Medizinische Maßnahmen schlagen bei jedem Patienten anders an. Dass individuelle Merkmale und Faktoren den Heilungsverlauf beeinflussen, soll mit 24/7-Überwachung künftig eine größere Rolle in der ganzheitlichen Behandlung von Patienten spielen.
Sie lesen das Editorial der Ausgabe 5 der Elektronik medical 2023.
Liebe Leserinnen und Leser,
Das Zauberwort P4-Medizin steht für prädikativ, personalisiert, partizipativ und präzise – und soll als neue Definition von Heilung die Gesundheitsversorgung entscheidend verändern. Mit Vorbeugung und Früherkennung sollen Krankheiten schon vor ihrer Entstehung behandelt werden. Die passenden Therapien werden anhand der individuellen Gene gewählt, der Patient wird in seine Behandlung einbezogen und molekulare Diagnostik sowie neueste Technologien sollen auf diesem Weg für Präzision sorgen. Der holistische P4-Ansatz soll über 24/7-Vitaldaten, regelmäßige Biomarker-Abfragen, DNA und übergreifende Datenanalysen alle Maßnahmen bündeln.
Soweit die Theorie – trotz aller existierenden Digital-Health-Ansätze über Sensoren, Wearables und innovative Medizingeräte; trotz der genialen Start-up-Technologien und Konnektivitätsideen für das siloübergreifende Teilen von Gesundheitsdaten steckt die P4-Medizin noch in den Kinderschuhen. Und daran hat nicht nur der Datenschutz Schuld.
Ärzte belächeln Smartwatch-Daten oft noch
»Wenn Sie heute mit ihrer Smart Watch zum Arzt gehen, ist es nicht gesichert, ob der diese Informationsquelle ernst nimmt«, sagt Dr. Markus Arzberger von ams Osram in unserem Interview und fordert mehr Offenheit für den wertvollen Datenstrom. Ein absolutes Hype-Thema diesbezüglich ist die nicht-invasive Blutzuckermessung. Eine ausreichend genaue, berührungsfreie Glukose-Messung am Handgelenk könnte spezielle Medizingeräte überflüssig machen – und damit eine richtige Revolution für den Gesundheitsmarkt bedeuten. »Echtes Potenzial liegt meiner Meinung nach dort, wo der Consumer-Bereich und die Medizintechnik zusammentreffen«, sagt der Sensorikexperte und denkt dabei an den wachsenden Markt für MedTech-Komponenten.
Gesellschaftspolitisch hat der Trend mehrere Aspekte: Je stärker die P4-Medizin ein Teil der medizinischen Vor- und Versorgung ist, desto stärker werden das sich Kümmern um die eigenen medizinischen Bedürfnisse Teil des menschlichen Alltags – wie heute Einkaufen oder Mobilität. Entsprechend seiner Gene, seiner einzigartigen Merkmale und der persönlichen Situation wäre jeder Mensch für sein Gesundbleiben mitverantwortlich.
Gesundheitsdaten vom »Gläsernen Patienten«
Das ist per se gut, könnte allerdings auch neue Abrechnungsmodelle bei Krankenversicherungen und Konsequenzen bei stetigem »ungesundem« Handeln in die Diskussion bringen. Durchaus nicht unberechtigt, halte ich persönlich die vollständige Kapitalisierung der Gesundheit dennoch für eine schlechte Idee.
Unveränderliche Faktoren wie seltene oder angeborene Krankheiten dürfen nicht auf den Schultern des Einzelnen liegen – genauso wie kleine, auch mal ungesunde, Genüsse Teil der menschlichen Freiheit bleiben müssen. Seien wir ehrlich: Die besten Erinnerungen waren im Rückblick oft nicht besonders gesundheitsfördernd, machten aber sehr glücklich. Und Glück ist bekanntlich ein großer Gesundheitsfaktor.
Ihre
Ute Häußler