Meilenstein der Neurologie

100 Jahre EEG - das Gehirn lesen und verstehen

5. Juli 2024, 9:45 Uhr | mit Material von dpa (uh)
Für die EEG-Messung tragen Patienten eine EEG-Haube mit Elektroden. Am 6. Juli 2024 feiert die in Jena erstmals am Menschen erprobte Elektroenzephalografie (EEG) ihr 100-jähriges Jubiläum. Bei dem Verfahren wird die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und grafisch dargestellt.
© dpa Bildfunk

Seit 1924 verändert das EEG die Medizin. Die Elektroenzephalografie liefert den Schlüssel für viele neurologische Diagnosen und Therapien. Ob Gedanken lesen, Krankheiten wie Epilepsie und ADHS behandeln oder Gehirnimplantate wie Elon Musk bauen - die EEG-Erfindung ist ein Meilenstein der Neurologie.

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Vor einem Jahrhundert zeichnete ein Psychiater aus Jena erstmals die elektrische Aktivität des menschlichen Gehirns auf und legte damit den Grundstein für heutige Gehirnimplantate. Hans Berger gelang am 6. Juli 1924 die erste Elektroenzephalografie (EEG). Diese Methode revolutionierte nicht nur das Wissen über das Gehirn, sondern ermöglichte auch zahlreiche klinische Anwendungen, wie die Diagnose von Epilepsie und ADHS. Dank Künstlicher Intelligenz (KI) schreitet die Entwicklung derzeit rasant voran. Können wir bald Gedanken lesen?

Kabel, Elektroden, Kurven - so funktioniert das EEG

Ein EEG-Aufbau wirkt für Laien oft befremdlich: Zahlreiche kleine Metallplättchen, sogenannte Elektroden, werden am Kopf befestigt und mit einem Computer verbunden. Diese zeichnen die elektrische Aktivität des Gehirns auf. Auf dem Bildschirm erscheinen dann Kurven in bestimmten Mustern, das sogenannte Elektroenzephalogramm (EEG).

Die Muster können aktiv beeinflusst werden, etwa durch das Schließen der Augen. Fachleute können anhand der Linienverläufe auch Krankheiten wie Epilepsie erkennen. „Man braucht viel Expertise, um Böses von Sachen zu unterscheiden, die nur böse aussehen, aber nicht böse sind“, erklärt Jan Rémi, Leiter des Epilepsie-Zentrums am Klinikum der Universität München.

Um Epilepsie zu diagnostizieren, kann das EEG nach einem Anfall angelegt werden. Zeigen die Kurven ein bestimmtes Muster, hat der Patient Epilepsie. Schlägt die medikamentöse Behandlung nicht an, kann man mit einem EEG auch die Gehirnregionen bestimmen, von denen die Epilepsie ausgeht, und diese im Zweifel entfernen.

Kann das EEG Gedanken lesen?

Für eine endgültige Diagnose wird das menschliche Auge immer wichtig bleiben, ist Rémi überzeugt. Aber mithilfe Künstlicher Intelligenz könnten künftig charakteristische Linien vorgefiltert werden, die dann noch überprüft werden müssten. EEG-Signale bieten mit ihren Hunderten und Tausenden von Wellen zahlreiche Analysemöglichkeiten, die künftig mithilfe von KI besser ausgewertet werden könnten. „Vom Gedankenlesen sind wir noch weit entfernt. Aber ich glaube schon, dass man in den nächsten Jahren erkennen kann, ob jemand lügt oder nicht.“

Für den EEG-Forscher Gyula Kovács von der Universität Jena ist der Einzug der KI „die wichtigste Entwicklung der letzten paar Jahre für die Analyse von EEG-Daten“. Dadurch ließen sich bestimmte Teile des Bewusstseins sichtbar machen. „Das war früher absolut nicht möglich.“ Zum Beispiel könne man nachverfolgen, ob jemand eine Serie gesehen habe oder nicht, oder ob jemand eine Person wiedererkenne. Da müsse man auch die ethische Frage stellen, wie weit man die Technik überhaupt anwenden wolle.

Forschende wollen Gedankenkraft nutzen

Auch die Technologie der Gehirnimplantate-Firma Neuralink des US-Milliardärs Elon Musk basiert auf der Logik der Elektroenzephalografie: Hier sollen 1024 Elektroden die Signale des Gehirns so auffangen, dass Menschen nur durch ihre Vorstellungskraft etwa einen Computer-Cursor bedienen können. Im Januar bekam der erste Patient ein solches Hirnimplantat. Neuralink räumte zuletzt Probleme ein – so hätten sich einige Elektroden wieder gelöst.

In der Vergangenheit gab es auch schon US-Studien, in denen Menschen etwa eine Handprothese mit Kraft ihrer Gedanken bewegen konnten, wie der Neurowissenschaftler Stefan Schweinberger von der Universität Jena sagt. Diese Einzelstudien seien aber sehr aufwendig und invasiv. „Das ist sicher kein Verfahren, das in der Breite jetzt oder in absehbarer Zukunft verfügbar sein wird.“

Der EEG-Erfinder war ein Zweifler und strittige Figur

Als der Psychiater Hans Berger am 6. Juli 1924 – einem Sonntag – in seinem Labor in Jena zum ersten Mal die elektrische Aktivität eines menschlichen Gehirns aufzeichnete, war all das noch Zukunftsmusik. Schon knapp 50 Jahre zuvor waren solche Aufzeichnungen bei Tieren gelungen. Der als pedantisch und kritikscheu geltende Berger haderte dennoch lange mit seinen ersten Befunden und ging erst 1929 damit an die Öffentlichkeit. Ein Jahr zuvor hatte er noch resigniert in seinem Tagebuch notiert: „Ich habe mehrere Jahre an dem vermeintlichen EEG gearbeitet. Was nun? EEG aufgeben!“

Mitte der 1930er-Jahre fanden seine Erkenntnisse aber Anerkennung und namhafte Befürworter wie den britischen Neurophysiologen und Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian. Berger widmete sich den verschiedenen Anwendungsfällen seiner Entdeckung, wie etwa EEG-Veränderungen im Schlaf, bei Hirntumoren oder auch bei Epilepsie.

In der Zeit des Nationalsozialismus war Berger SS-Fördermitglied und wirkte an Zwangssterilisationen mit. Die nach ihm benannte Klinik für Neurologie in Jena legte 2022 den Namen Hans-Berger-Klinik ab.

EEG bei Epilepsie, ADHS und anderen Diagnosen

Was bleibt, ist ein Goldstandard in einigen klinischen Bereichen: Neben der Diagnose wird das EEG beispielsweise auch verwendet, um die Tiefe einer Narkose zu erkennen, erklärt Mediziner Rémi. „Das hilft uns, Narkosemittel zu sparen.“ Auch die Schwere von Hirnschäden lasse sich beurteilen, bis hin zur Feststellung des Hirntods. Im Schlaflabor wird das EEG verwendet, um Schlafphasen voneinander zu unterscheiden.

Bergers Erfindung bietet darüber hinaus ein weites Forschungsfeld, das auch an seiner alten Wirkungsstätte in Jena vorangetrieben wird. Dort möchten Forscher mittels EEG herausfinden, ob Autisten über sogenanntes Neurofeedback bestimmte Gehirnaktivitäten unterdrücken können.

Die Patienten können dabei ihre Hirnaktivität quasi auf einem Bildschirm sehen und trainieren, sie willentlich zu verändern. Konkret geht es um eine spezifische Hirnaktivität, die üblicherweise in bestimmten Situationen heruntergeregelt ist, bei Autisten aber nicht. Bei den Patienten werden Elektroden auf der Kopfhaut platziert und sie bekommen einen Film zu sehen, der nur dann störungsfrei weiterläuft, wenn diese Hirnaktivität unter einer bestimmten Schwelle bleibt.

Bei der Behandlung von ADHS-Patienten wird die Technik schon länger verwendet, auch bei Schlaganfall-, Tinnitus- und Long-Covid-Patienten gibt es erste Versuche. (uh)

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