Vordergründig entspannt sich die Lage in der Lieferkette. Doch der Teufel liegt im Detail: Einerseits fehlt die »goldene Schraube«, andererseits sind Lager übervoll. Wie lassen sich die Risiken in der Lieferkette besser managen? Die Teilnehmer des Roundtable »Supply-Chain« beziehen Stellung.
Wenn es um die Frage nach dem Lagerbestand geht, wird Stefanie Kölbl, Director Business Unit Embedded der TQ-Group, deutlich: »Auch wir als großer OEM und EMS haben ein Vielfaches von unserem normalen Lagerbestand aktuell auf Lager liegen. Das geht in den Bereich um die 170 Millionen Euro hinein.« Und das ist im Vergleich zum Umsatz von TQ sehr hoch. Dabei hat TQ sozusagen Glück: »Wir stehen finanziell gut da, dadurch dass wir eigenfinanziert sind und unsere Eigentümerfamilie nach wie vor dahintersteht«, führt Kölbl aus. Der Grund für den hohen Lagerbestand ist wie vielerorts das Fehlen der sprichwörtlichen »goldenen Schraube«. »Es fehlt das letzte Teil, insofern kann man dann nicht produzieren, man wird immer wieder vertröstet von Lieferanten, etwa mit den Worten, dass das Material in vier Wochen komme, und dann kommt es aber wieder nicht. Für uns wird es dabei auch zunehmend kritischer, die Produktionsplanung anzupassen.« Dabei ist der Auftragsbestand laut Kölbl nach wie vor extrem hoch. »Durch die Allokation haben wir viele Kunden konsequent 18 Monate vordisponiert. Aber wir mussten vieles auf Risiko auf Lager legen, weil wenn man einmal verschiebt, fällt man von der Liste und stellt sich hinten an.«
Dementsprechend empfiehlt Dr. Christiane Endrich, Geschäftsführerin von Endrich Bauelemente, den Kunden, Bestellungen wenn dann lieber zu verschieben als komplett zu stornieren. Für Ralf Bühler, CEO von Conrad, ist es ein zweischneidiges Schwert: »Auch wir haben Kunden, die die goldene Schraube suchen. Aber wir haben auch Kunden, die mit dem Warenabfluss zu ihren Kunden Herausforderungen haben. Denn bei Firmen, die konsumnahe produzieren, scheitert es nicht an der goldenen Schraube, sondern daran, dass es keinen Käufer für die Ware gibt.«
Oliver Opitz, Vice President der Division Wireless Connectivity & Sensors und Head of Hightech Innovation Center Munich von Würth Elektronik eiSos, sieht ein Problem der Lieferkette in mangelnder Kommunikation: »Es gibt genügend Halbleiterhersteller, da hat der Kunde gar keine Möglichkeit, mit einem Mitarbeiter zu sprechen. Und das ist auch so gewollt, denn da gibt es Aussagen wie ‚unser Wachstum darf nicht auf der Beziehung zum Kunden aufgebaut werden’.« Wir als Direktvertrieb mit 1000 Mitarbeitern im Außendienst hingegen haben die Beziehung zum Kunden und bekommen Beschwerden direkt mit.«
Dietmar Jäger, Leiter des globalen Distributionsgeschäfts von TDK, sieht die Verfügbarkeitsprobleme kleiner werden: »In vielen Bereichen sehen wir momentan eine Entspannung. Bei den Anwendungen für die Automobiltechnik und den regenerativen Energien scheint es noch etwas eng zu sein. Betroffen sind hier hochzuverlässige Keramikkondensatoren für ADAS sowie einige Typen von Folienkondensatoren für Photovoltaik-Anwendungen.«
[»Plötzlich sieht man, wer in der Supply-Chain drin ist«
Dass bestimmte Komponenten immer wieder mal knapp sind, gehört quasi dazu. Die Frage ist vielmehr, ob die Verknappung inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist und vor allem, welche Lösungsansätze gibt es, die die Lieferketten weniger anfällig machen. Und die Lösungsvorschläge sind so vielfältig wie die Herausforderungen und Risiken, die die Diskussionsteilnehmer identifiziert haben. Oliver Opitz etwa sieht eines der Probleme im Projektmanagement: »Es gibt immer so viele angeblich vertrauliche Informationen, die nicht geteilt werden dürfen. Das muss man hinterfragen, ob das denn alles so sein muss.«
Hermann Reiter, Global Strategic Business Development & Supplier Management von Digi-Key, macht auf die neu gewonnene Transparenz der Lieferkette aufmerksam, die es zu nutzen gilt: »Wenn man die Zeit der letzten beiden Jahre betrachtet, hat man erst einmal gesehen, wer überhaupt in der Supply-Chain drin ist.« Man wurde mit ganz anderen Akteuren konfrontiert, so Reiter. »Das Projektmanagement von Anfang bis Ende ist transparenter geworden, vor allem in der Automobilindustrie. Die Automobilindustrie hat die Elektronik lange Zeit als Commodity-Industrie gesehen. Das hat sich durchaus geändert. Auch das Verständnis für die Lieferkette hat zugenommen.«
Dass nicht immer alle Akteure der Lieferkette bekannt sind, ist üblich und der starken Fragmentierung der Lieferkette geschuldet. Das heißt, es wird Ware geordert, etwa vom Auftragsfertiger, der Lieferant kennt aber den finalen Auftraggeber gar nicht. Oft stehen bekannte OEM-Marken dahinter. Der Fertiger hat für seinen Auftrag meist ein NDA unterzeichnet und darf seinen Auftraggeber nicht offenlegen, wie Opitz an einem Beispiel schildert: »Da gibt es einen Entwickler in Österreich, der entwickelt eine Steuereinheit für eine Motor-Control-Unit, und einen zweiten Entwickler in der Schweiz, der macht dasselbe. Am Ende läuft beides bei zwei EMS und man fragt sich als Lieferant, ob nicht beide Auftraggeber für dasselbe Projekt arbeiten, aber man hat die Information nicht.«
Dieses lang gelebte Prinzip wird auch nicht innerhalb von ein, zwei Jahren obsolet werden. Opitz bestätigt zwar auch die zunehmende Transparenz der Lieferkette, fordert aber auch deutlich, dass diese noch weiter zunehmen müsse: »Wir wollen alle dasselbe, nämlich Umsatz generieren, das können wir aber nur, wenn wir lieferfähig sind, und das wiederum können wir nur sein, wenn wir die Transparenz haben, an wen wir wann liefern müssen. Und da müssen alle Akteure noch dazulernen, wenn es um das Projektmanagement geht.«
Aber nicht nur das Projektmanagement, auch der Einkauf muss dazulernen, wie unter anderem Marc-Gregor Reiterer, Regional Vice President Central Europe von TTI, in der Runde zu bedenken gibt: »Wir haben festgestellt, dass der Einkauf bisweilen schlichtweg nach Artikelnummern eskaliert und nicht die BOM insgesamt im Blick hat.« Und genau diese Taktik führt wiederum bei Kunden zu sehr hohen Lagerbeständen. Denn fehlt die Gesamtschau auf die BOM (Bill of Material, Stückliste), liegen einerseits viele Teile auf Lager, die nicht verbaut werden können, weil die eingangs erwähnte goldene Schraube für die Produktion fehlt. »Wenn das letzte Teil fehlt, brauche ich nicht alles andere zu eskalieren«, so Reiterer.
Stefanie Kölbl, die die Sicht als OEM und EMS in der Runde vertritt, sieht die Branche dennoch auf einem guten Weg und findet, es hat sich viel verändert und verbessert: »Unsere Endkunden waren alle bereit, mit den Lieferanten und Produzenten in die Eskalationsgespräche zu gehen.« Und viele hätten dabei ein Bewusstsein für die Probleme der anderen Player in der Kette entwickelt.