Dass Software immer stärker in den Fokus der Automobilindustrie rückt, ist offensichtlich. Mitte des Jahres war zu hören, dass Volkswagen an einem zentralen Betriebssystem für alle seine Konzernmarken arbeitet. Was steckt dahinter?
Dr. Karl-Thomas Neumann, CEO, Founder, Investor, KTN Beratungs- und Beteiligungs-GmbH, hat in seinem Statement zur ELIV 2021 betont, dass die Transformation von Hardware zu Software eine neue, erheblich offenere Form der Zusammenarbeit erfordere und dass die klassische vertikale Integration der Automobilindustrie durch Zusammenarbeit und die massive Nutzung von industriellen Standards ersetzt werden müsse.
Und weiter: »Das Auto ist nicht mehr im Zentrum unserer zukünftigen Wertschöpfung, sondern dort werden Mobilitätsdienste sein, die den Gesetzen der Plattformökonomie gehorchen. Das bedeutet, dass es keinen Sinn macht, dass einzelne OEMs Auto-Betriebssysteme entwickeln, sondern, dass wir schnellstens eine industrieweite Allianz für ein solches schaffen müssen. Mittelfristig wird es weltweit kaum mehr als drei bis vier solcher Auto-OS geben. Die besondere Herausforderung und Chance liegt dabei darin, dass es sich um eine „Multi Domain“ Architektur handelt, in der Android-Auto eben nicht die umfassende Lösung darstellt.«
Das Streben nach Standards in der Automobilindustrie ist eigentlich nicht neu, doch Thomas Rothhaupt, Director Sales & Marketing bei Inova Semiconductors, weiß aus Erfahrung, dass Standardisierungsversuche schon mehrmals auf der Hardwareseite versucht wurden, aber nicht erfolgreich waren, denn jedes Mal, wenn die Halbleiterhersteller einen Vorschlag gemacht hätten, wie man etwas realisieren könnte, hieß es seitens der OEMs, macht mal, ob wir das dann aber auch einsetzen, muss sich zeigen.
Drei bis vier Auto-OS weltweit, VW will anscheinend eines davon entwickeln. Peter Wiese, Vice President und General Manager Automotive Sales EMEA von NXP Semiconductors, erklärt, dass damit auch ein Standard geschaffen wird, eben einer, der auf die VW-Bedürfnisse zugeschnitten ist. Wobei er anmerkt, dass es den OEMs nicht darum gehe, Betriebssysteme zu entwickeln, sondern sie wollen damit die Grundlage schaffen, einerseits Dienste aus einer Zentrale bis in die Peripherie anbieten zu können und andererseits auch nicht auf die bestehende Legacy zu verzichten.
Uwe Bröckelmann, Senior Director of Technology von Analog Devices, fügt hinzu: »Es heißt ja auch, dass die entwickelte Software von den anderen OEMs genutzt werden kann. VW will seine Dominanz nutzen, um einen Standard zu etablieren, sie wollen ein OS, das auf ihre Anforderungen zugeschnitten ist und damit einen Standard zumindest für die europäischen OEMs setzen, quasi als Gegenpol zu den Googles und Apples dieser Welt.«
Und Philippe Prats, Head of Automotive Marketing & Application EMEA bei STMicroelectronics, merkt an, dass er bei dieser Aktion davon ausgeht, dass es dabei um die Entkopplung von Software und Hardware geht. Auch er verweist auf das Zusammenspiel von Alt und Neu, denn einerseits muss das Infotainmentsystem an die Cloud und die Dienstleistungen angebunden werden, andererseits muss auch die Hardware-nahe Legacy-Software der vielen ECUs in die neuen Architekturen integriert werden, und das muss reibungslos funktionieren.
Noch viel zu tun
Alle Halbleiterhersteller sind sich einig: Auch wenn von einem Software Defined Vehicle die Rede ist, die Hardware muss mit in Betracht gezogen werden. Das liegt schon alleine daran, dass ganz viele Funktionen im Fahrzeug sicherheitskritisch sind, »selbst ein Lämpchen im Armaturenbrett muss manchmal ASIL-D-Anforderungen erfüllen. Also muss man sich genau überlegen, wie diese Funktionen isoliert werden können, nicht dass das »Video-Streaming auf der Rückbank fatale Auswirkungen auf das Fahrgeschehen hat.
Außerdem muss immer bedacht werden, dass Software auch Fehler enthält. Wie viel Prozent der ständigen Software-Updates von Tesla nur der Beseitigung von Fehlern dient, weiß keiner. »Selbst Softwarevertreter sagen, dass es unmöglich ist, fehlerfreie Software zu schreiben. Also muss sich jeder überlegen, wie man mit Softwarefehlern umgeht, welche Fehler eventuell tolerierbar sind und wo man ganz sicher sein muss, dass keine Fehler auftreten«, so Wiese weiter. Prats fügt hinzu: »Deshalb ist OTA eine grundlegende Funktion, die neuen Architekturen basieren auch darauf, dass es OTA gibt.«
Auch wenn momentan die Software sehr in den Vordergrund gerückt ist, betont Prats, dass nur die Kombination aus Hard- und Software dafür garantieren kann, dass ein System funktioniert. Es ließe sich keine vernünftige Software entwickeln, wenn der Entwickler nicht selbst bei der Definition der Hardware mitgespielt hat. Ähnlich argumentiert auch Armin Derpmanns, Head of Semiconductor Marketing & Operations von Toshiba Electronics Europe, das problemlose Zusammenspiel zwischen Hard- und Software sei obligatorisch. Deshalb fordert auch er eine konstruktive Zusammenarbeit aller Beteiligten.