Merck

Vom Pharma- zum Technologiekonzern

2. November 2020, 12:00 Uhr | Markus Haller
Am Hauptsitz in Darmstadt befindet sich der größte F&E- und der größte Produktionsstandort des Konzerns. Von den weltweit rund 57.000 Mitarbeitern sind 11.000 von Darmstadt aus tätig.
© Merck

Merck ist als großer Pharmakonzern bekannt. Mit dem Geschäftsbereich Performance Materials existiert aber auch ein Standbein in der Elektronik- und Halbleiterindustrie, das immer weiter wächst.

Man kann Merck mit Fug und Recht zur Chemie- und Pharmaindustrie zählen. Ein Blick in den aktuellen Geschäftsbericht 2019 zeigt: Von den knapp 16,2 Mrd. Euro Jahresumsatz entfallen jeweils 42 Prozent auf die Bereiche Life Science und Healthcare – die klassischen Pharma- und Chemiesektoren des Unternehmens. Vom Umsatz betrachtet ist Merck also 84 Prozent Pharma und Chemie. Interessant sind aber die verbleibenden 16 Prozent. Mit ihnen bewegt sich das Darmstädter Urgestein – gegründet 1668, als Friedrich Jakob Merck dort eine Apotheke eröffnete, die bis heute im Familienbesitz ist – in Richtung Elektronikbranche. Der Umsatzanteil stammt aus dem Geschäftsbereich Performance Materials, mit dem sich Merck bereits als Weltmarktführer für Flüssigkristalle und damit als Schlüsselunternehmen für die Display-Industrie positioniert hat.

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Kai Beckmann ist seit September 2017 CEO Performance Materials bei Merck und gehört seit 2011 zur Geschäftsführung von Merck.
Kai Beckmann ist seit September 2017 CEO Performance Materials bei Merck und gehört seit 2011 zur Geschäftsführung von Merck.
© Merck

Die Arbeiten innerhalb von Performance Materials sind zu 90 Prozent auf die Elektronikbranche ausgerichtet und davon zu 60 Prozent auf die Halbleitertechnik. Ausgegebenes Ziel ist die Positionierung als führender Anbieter für Elektronikmaterialien. Die Halbleiterbranche ist für Merck eine logische Anlaufstelle: »Aktuell werden rund die Hälfte aller Elemente des Periodensystems benötigt, um einen Halbleiterchip herzustellen«, sagt Kai Beckmann, CEO des Geschäftsbereichs Performance Materials. Bis in die 1990er Jahre waren es noch etwa 10 Elemente und für Beckmann gibt es keinen Grund davon auszugehen, dass sich dieser Trend bald ändern wird. Die Halbleiterhersteller brauchen Materialzulieferer, die eng mit ihnen kooperieren und auch nicht davor zurückschrecken, sich mit den Halbleiter-Fertigungsprozessen auseinanderzusetzen, um die Materialanforderungen ihrer Kunden besser zu verstehen. Diesen Bedarf soll der Geschäftsbereich Performance Materials abdecken.

Firmenübernahmen für schnelleres Testen

Als großen Schritt auf diesem Weg bezeichnet Beckmann die Übernahmen der in Kalifornien ansässigen Unternehmen Intermolecular (für 62 Mio. Euro) und das mit rund 2.300 Mitarbeitern deutlich größere Versum Materials. Letzteres lag mit 5,8 Mrd. Euro Kaufpreis noch deutlich vor dem Traditionskonzern Osram, der für 4,6 Mrd. Euro vom österreichischen Sensorspezialisten Ams übernommen wurde.

Durch die Übernahme des US-Materialforschungsunternehmens Intermolecular hat Merck nun auch Zugriff auf eine Halbleiter-Prototypenfertigung (im Bild) und Halbleiter-Testsysteme.
Durch die Übernahme des US-Materialforschungsunternehmens Intermolecular hat Merck nun auch Zugriff auf eine Halbleiter-Prototypenfertigung (im Bild) und Halbleiter-Testsysteme.
© Merck

Mit den Übernahmen hat Merck sich als Materiallieferant für die Halbleiterhersteller positioniert. Versum stellt Prozesschemikalien und Gase für die Halbleiterindustrie her und mit Intermolecular wurden neben dem Fachwissen aus der reinen Materialforschung auch Halbleiterfertigungs- und -Testkapazitäten zugekauft. Damit können die Darmstädter nun ihre neu erforschten Materialien selbst zu einem fertigen Halbleiter verarbeiten und testen. Vorher hat man anhand von Kunden-Rückmeldung gearbeitet, was mit entsprechenden Wartezeiten verbunden war. Von der Verlagerung dieses Schritts ins eigene Haus verspricht sich Merck einen Geschwindigkeitsvorteil bei der Halbleiter-Materialforschung und eine höhere Testabdeckung bis hinauf auf die Geräte-Ebene.

Materialforschung für Halbleiterhersteller

In der Halbleitertechnik sieht der Darmstädter Konzern einen der großen Zukunftsmärkte für die Materialforschung. Entsprechend ist man in der Wafer-Herstellung bereits umfassend vertreten. Materialien werden für die Prozessschritte Abscheiden, Ätzen, Aufreinigen, Dotieren, Strukturierung und Packaging an Halbleiter-Hersteller geliefert. Als Forschungsziel werden Materialien für energieeffizientere Prozessoren verfolgt. Den Bedarf dafür veranschaulicht Ralf Dammel, der als Technikexperte für Merck vom Silicon Valley aus arbeitet: »Rund ein Viertel der weltweit benötigten elektrischen Leistung wird für den Betrieb von Rechenzentren eingesetzt, daher muss die nächste Prozessoren-Generation in dieser Beziehung deutlich effizienter sein.« Der Trend zur Digitalisierung erhöht den Bedarf zum Erzeugen, Versenden und Speichern von Daten noch weiter. Für Dammel ein Grund, warum Betreiber von Rechenzentren noch stärker auf den Einsatz von energieeffizienten Prozessoren pochen werden.

Er geht davon aus, dass die Halbleiterhersteller mit Hilfe neuer Materialien und 3D-Transistorkonzepten noch bis 2030 in der Lage sein werden, die Transistoranzahl mit dem aktuellen Tempo zu erhöhen. Die Grenze sei mit dem konventionellen Prozessor-Aufbau aber irgendwann erreicht. Ob und wann Moores Law zu Ende gehe, könne er zwar nicht sagen, aber für die Fortführung würden bald neue Ansätze benötigt. An alternativen Prozessor-Architekturen wird bereits gearbeitet. Ein Ansatzpunkt sind neuromorphe Aufbauten, die sich an der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns orientieren. Anders als bei der klassischen Von-Neumann-Architektur, nach der heute so gut wie jeder Prozessor arbeitet, gibt es bei neuromorphen Prozessoren keine Trennung zwischen Rechenkern und Speicher mehr. Sie kommen also ohne das Verschieben von Daten zwischen Rechenkern und Speicher aus, das in den aktuellen Prozessoren so viel elektrische Energie erfordert, wie für die Rechenschritte selbst.

Fortschrittsbremsen Verlustleistung und Abwärme

Die Transistoranzahl pro Chip steigt nach wie vor exponentiell an (hier logarithmische Darstellung), aber Prozessor-Taktrate und die maximal abführbare Wärmemenge (TDR) eines Chips stagnieren.
Die Transistoranzahl pro Chip steigt nach wie vor exponentiell an (hier logarithmische Darstellung), aber Prozessor-Taktrate und die maximal abführbare Wärmemenge (TDR) eines Chips stagnieren.
© www.alleywatch.com

Das ist deutlich zu viel. Denn das Hauptproblem für Prozessorhersteller ist laut Dammel die hohe Verlustleistung in den Chips. Um die anfallende Wärme im kontrollierbaren Rahmen zu halten, können Prozessorhersteller die Basis-Taktfrequenz nicht weiter erhöhen. Sie stagniert seit der Mitte der 2000er Jahre im Bereich von etwa 2 GHz. Das hängt laut Dammel damit zusammen, dass man die Kühlmechanismen seit dieser Zeit nicht wesentlich weiter entwickeln konnte. Der Effekt wird in der nebenstehenden Grafik daran sichtbar, dass die maximal abführbare Wärmeleistung, TDR (Thermal Design Power) etwa seit der gleichen Zeit wie die Basis-Taktfrequenz stagniert. Neuromorphe Architekturen könnten dafür einen Ausweg bieten. Da ihre Kommerzialisierung aber noch nicht absehbar ist, müssen Zwischenlösungen gefunden werden. Materialien oder Gehäusetechniken, die den Prozessorentwicklern eine höhere TDR an die Hand geben, wären eine Option.

Hinter oder vor den Firmen?

Und Merck will an dieser Entwicklung als Zulieferer beteiligt sein. Man bezeichnet sich gerne als Firma hinter den Firmen, präsentiert sich auch als solche und tritt damit doch aus dem Schatten hervor, der eigentlich Teil der eigenen Firmenidentität sein soll. Aus Sicht des Forschungsstandorts Deutschland kann man den Konzernkurs als willkommenen weiteren Vorstoß auf die Halbleitertechnik sehen. Und mit einer Firmenübernahme in Milliardenhöhe – ein Vorgang, den man aus der Halbleiterbranche dieser Tage ja schon fast gewohnt ist – hat Merck gezeigt, dass man auch diese Sprache beherrscht.


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