieren teilweise die geringeren Produktionskosten in China oder Taiwan, berichtet Finstel aus erster Hand. Er finde es gut, dass Unternehmen wieder vermehrt in Europa produzieren, Advantech habe selbst drei Werke in Europa. »Hiermit schaffen wir zudem lokale Arbeitsplätze. Viele Kunden geben uns lediglich dann Aufträge, wenn wir bestätigen, dass Produkte in Deutschland gefertigt würden, im Medizinbereich zum Beispiel«, erklärt Finstel. Für Europa sei es sehr wichtig, nach 30 Jahren und länger Produktionen wieder zurückzuholen.

Fraglich sei jedoch, ob die Unternehmen komplett unabhängig sein können und wollen, sowohl bei der Produktion als auch bei der Energieversorgung, meint Martin Steger. »Man kann die Globalisierung nicht um hundert Jahre zurückdrehen«, so Steger weiter. Es sei essenziell, sich auf seine Kernkompetenzen zu fokussieren und die digitale Transformation anzupacken, meint Dirk Finstel. Lediglich so habe Deutschland als Wirtschaftsstandort eine Zukunft. Zudem sei es wichtig, die digitale Infrastruktur zu stärken – die Embedded-Branche sei ein Leuchtturm in der Hinsicht.

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Christian Eder, Congatec: »Wir beschäftigen uns derzeit viel mit Redesigns, um weiter lieferfähig zu bleiben«.
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»Ich denke, das Verhältnis zwischen Globalisierung und Lokalisierung verändert sich«, meint Stefanie Kölbl. »Wir merken, dass Kunden sich freuen, wenn sie einen Ansprechpartner in der gleichen Kultur- und Zeitzone haben. Beim Produzieren von Leiterplatten haben wir zum Beispiel mit 3D-Druck gute Versuche durchgeführt.« Der Trend gehe klar in Richtung Produktion in Deutschland, so Kölbl weiter. »Wir müssen die Wertschöpfungskette nach Europa holen. Jedoch waren wir immer ein Veredler von Rohstoffen«, so Martin Steger. »Die Hersteller von Rohstoffen wie Batterien haben ihr Netz in den letzten Jahren sehr geschickt aufgebaut. Es ist die Frage, wie wir die Abhängigkeit verringern können«, so Steger weiter – »ohne den Fehler zu machen, alles selbst fertigen zu wollen.«

»Investitionen« sei das Zauberwort, meint Dirk Finstel. So komme beispielsweise die neue Batterie-Generation ohne Kobalt aus, sie werde sogar schon eingesetzt. »Wir müssen stärker ‚Europe first’ denken«, so Finstel. Microsys Electronics stehe für »Made in Germany«, meint Ina Schindler, und habe zuerst in Asien gefertigt, sich jedoch später für einen anderen Weg entschieden. Auslöser war unter anderem, dass Microsys ein sehr kleines Unternehmen sei und rein vom Personal her gar nicht anders handeln könne. Wichtig sei außerdem die Nähe zum Markt, meint Stefanie Kölbl. »TQ produziert ebenfalls in Asien, allerdings lediglich für den asiatischen Markt.«

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Ina Schindler, Microsys Electronics: »Gerade in der jungen Generation ist nachhaltiges Denken stark verankert«.
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Nachhaltige Unternehmen auf der Überholspur

Mit der Verknappung von Rohstoffen einher geht ebenfalls der zunehmende Wunsch, nachhaltig zu wirtschaften. »Mit dem Produzieren von Produkten verschwenden wir Energie und stoßen CO2 aus«, meint Dirk Finstel. »Hier müssen wir reduzieren – als börsennotiertes Unternehmen sind wir sogar dazu gezwungen.« Aus dem Grund habe Advantech ein Programm über zehn Jahre aufgesetzt, bis 2026 will das Unternehmen 50 Prozent des Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen beziehen, bis 2032 sogar zu 100 Prozent. Für Peter Müller und Kontron stellt sich die Frage, wie sich die Produkte selbst nachhaltiger gestalten lassen. Einerseits beim Einsatz von Rohstoffen, andererseits bei der Technologie, zum Beispiel Cloud oder Edge Computing. »Ich denke, wir müssen je nach Applikation unterscheiden«, meint Ina Schindler. »Für uns ist zum Beispiel die funktionale Sicherheit sehr maßgebend.« Microsys könne die Daten am Edge vorverarbeiten und mit wenig Energieaufwand weiterleiten.

Doch nicht nur Energieversorgung und Datenverarbeitung tragen zum CO2-Fußabdruck bei; Thema ist auch, Produkte möglichst langlebig und reparierbar auszulegen. Dass langlebige Produkte zum Energiesparen beitragen, bestätigt Stefanie Kölbl. »Bei klassischen Industrieprodukten in Europa ist ein Lebenszyklus von 10 bis 15 Jahren normal. Auf die Zyklen sollten alle Bauteile und das Design insgesamt abgestimmt und ausgelegt sein.« Christian Eder widerspricht: »Hier muss man unterscheiden: Einerseits muss das System lange laufen, andererseits müssen Bauteile möglichst lange verfügbar sein. Ein System, das vor zehn Jahren entwickelt wurde, ist von der Energieeffizienz her deutlich schlechter als ein aktuelles System.« Allerdings falle, je länger ein Produkt laufe, kein CO2-Ausstoß für die Produktion eines neuen Systems an, lenkt Dirk Finstel ein. Martin Steger unterstreicht das: »Ein System, das über 15 Jahre läuft, muss ich nicht neu designen. Somit spare ich sehr viel Aufwand beim Entwickeln, Warten und Instandhalten.« Trotzdem sei der Energieverbrauch hoch, wenn alte Systeme rund um die Uhr im Einsatz seien, mahnt Christian Eder an. Je nach Einsatzbereich kann es sinnvoll sein, auf neue Systeme umzusteigen.

»Die Anzahl der Innovationszyklen ist weiterhin hoch, vor allem im Bereich der Halbleiter«, sagt Martin Steger. »Bei Arm beträgt die Innovationsrate vier Produkte pro Jahr – mindestens«, gibt auch Dirk Finstel zu bedenken. Es zeige, wie sehr die Welt von Innovationen abhängig sei, so Finstel weiter. »Die Embedded-Branche muss nachhaltiger werden«, meint er. »Der Klimawandel ist nicht aufzuhalten, solange die Menschen nicht versuchen, dagegen anzukämpfen. Hier kann jeder Einzelne einen Beitrag leisten, genauso die Branchen, die selbst produzieren.«

»Gerade in der jungen Generation ist nachhaltiges Denken stark verankert«, kann Ina Schindler berichten, und Stefanie Kölbl denkt: »Gerade für Unternehmen wie die TQ Group ist das Thema nichts Neues. Wir beziehen Strom lediglich aus erneuerbaren Quellen, produzieren eigenen Strom mit Photovoltaik-Anlagen und wollen bis 2025 klimaneutral wirtschaften.« Gerade junge Entwickler suchen sich Projekte aus, die dem Ziel des Umweltschutzes dienen, weiß Ina Schindler zu berichten. Außerdem steigere man so die Attraktivität als Arbeitgeber und könne junge Software-Entwickler für sich gewinnen, so Schindler weiter.


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